THEORIE
Es scheint, daß jede neue oder als neu empfundene Bewegung, um
die Höhe zu gewinnen. nicht auf dem Weg der eigenen Entwicklung,
aber zur äußeren Geltung, den Vorspann eines begrifflichen Pro-
gramms, zum mindesten eines Schlagwortes braucht. Die Malerei von
Courbet ist heraufgestiegen unter dem Feldgeschrei des „Realismus“.
Der erste „Temple du Realisme“ ist, schon um 1848, die Brasserie
Andler in der Rue Hautefeuille, die unter dem Atelier von Courbet
im gleichen alten Kloster Unterkunft gefunden hat wie er. Hier resi-
dieren neben ihm Champfleury, Buchon, Proudhon, Etienne Baudry,
Castagnary in einem lebhaften Hin und Her von weitern Künstlern,
Literaten, Kritikern. Für diese alle schließt der „Realismus“ poli-
tische, literarische und künstlerische Ansprüche und Wünsche in sich;
so ungleich diese von einem zum andern sind, er wird der Sammelruf
zur Opposition. In Courbet, dem Künstler und der stärksten Persön-
lichkeit unter den Gleichgesinnten, verkörpert er sich als Bewegung
gegen die Autorität des Klassizismus von Ingres und der Romantik
von Delacroix. die beide am natürlichen und täglichen Leben vorbei-
sehen und :jeder in anderer Art unzeitgemäß und undemokratisch
sind. Solcher Art gegenüber erklärt Courbet: ich fühle mit dem Volk,
zu ihm muß ich ohne Umweg sprechen können, aus ihm meine
Kenntnisse ziehen, aus ihm leben. Wenn das Bekenntnis am Dejeuner
des Herrn von Nieuwerkerque dahin geht, er male nicht „pour faire
de l’art pour Part“, sondern um seine geistige Freiheit zu erringen;
er habe durch das Studium der Tradition diese überwunden und sei
nun fähig, auf seine eigene Art seine Persönlichkeit und die Gesell-
schaft seiner Zeit wiederzugeben und darzustellen, so wiederholt er
es im kurzen Vorwort zum Katalog der Sonderausstellung von 1855,
wo er, „um Mißverständnisse über den ihm durch andere beigelegten
Titel eines ‚Realisten‘ auszuschließen‘, ausführt, er habe einzig in
der vollständigen Kenntnis der Tradition das klare und selbständige
Bewußtsein seiner Persönlichkeit zu gewinnen gesucht, um im Stand
zu sein, die Sitten, die Ideen, die äußere Erscheinung seiner Zeit
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