Volltext: Zeit-Echo (3(1917), August-September)

der Leistung sieht, erfährt, daß Ragaz früher Pfarrer war und heute Professor 
der Theologie an der Universität Zürich ist. Die Zeitschrift begann vor zwölf 
Jahren als Organ der „Religiös-Sozialen“ (greuliches Wort), und sie scheint 
zuerst ein Tummelplatz jener hochmütigen Pfarrers- und Theologenbande 
gewesen zu sein, die jede populäre Maske anlegen, um das Volk wieder für 
patentierte Kirchenkonfessionen zu gewinnen, und die sofort ihr wahres 
Beamtengesicht zeigen, wenn es gilt, ernstlich die eigene, irgendwie gesagte 
Überzeugung zu verwirklichen. (Übrig blieb aus dieser Zeit nur eine allzugroße 
Güte im Veröffentlichen aufgeblasen dilettantischer Gedichte, deren Verse sich 
nicht mit ihrer Rede identifizieren, also nicht körperlich werden, sondern nur 
salbungsvolle Worte sagen.) Aber je deutlicher die moralische Krise der Welt 
wurde, um so mehr schieden die falschen Freunde, die Halben, die Müden aus* 
Mit dem Weltkrieg wird gerechnet. Zu Neujahr 1913 schreibt Ragaz: „Wir 
stehen an einem Endel Das war einer der Eindrücke, den wir von dem 
Friedenskongreß in Basel empfingen. Hier kam also dieser Eindruck vom 
politischen und sozialen Leben her. Zu Ende geht jene Politik, die, umgeben 
vom Glanz nationaler, ja sogar religiöser Ideale, tief in tierisches Wesen 
hineinführte, die einen Haufen von Berufspolitikern Völkerschicksale machen 
ließ — menschlich angesehen! — ohne daß davon die Völker etwas Rechtes 
erfuhren oder dazu etwas Ernsthaftes zu sagen hatten. Diese Politik ist sicht 
lich in Verwirrung geraten. Nicht nur ist sie durch den Gang der Weltereig 
nisse beschämt worden, noch mehr Eindruck muß es auf sie machen, daß 
die Völker anfangen, sich gegen sie aufzulehnen. Der Protest des inter 
nationalen Sozialismus war nur der Ausdruck einer in der heutigen Welt 
weit verbreiteten Empfindung.“ (Seither weiß Ragaz, daß Leute, die einer 
weitverbreiteten Empfindung Ausdruck geben, sich im Ernstfälle um ihren Protest 
nicht mehr kümmern, sondern sofort zum Ausdruck einer andern weit verbrei 
teten Empfindung greifen — je nach der Verbreitung der aktuellen Empfindung.) 
„Das Proletariat, indem es durch seine Bildungsarbeit die bürgerliche Welt 
vollends besiegen will, kommt zuletzt bei dieser an, ja, es kommt sogar erst 
dann dort an, wenn jene schon wieder weiter ist. — Ich betone stark, daß 
es, heißt: Gesinnung, nicht Wissenschaft. Das war der Grundfehler der bis 
herigen Arbeit, daß sie, im Schlepptau des allgemein-bürgerlichen Ideals, die 
Arbeiterbildung vor allem in einer Mitteilung von Wissen suchte. Dieser 
Fehler aber hing mit dem andern zusammen, daß der Sozialismus überhaupt 
viel zu sehr als eine Wissenschaft verstanden wurde. Gewiß ist er mit einem 
Wissen verbunden. Das Wissen soll ihm dienen, ihm den Weg bahnen zu 
helfen, ihm Werkzeug und Waffe sein, aber in erster Linie und letzten Endes 
ist der Sozialismus, wie schon gesagt worden ist, ein Ziel des Willens, ein 
sittliches Ideal und ein sittlicher Glaube: er ist der Glaube an Recht und 
Notwendigkeit einer wahrhaft menschlichen und sittlichen Ordnung, die an 
Stelle der Knechtung und Ausbeutung des Menschen die gegenseitige Hilfe im 
Kampf um ein volles, echtes, freies Menschentum setzt, es ist der Wille, 
dieses Ziel zu verwirklichen und es ist die Gesinnung, die diesem Ziel ent 
spricht und alles Tun eines rechten Sozialisten regelt. — Wir kehren also
	        
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