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EDUARD BERNSTEIN <M. D. R.>:
DER NATIONALE GEDANKE BEIM
PHILOSOPHEN FICHTE UND BEI FERDI
NAND LASSALLE.
Aus einem Vortrag »Lassalle und die nationalen Fragen seiner Zeit«,
gehalten in der Arbeiterbildungsschule zu Berlin am 31. August 1916.
Im Jahre 1886, also ein Jahr nach Erscheinen seiner Schrift über den
italienischen Krieg, veröffentlichte Lassalle eine Abhandlung, der er
den Titel gab »Fichtes politisches Vermächtnis«. Es ist das eine Ar
beit, in der er in Fichtes Hinterlassenschaft niedergelegte Entwürfe
zu einer Arbeit über die Zukunft der Deutschen bekannt gibt, die der
Philosoph Fichte amVorabcnd seinesTodeszu schreiben unternommen.
Die Entwürfe finden sich in der Gesamtausgabe von Fichtes Werken,
die Fichtes Sohn herausgegeben hat. Keiner hatte die Entwürfe ge
lesen, alle möglichen aber über Fichtes Politik geschrieben. Lassalle
nun zog sie in jener Abhandlung ans Licht und bemerkt in einem Brief
an Marx darüber, die Arbeit müsse »wie ein Trompetenstoß« wirken,
der zeige, daß in Deutschland »eine republikanische Partei noch lebt«.
Er war, wie man weiß, ein sehr großer Verehrer des Philosophen
Fichte. Aber dies nicht so sehr wegen dessen Erkenntnistheorie, als
wegen seiner angewandten oder praktischen Philosophie und ins
besondere seiner Pofitifi. Fichte ist neuerdings wieder sehr gefeiert
worden, man hat aber ihn ebenso wie Lassalle grundfalsch als einen
besonders nationalistisch gesinnten Denker hingestellt. In Wirklichkeit
war grade Fichte durch und durch kosmopofitiscß gesinnt, er erkennt
das nationale Wesen nur afs Teif des großen kosmopolitischen
Wesens an. Hatte er doch im Jahre 1793, als ganz Deutsddand über
die Französische Revolution, die es erst begrüßt hatte, nach der Hin
richtung Ludwigs XVI. entsetzt war, eine Verteidigung dieser Revo
lution geschrieben. Aber, wird man sagen, hat Fichte denn nicht 1807
und 1808 in den Reden an die deutsche Nation zum Kampfe gegen