Volltext: Segantini's letztes Werk

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daran zu denken, daß es die gleiche Zauberformel war, 
zu der auch Goethe auf der Spitze seiner Entwicklung 
sich bekannte. Darin eben erst zeigt sich der Künstler, 
daß ihm die Fülle nicht sinnlos quillt, sondern takt 
mäßig sich bewegt. Und diese taktmäßige Bewegung ist 
der künstlerische Ansdruck der Notwendigkeit. Diese 
schließt also die Fülle nicht aus, sondern setzt sie im 
Gegenteil voraus. Nur gibt's eine geistige und schöpfe 
rische Herrschaft, die darüber steht, eine Herrschaft, deren 
Zeichen und Merkmal die Formkraft ist. 
Bon dieser aus der Notwendigkeit gebornen, allem 
Zufälligen feindlichen Formkraft, kann man vor Se- 
gantinis letzten Bildern einen Hauch verspüren. Und 
auch von der unendlichen Fülle, die darunter sich regt! 
Man sehe auf dem Bilde der „Natur", wie die Figuren 
verteilt sind, wie sicher jede an der richtigen Stelle steht, 
wie sie im Raume wirkt, wie sie ihre Bedeutung unge 
sucht zeigt. Dann beobachte man die Darstellung des 
Geländes, wie es sich wellenförmig leise hebt, wie es 
in atmenden Stößen sanft zum Gebirge emporschwillt 
und wie das Gebirge darüber in die Höhe steigt. Dann 
der Kampf des Schaltens und des Lichtes! Nichts 
Zerfasertes ist darin, obgleich man das Licht erobernd 
einherschweifen sieht. Aber diese Bewegung erhält eine 
gleichsam epische Kraft durch jene so groß und macht 
voll empfundene Linie, mit der die blauen Schatten 
massen hoch oben unter den Firnen und Felsgraten 
gegen das goldrote Königreich des Lichtes abgegrenzt 
werden. Wie ein schlummernder Drache, mit gehobeneni 
Rücken und geducktem Kopf liegt das Dunkel über 
dem Tale, und die Sonne erscheint als der strahlende 
Held, der ihn mit der Siegfriedlanze tötet. Mit feinstem 
Kontrastgefühl ist diese ruhig-große Schattenlinie unter 
das zackige Geklüft der lichtbeschienenen Gletscherspitzen 
gesetzr, die wild und steil in das Blau des Morgen- 
himmels emporwachsen. Gerade aber, weil solch ein 
fache Linien dominierend sind, kann sich das einzelne 
Leben reich entwickeln, ohne darum kleinlich zu wirken.
	        
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