Volltext: Veröffentlichung der November Gruppe (1(1921))

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Während nämlich die Erfinder des Impressionismus 
den Begriff Raum noch von Haus aus mitbekommen hatten 
und durch eine Art wissenschaftlicher Beobachtung der 
atmosphärischen Einflüsse auf die Färbung der Gegen 
stände diesen Raum zu gestalten versuchten, war er durch 
ihre Jünger, die eigentlichen Begründer des impressio 
nistischen Gross-Betriebes, vollständig zu Gunsten der 
.Farbe als Selbstzweck“ verloren gegangen. An Stelle des 
Willens zum Gestalten trat der Geschmack. Die zum 
Reüssieren durch Bildermalen erforderlichen geistigen 
Qualitäten entsprachen jetz etwa denen, die einen 
Handlungsgehilfen befähigen, eine Krawatte zu einem 
Anzug zu stimmen. Wie in den der Mode unterworfenen 
Branchen der Industrie wurde auch in der Kunst, 
der Geschmack jedes Jahr etwas geändert und ein neuer 
Begriff von „Qualität“ erfunden. Dieser „Qualitäts“- 
begriff bezog sich wechselnd auf Form und Inhalt. 
Auch das Schaffen der „gegenständlichen“ Ex. 
pressionisten war bald eine Geschmacksfrage kunst 
interessierter Leute geworden, nur dass diese das so 
überaus langweilige Repertoire der darzustellenden 
Bilderinhalte der Expressionisten erweiterten, indem sie 
sich — als gebildete Leute vom Fach — an Hand ihrer 
kunsthistorischen Kenntnisse rückwärts orientieren und — 
sehr zeitgemäss! — in gothischen Heiligen, Negerkunst 
und Mystik machten. 
Der Verzicht auf diese — doch immerhin schon da 
gewesenen und somit etwas uninteressanten —gegenständ 
lichen Inhalte war eine Tat der abstrakten Malerei. Aber 
auch das Verständnis dieser Sprache verlangt Wissen 
um die „Kunst“, trotz der Anleitung ihrer Verkünder zu 
naiver, willenloser Betrachtungsweise. 
Den Expressionisten wurden schon die Folgen des 
hochmütigen l’art pour l’art klar: man jammerte über 
verlorene „Kultur“, gab dem Volke die Schuld, das 
„Puppchen“ sang (statt sich selbst), man versuchte, das 
Volk zur Kunst zu erziehen (wie jeder bewusste Reform 
versuch zwecklos!), man versuchte eine neue Kultur 
nach den durch das Studium verflossener Kulturperioden 
erkannten Gesetzen zu machen. Ich glaube, dass die uns 
erkennbaren Gesetze des Organismus früherer Kulturen 
durchaus nicht die Grundlagen einer gegenwärtigen oder 
zukünftigen Kultur sein können. Jede Kulturperiode 
entsteht nach eigenen Gesetzen und Bedingungen, die 
aus der Distanz von Jahrhunderten denen anderer ähnlich 
sehen mögen. Wer weiss, wieviel Resultate unserer 
Zivilisation schon Elemente einer neuen Kulturperiode sind, 
wieviel sogenannter „Kitsch“ und „Geschmacklosigkeiten“ 
(die immer sehr subjektive Begriffe sind) zu einer neuen 
Kultur schon gehören? Vielleicht werden diese Dinge 
später ganz anders bewertet als von uns, die wir meist 
rückwärtsschauen und wehmutsvoll Vergleiche anstellen. 
Tatsachen lassen sich nicht wegleugnen und totschweigen, 
sie sind da, auch der „Kitsch“. 
Ich halte es jetzt für die Aufgabe der gegenwärtigen 
Künstler, das l’art pour l’art fallen zu lassen, sich aus 
den heiligen Fachkreisen herauszubegeben und das Volk, 
die Gegenwart, die Tatsachen des Lebens und der Gescheh- 
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nisse zu suchen. Mit den aus dem Expressionismus 
erworbenen Mitteln müssen neue, interessante (!) Bilder 
geschaffen werden, in deren durch den Expressionismus 
gewonnenen Raume mit der Sachlichkeit der Gegenwart 
erfüllte Gegenständlichkeiten hineingebaut werden, voll 
ständig unbekümmert um alle sonstigen „Errungen 
schaften“ und Qualitätsbegriffe des Im- und Expressionismus. 
Man soll lieber „tendenziöse“ Bilder malen, als l’art 
pour l’art! Bei dem Streben nach einer dem breiten 
Publikum „verständlichen“ Form halte ich es für wichtig, 
die Ausdrucksmittel jener Art bildlicher Darstellung nach 
zuprüfen, die noch Resonanz im Volke fand, des so 
genannten „Kitsches“ im Sinne der Ansichtspostkarten 
und der photographisch genauen Malerei. 
Ferner müssen technische Errungenschaften durchaus 
benutzt werden, wie vor allem die Photographie zur 
Ersparnis der Zeit und Mühe, die man früher auf das 
,,Studium“ der Details verwendete. 
Ich glaube, dass die eingeklebten Photo-Ausschnitte 
auf dadaistischen Bildern nicht nur den beabsichtigten 
Zweck des Bluffs hatten, sondern unbewusst ein Halt im 
Bilde, ein ergänzendes Hilfsmittel bei der ungewohnten 
sachlichen, gegenständlichen Darstellung waren. 
Die alten Meister benutzten auch Hilfsmittel, 
wie z. B. den Schönheitskanon, die Proportionslehre, die 
perspektivische Konstruktion, die Vergrösserung durch 
Quadratur. 
Fast jeder von Haus aus nicht gut finanzierte junge 
Künstler muss heutzutage des Geldverdienens wegen 
allgemeinverständlichen „Kitsch“ unter der Hand fabri 
zieren, für sein (u. evtl, „kunstinteressierter“ Kreise) 
Privatbedürfnis macht er „Kunst“. In jener anspruchs 
losen „Kitsch“form ist aber vielleicht ebensoviel von ihm 
selbst enthalten wie in der ernst gemeinten „Kunst“form, 
die eventuell mehr der Ausdruck seiner jeweiligen kunst 
geschichtlichen Erkenntnisse ist. Derselbe Kontrast ist 
auch im Künstler. Dieser ist vor der Staffelei ein anderer 
wie auf der Strasse und im Cafd. 
Diese Staffelei-Extase scheint mir der Sonntagsreiterei 
im praktischen Leben zu entsprechen. 
Der Künstler muss sich selbstverständlich werden, 
nicht sich behorchen, betrachten und heimlich bewundern, 
wenn er „Kunst“ macht. Der Künstler muss unmittelbar 
schaffen, nicht durch das Mittel der Kunstgeschichte. 
Letzten Endes wird bei allem Schaffen der springende 
Punkt sein, dass der Maler „inwendig voller Figur ist.“ 
Man hat das in komplizierteren Zeiten „Vision“ oder 
„inneres Gesicht“ genannt. Harmlosere Leute nannten 
es auch mal „Phantasie“. 
Die wahre „Phantasie“ ist der geläuterte Spiegel der 
Gegenwart. 
Nun wird irgend ein alter Mann vom Schlage Piloty- 
Kaulbach sagen, dass bei diesem Endresultat der ganze 
Expressionismus überflüssig war und auf die verkannte 
Grösse seiner eignen Werke weisen. Der gute Mann 
vergisst, dass jene Zeiten sich auch schon rückwärts bis
	        
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