Volltext: Der Ararat : Glossen, Skizzen und Notizen zur Neuen Kunst (1(1920),11/12)

DIE NEUE KUNST UND DIE DEUTSCHEN STÄDTE 
Eine Rundfrage 
DARMSTADT 
Die Stadt ist als Bild unbeträchtlich, als Charakter flau, als Temperament undiskutabel, als Geist 
zäh, trocken und subaltern. Daß sie für Westdeutschland heute Vorort ist, Zentrale und Stoß 
trupp im Sinne der Bildung, ist nicht ihre Schuld, sondern ein ironischer Zufall, den das Schicksal 
ihr vorexerzierte. Schließlich hat Gott auch diese miserable Welt sich ausgesucht, um einige unsterb 
liche Denkwürdigkeiten daran zu beweisen. Warum sollte auf einem bürgerlichen Sandhaufen, wo 
mit gladiatorenhafter Gebärde zum Schutz des Deutschtums und der Kultur Tägliche Anzeiger 
und Landeszeitungen, Sanitätsräte und Advokaten Arme und Beine aufbieten, die Erschießung 
des Geistes nicht täglich wieder versucht werden und mißlingen. Diese Guerilla ist eine der 
witzigsten Beigaben eines Daseins, das sich zeitweise in jener Stadt aufhält, ein guter Chester mit 
Brombeeren oder ein zarter Roquefort könnten nicht besser die Digestion befördern. Auch macht 
es den 20 oder 30, die fast alle sehr begabt, das »Tribunal« herausgeben, die »Darmstädter 
Sezession« bilden, dem ersten Franzosen Paul Colin die Reise durch Deutschland für die »Clarte« 
ebneten, die großen Ausstellungen organisierten, einen Heidenspaß, den Treubund der Stadt 
verordneten und Rütli verschworenen mit den Hellebarden anrüdcen zu sehen. Man möge jedoch 
diese Sezessionisten nicht für Krakehler halten, ich glaube, daß sie eher nach Welt aus sind, und daß 
die »offiziellen« Kreise der Kunst nicht ohne Respekt ihre Verbindung suchen. Die Dichter Max 
Krell, Anton Schnack, Hans Schiebelhuth, Leonhard Schüler, Carlo Mierendorff, Theodor Hau 
buch, Wilhelm Michel sind eine gute kameradschaftliche Garde. Die Maler und Bildhauer haben 
Eberz, Bedcmann, Gunschmann, Engert, Habicht, Ewald, Nebel, Hensler, Dülberg, Keil, die 
Puppenkünstlerin Pinner. Noch vieles andere kommt hiezu. Th. Ivel hat einen guten Graphik-Verlag 
aufgemacht. Das »Tribunal« ist eine der eigenartigsten kleinen deutschen Zeitschriften, die unter 
anderem den ersten großen Zusammenschlußaufruf an die französischen Intellektuellen richtete, 
der, von den besten Deutschen unserer Generation unterzeichnet, einen enormen europäischen 
Anklang fand. Dies alles entwickelt sich aus durchaus männlichen kameradschaftlichen Bindungen. 
Der geschäftliche Kern ist der neunzehnjährige Drucker Pepi Würth, der auf seiner Privatpresse 
sehr hübsche Sachen ediert. Es gibt noch eine Literarische Gesellschaft, die unter tapferem Einsatz 
seiner Persönlichkeit Otto Stockhausen führte, die jetzt umsichtig E. E. Hoffmann leitet. Das 
Theater war ein öffentlicher Skandal, staunenerregend in seiner Hilflosigkeit, Der Wiener Eger 
hat es versüßt und auf niedliches Kitschniveau gebracht. Die späteren haben es noch armseliger 
traitiert. Jetzt hat es Gustav Hartung, an den ich als wohl stärksten Regisseur unserer Generation 
glaube, als Intendant in die Hand genommen, er wird es ohne Zweifel zum Platz der ersten west= 
deutschen Bühne führen, die Kritik ist politisch eingestellt. Von rechts her führt sie einen verzweifelten 
Kastratenkampf gegen die Qualität, teils gutgläubig von rührender Provinzialität befangen, teils 
bösartig. Als Kunstkritiker sind Wilhelm Michel, als Theaterreferent Dietrich Diestelmann, beide 
ausgezeichnet, leitende Pole. Die Stadt selbst bringt dem allen unpathetische Neugier entgegen. 
LInbedenklich im Haß auf das Ungewöhnliche und mit der Grausamkeit der Zeloten kämpft sie die 
Camouflage gegen ihren wichtigsten Besitz. Ich zweifle nicht, daß dies die richtige Einstellung ist. 
An solchen Reibungsflächen entzündet sich Produktivität. Kunst und dem Geist entgegenkommende 
Städte sind schöpferisch gewöhnlich steril. Hier ist tatsächlich eine Stadt ohne Ehrgeiz, ohne einen 
Sammler, ohne Leidenschaft, ohne Kulturmacht, ohne Mittel, eine Stadt der Beamten, Pensionäre,' 
kleinbürgerlicher Aristokratie, eine Stadt ohne Restaurant, eine Stadt ohne irgendeinen besonderen 
Reiz, hier ist ein Gnom wahrhaftig trotz allen seines Sträubens zu einer famosen Geliebten ge 
kommen. Ich zweifle nicht, daß er versuchen wird, sie zu maltraitieren. Aber es gibt kein Beispiel, 
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