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Aber auch mit uralten indischen Gedichten berührt sich Whitman
aufs engste, die ja durchaus nicht alle mit dem Gefühl, daß das Ich
eine Weltidentität sei, den Pessimismus oder die Weltflucht verbanden/
wie man denn in Amerika gleich sagte, diese Gedichte Whitmans
seien wie ein Konglomerat aus der »Bhagavad®Gita« und dem »New
York Herald«. Das war sehr witzig, aber sehr falsch, denn die »Bhaga®
vad®Gita« enthält das, was man da den »NewYork Herald« nennt,
nämlich die kataloghafte Aufzählung der konkreten Tatsächlichkeiten
der ganzen Welt, schon völlig selbst in sich, und die Dinge, die das
indische Gedicht aufzählt, um ein Bild von der unendlichen Mannig®
faltigkeit zu geben, -waren einmal ebenso modern, wie die Welt der
Technik, der Natur und Kultur, die Whitman in seine Gedichte auf®
nimmt.
Nichts drängt sich beim Lesen dieser Gedichte so auf, wie das
Gefühl der Unmittelbarkeit, der gänzlichen Abwesenheit der litera®
rischen Reminiszenz oder irgendwelchen Alexandrinismus. Obwohl
Whitman viel gelesen hat, war er doch gar kein Leser und Zusammen®
leser, nahm nur das in sich auf, was schon vorher in ihm war. Darum
ist es so überaus wahr, was er in seinen »Grashalmen« dem Leser
als Abschiedswort sagt:
Camerado, dies ist kein Budo;
Wer dies Berührt Berührt einen Menschen . . .
Wie jeder echte Künstler hat auch Whitman die volle Bewußtheit
seines Schaffens, und das Beste, was ästhetisch®kritisch über ihn zu
sagen ist, sagt er uns selbst. Das Bezeichnende an seiner Poesie ist
ihre »Suggestiveness«,- ihre Suggestivkraft, in der er, wie ein Dirigent
eines Orchesters nicht fürs Ohr, sondern fürs Auge, immer neues
Gestaltengewoge vor uns hinschweben läßt, uns die »Atmosphäre des
Themas oder Gedankens« gibt, in der dann unser eigenes Erleben
weiter dahinfliegt. Es ist ein Dichter von ganz ungemeiner Sinnlich®
keit und Gegenständlichkeit,- er scheint nur mit den Sinnen gedacht
zu haben/ auch seine ganz im inneren Erlebnis versunkenen Abstrak®
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