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der beängstigenden Wirklichkeit, die man eben durch ihre Darstellung bannte, sich zu
eigen machte, unterwarf, — ein Spiel, ein Luxus, und damit gewann die Kunst den
Charakter eines Klassenvorrechtes; es zeigten sich in ihr seit dem Auf tauchen der
Perspektive und des Porträts in der Frührenaissance immer weniger allgemein
menschliche Momente und Probleme, dafür aber eine desto grössere Hinneigung zur
Belustigung und Bevorrechtung der Gebildeten, der besitzenden Klassen. In unserer
Zeit, in der man anfing das Recht auch des Proletariers auf Kultur zu proklamieren,
sollte die inzwischen entstandene Kunst dem einfachen Menschen nahegebracht werden.
Aber wie sollte dies geschehen, da ja in ihr nichts mehr allgemein verständlich, einfach
und klar erfassbar war? Denn mit dem Gerede von der Weltenliebe, vom neuen
Geist, vom Kubus und anderen Unklarheiten kam man nicht weit. Man stellte die
Werke dieser Art als rein intuitiv entstanden hin, als Eingebungen, die einer Erklärung
nicht zugänglich waren und ihrer auch nicht bedürfen sollten. Man sollte vor diesen
Werken, die man rein optisch nirgends einordnen konnte, eine Art mystischen oder
geistischen Chok verspüren und dadurch für das Kosmische, für das Metaphysische
bereit sein. Selbst die Programme der Futuristen halfen zu keinem Verständnis —
denn immer wieder fälschten die Kunsthistoriker die ihnen unverständlichen Er
scheinungen um, oder riefen seitens der unklaren Künstler noch unklarere Erklärungen
hervor — unnütze Deklamationen, auf die sich die schöpferischen Geister nie ein
gelassen hatten und haben, weil sie von ihrer Bindung an die Probleme unserer
Zeit viel zu stark überzeugt waren — es war ihnen immer klar, dass wohl etwa eine
Kunstart abstirbt, so, wie eine Jahrhunderte alte Art der Besitz- und Moralvorstellungen
abstirbt — nicht aber um Nichts, sondern um die Realität eines neuen Geistes und
einer neuen Gesellschaft und mit ihr eines erneuten Menschen entstehen zu lassen, der
sich nicht mehr an die alten, wertlos gewordenen Weltordnungen klammern darf und
will. Der Experimentalperiode in der Kunst entspricht die gewaltigere Epoche des
revolutionären Umsturzes der Ökonomie und mit ihr der ganzen Rechtsinstrumente
und Kulturfaktoren der bisherigen Gesellschaft. Aber nichfo geht zu Ende, ohne dass
Neues sich bildet. Wir erleben die Anfänge eines neuen Menschen und seiner neuen
Einstellung zur Welt in der Optik. Schon die Tendenz der früheren Weltdarstellung
in der Malerei und Plastik, die Dinge ruhend zu schildern, sie zu monumentalisieren,
während sie doch lebendig und bewegt sind, barg ihren endlichen Todeskeim in sich:
der Futurismus musste notwendig einmal entstehen. Gerade das Denkmalhafte, das
Erheben einer individuellen und zeitlich bedingten Form wie sie der Apfel, ein Mensch
oder ein Baum ist, zu einer Art Ding an sich mit starrem Ewigkeitswert musste,
nachdem im Impressionismus die letzten Folgerungen aus der Newfonischen Optik
gezogen waren, einen Drang nach ihrer Überwindung erzeugen, der zunächst die
Dinge verzerrte, auflöste und auf diese Weise im Expressionismus, auf eine dynamische
Art im Futurismus und in den geomefrisdi-abstrahierenden Formeln der Kubisten und
zuletzt in der abstrakten Kunst eine Erweiterungsmöglichkeit suchte, die dem sich ver
ändernden Weltbild des Menschen entsprechen sollte. Man verwandte schliesslich statt
der Farben oder des Gipses echtes Material, Holz, Glas, Papier, um die Grund
beziehungen der künstlerischen Organismen bis zum letzten zu steigern und um der
so sehr erstrebten absoluten Malerei oder Plastik nahe zu kommen. Diese Werke,
die eigentlich eine gemalte oder modellierte Erkenntniskritik darsfellten, verwandelten
die optischen Momente in lauter metaphysisch-geometrische Beziehungswerfe, die mit
der Dreidimensionalität brachen und gewissermassen eine geistige oder vierte
Dimension darstellen sollten. Picasso, Gleizes, Boccioni, Giannafasio, Freundlich waren
die Bahnbrecher und andere folgten nach. Delaunay fasste das Problem viel sensueller
im Prinzip der Simulfaneifäf, das schon die Futuristen angewandt hatten, indem sie