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Die Volksdichtung ist durch die «Rappresentazioni sacre» vertreten, (Nr. 93)
welche, nachdem der Humanismus die Schriftsteller von den mittelalterlichen
Quellen abgelenkt hatte, die eigentlichen Bewahrer der alten Legendenstoffe
geblieben sind und dabei die Volksgebräuche der verschiedenen Gegenden in
hervorragender Weise wiederspiegeln. Diese Kirchenspiele wurden organisiert,
um das Volk vom Theater der Kirche zuzuführen 30 ) und deshalb haben sie ge
wöhnlich drammatische Form; in Italien wurden sie zu grosszügigen Festspie
len ausgebaut. Die italienische «Rappresentazione sacra» in ihrer endgültigen
Form ist ein Fest, in Florenz erfunden 31 ), mit grossem Aufwand von «trucchi»
und «ingegni», d. h. szenischen Apparaten, welche oft von bedeutenden
Künstlern, wie z. B. Brunelleschi entworfen wurden; die Handlung selber wur
de bereichert durch Ballette, Turniere, ja sogar Bankette!
Einen andern wichtigen Zweig der Volksliteratur bilden die Novellen, Gedich
te und Epigramme (Nr. 92). In ihnen werden die mittelalterlichen Ritterepen
von Neuem lebendig, und es ist höchst anziehend, aus ihrem Inhalt auf die Kultur
der verschiedenen Regionen zu schliessen, den Einfluss fremder Legenden zu
beobachten und auch den hie und da groben, immer aber fröhlichen und gut
mütigen Witz des italienischen Volkes auf sich wirken zu lassen. Um das Gesamt
bild zu vervollständigen, wollten wir auch die Dichterfehden, die gar oft in
unserm Land entflammten, durch die Sonette von Franco e Pulci (Nr. 39) illu
strieren. Auch das schwankende Schicksal unseres grössten Dichters, Dante
Alighieris, ist einer näheren Betrachtung wert, kann doch der mehr oder we
niger grosse Erfolg seiner Ausgaben geradezu als Prüfstein für den Stand der
moralischen Atmosphäre eines Jahrhunderts gelten. Sein Erfolg erhält sich auf
recht, trotz bitterer Angriffe seiner Gegner (Cecco d’Ascoli Nr. 60), mit 15 Aus
gaben im XV. Jahrhundert, mit 30 im XVI.; bis im XVII. Jahrhundert nur
3 Ausgaben sich der allgemeinen Dekadenz entziehen können.
Wer die Bücher des XVII. Jahrhunderts betrachtet, bekommt sofort ein genaues
Bild von dem, was das Seicento in Tat und Wahrheit darstellte, ein Jahrhun
dert politischer Knechtschaft und Vergessenheit, nach einer Glanzperiode,in der
der Humanismus die geistige Welt der Antike wieder belebt, und Italien dem
verwilderten Europa harmonische Kunstformen geschenkt hatte 32 ). Jahrhundert
der Feste, Zeremonien und Ballette, von denen ein blasser Wiederschein sich
in den grossen Kupferstichen findet. Von dieser grauen Eintönigkeit heben sich
die Ideen eines Galileo Galilei, die Beobachtungen eines Redi (Nr. 117) ab, den
Weg zur modernen Wissenschaft eröffnend. Der einzige unbestreitbare Ruhm,
der Italien nach dem XVI. Jahrhundert blieb, ist die Musik.
Wenn in der ersten Hälfte des XVIII. Jahrhunderts diese Zustände sich nicht zu
ändern scheinen, so erneuern sich doch nach 1748 die Kultur und das natio