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GCossen
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wo ihre dokumentarischen Belege durch
diplomatische Diskretion verschleiert sind,
Ernsthaftigkeit und Verbürgtheit zuge»
messen werden. Das Buch Truhetzkois ist
ein Hauptwerk jener modernen politischen
Literatur, an der das intellektuelle Deutsch»
land, bei Bismarck stehen geblieben, un»
begreiflicherweise so lange achtlos vorbei»
gegangen ist.
Die äußere Politik Rußlands hat zwei
Schwerpunkte: einen fernöstlichen, ost»
asiatischen und einen nahöstlichen im euro»
päischen Orient. Daher — da alle politische
Macht heute nur durch Waffen und »Kon»
stellation« <Bündnisse> gesichert werden
kann — hat Rußland, lange der isolierteste
Koloß, heute ebensoviel Bündnis» wie
Rüstungsbedürfnisse. Da ihm seine Koa»
litionen in Ost und West wechselweise
Zwang auferlegen, bleibt seine äußere
Politik einem vor» und rückwärtsschaukeln»
den Schiff vergleichbar: ein »Interessement«
in Ostasien zwingt es zu einem Status quo»
hütenden Desinteressement in Europa,-seine
Wiederanteilnahme am europäischen Ge»
schäft bedingt die zeitliche Stillegung seines
fernöstlichen Dranges. Im ersten Fall reiben
sich seine Interessen an denen Englands und
der ostasiatischen Mächte, im zweiten Fall
an denen der Türkei und Oesterreichs.
Im europäischen Orient heißen seine
Aufgaben: das orthodoxe und slavisch»
nationale Protektorat und die Meerengen»
frage, die uralte »Byzanz«-Idee Rußlands.
Es ist also immer und dauernd der Feind
der Türkei. Selbst in der Periode seiner
stärksten fernöstlichen Tendenzen, in den
zwanzig,dreißig Jahren vor dem japanischen
Krieg, hat es sich immer nur mit seinem
zweiten nahöstlichen Rivalen, mit Oester»
reich, vertragen, und nur im vertagenden
Status quo»Abkommen <Kaiserbegegnung
von Reichstadt, Märzstegprogramm usw.),
die alle eine bohrende Spitze gegen die
Türkei hatten <das mazedonische Reform»
werk und dergleichen).
Während der fernöstlichen Periode war
man in Rußland anglophob, was England
durch das Bündnis mit Japan quittierte.
Beim Ausbruch des japanischen Krieges
lieferte England den politischen Meister»
streich der neutralistischen Verständigung
mit Frankreich, wodurch der franko»russi»
sehen Alliance ihre eigentlichste Bedeutung
<als Rückenschutz Rußlands gegen Eng»
land während ostasiatischer Abenteuer) ge»
nommen wurde. Nach der Niederlage Ruß»
lands begann die Zeit, in der seine äußere
Politik mehr durch Bündnisinteressen als
durch unmittelbar russische Interessen, also
mehr von außen her gelenkt wurde. Es
brauchte noch einige Zeit, bis Rußland
durch Gegendruck seine Verbündeten und
Freunde auch seinen nahöstlichenWünschen
geneigt machen konnte. Wenn es wahr
ist, daß England Rußland in den japa»
nischen Krieg hineinintrigiert habe, so tat
es dies im Grunde nur deshalb, um durch
diese Abstoßung Rußland »nach Europa
zurückzurufen«. Mit der Resignation in
Ostasien bezahlte Rußland die Annäherung
an England, wie sie sich im englisch»
russischen Abkommen von 1907 ausdrückte.
Diese Verständigung der beiden Mächte
durch Abgrenzung ihrer asiatischen Inter»
essensphären war nicht gar schwierig, da
sich beide in Asien gesättigt fühlten und
nur mehr »quieta non movere« wünschten.
Zumindest scheint Rußland, das sich seit
1910 auch mit Japan vertragen hat, (wozu
der unübertroffene Dilettantismus der ame»
rikanischen Diplomaten mithalf) der ost»
asiatische Appetit für lange Zeit ver
gangen zu sein, und eine Anzettelung von
Konflikten scheint dort von ihm nicht mehr
zu befürchten.