Volltext: Veröffentlichung der November Gruppe (1(1921))

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Die Kunsf und die Zeit 
A lles Geschehen in der Welf, die wir die unsere zu nennen gewöhnt sind, bildet 
den Mensdien um und alle Veränderungen im Gebiete der Ökonomie, der 
Technik, des Geistes und der Kunst sind nur Zeichen, Merkmale für den Menschen, 
um aus ihnen über seine veränderte Anschauung vom Ich und seiner Einordnung in 
die Gemeinschaft, die Umgebung, sich Bewusstheit zu verschaffen. In dem ungeheuren 
Geschehen unserer Zeit, in dem alle alten feststehenden Werfe relativ, unsicher wurden, 
musste vor allem auch die Kunsf als lebendiger Anschauungsunterricht, den der Mensch 
sich gibt, um die Welf in sich und sich in der Welf zu erkennen, eine veränderte 
Stellung einnehmen. Wie wir allen gedanklichen, wissenschaftlichen, ökonomischen 
Besitz in's Wanken geraten sehen, so gerieten auch unsere Vorstellungen auf'dem 
Gebiete der sinnlichen Erkennfnisfähigkeif und ihrer verschiedenen Ausdrucksformen 
wie Malerei, Plastik, Architektur und Musik ins Wanken; sie traten plötzlich in ein 
bisher nicht dagewesenes Stadium des Experimenfierens, für das die Kunsthistoriker 
nur sehr schlechte Erklärungen Vorbringen konnten, da sie als zurückblickende, auf 
zeichnende Menschen ganz unlebendig sind, und die Zeichen der Zeit immer von einem 
willkürlich aufgesfellfen, absoluten ästhetischen Wert aus missverstehen, bis zu dem 
grotesken Punkt, an dem Spengler und Worringer anlangten, dass sie, weil ihnen 
keine Vergleichsmöglichkeiten aus irgendeiner historischen Periode für den Experimenfal- 
zusfand, z. B. der heutigen Malerei und Plastik zugänglich waren, mehr ahnungslos 
als kühn behaupten, die Kunsf stürbe oder sei schon tot, ja die gesamte Kultur ginge 
unter. Diese Kulfurhisforiker folgern aus der Tatsache, dass die kapitalistisch-bürger 
liche Kultur im Zusammenbruch begriffen ist, ungefähr dies: es gibt keinen anderen 
Geist als den, der das römische Recht, die griechische Plastik, die gotischen Dome, die 
Malerei der Renaissance, das bürgerliche Barock, die Naturwissenschaften und die 
Kapifalwirfschaff wie den Militarismus geschaffen hat; eine Zeit, oder ein Geist, der 
zu diesen Werfen im Widerspruch steht, ist kein Geist, ist nicht lebensberechfigf, und 
also muss die Kultur sterben, wenn diese alten Werte zerbrechen. Aber es ist ein 
grober Denkfehler, nur den bürgerlich orientierten Kulfurzusfand als abendländische 
Kultur gelten zu lassen, genau so wie es ein grober Denkfehler der Wissenschaft ist, 
wenn sie nur und immer wieder mit dem bürgerlichen Typus als Normalmenschen 
operiert und ihn den natürlichen Menschen nennt, ohne zu sehen, dass dieser Klassen 
typus keine ewige, allgemein gültige Form des Menschen ist. Den natürlichen Menschen 
gibt es noch nicht, er blieb eine Hilfskonstruktion zur Erhaltung von Klassenvorurteilen 
und zur Befestigung des Bildungsdünkels. 
Der naive Vermenschlichungswille, der Drang alles nur inbezug auf den Menschen 
mit Werten auszusfaffen, die Notwendigkeit, sich mit den auf den Menschen ein 
stürmenden Sinnesproblemen auf eine möglichst einfache Art auseinanderzusetzen, um 
der Beherrscher der Welf und der Dinge zu werden, sowie der Mangel an Erfahrung, 
liess die illusionistische Kunsf Europas entstehen, die ausserdem in ihrer voreiligen 
Fesfsfellungsfreude die Besifzvorsfellungen in ihre Darsfellungsform naiv mifhinein- 
nahm, weil sie an den Dinglichkeiten der Welf, als dem Menschen untertan, nicht 
zweifelte. Der Mensch war das wichtigste Thema der Kunsf; die ganze sichtbare Welf 
wurde dem Menschen durch die Entwicklung der optischen Fähigkeiten immer sicherer 
erobert und schliesslich wurde aus der Kunsf statt einer Beschwörungsform gegenüber
	        
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