Ü
1
IllllWirn
BUCHDRUCKEREI J QREMMINGER & W
• • TÖSS-WINTERTHUR • •
?'v
Die Monatsfchrift PANTAGRUDL ift, folange der
Vorrat reicht,
belferen Zeitungskiosks zu beziehen oder direkt
Pom Verlag J. Gremminger & Co., Töß=Winterthur
Din Nachdruck einzelner Nummern findet nicht ftatt
• • ■ ••• . ■ ..
Preis pro Heft 1 Pranken; jährlich
Der Reingewinn diefer Zeitfchrift fließt in die
Schweizerifche
Kaffeehaus=Konzert
p IN füßes, langgedehntes Geigenfpiel
■*—' Durchzittert die veroualmten Kaffeedünfte
Die Gälte reden laut und ziemlich viel;
Die Stoffe heißen: Börfe, Weiber, Künlte.
Ein Kaufmann lieft in einem großen Blatt;
Das Kommt aus London oder gar aus Tegel
Sein Nachbar hat „die Schlamperei nun fatt“
Und tut genau iPie ein geeichter Flegel.
Ein Herr rnirft einer Dame Blicke zu,
Die find fchon nicht mehr fchön und unbefchreiblich
Es läßt ihm aber einfach Keine Ruh;
Was ift das Weib auch fo verteufelt rveiblich!
Die Geigen fingen ihren Walzertraum.
Ein junger Herr ift gottserbärmlich fade.
Er zuckt nervös an feinem blonden Flaum
Und fchlürft aus feiner Taffe Schokolade.
Dann öffnet fleh die Plügeltüre ipeit;
Han fleht mit rvohlbegründetem Beklemmen,
Wie laut und rudeliveise „unsre Leit“
Die freien Tifche fröhlich überfchivemmen.
Die Stimmen reiben fleh am Rauche ivund;
Han fühlt das Knarren bis in die Gedärme
Die Geigen fingen füß und zitternd, und
Ihr Sang erläuft erbärmlich in dem Lärme.
l
Kirchgang
FME Glocken läuten, und Herr Joachim
Zieht mißgeftimmt die Stiefel auf die Deine,
Er denkt, das Läuten ruäre rregen ihm ...
Sein Frauchen macht ihm den Zylinder reine.
%
Dann gibt er feiner Gattin einen Kuß.
In feinen Augen ift der Spruch zu lefen:
„Verflucht, daß man zur Kirche gehen muß!
Wie fchön ruär’s heute noch im Bett geiuefen.“
Kaum lieht Herr Joachim por feiner Tür,
So gibt er feiner Leiblichkeit die Sporen, —
Er kommt lieh felber Poller Salbung für,
Nichts blieb zurück pon feinem großen Zoren.
Da trifft er den Herrn Pfarrer Heinrich Salz
(Ein Hann, genau rnie Zruingli oder Luther),
Herr Joachim nnrd liebepoll ruie Schmalz,
Und fein Gefleht ift ipeich rpie Tafelbutter.
Sie gehn zufammen, mas den Brapen freut. —
Die Hänner ziehen alle tief die Hüte.
„Ein fchönes Wetter haben mir doch heut.“
Der Pfarrer nickt Poll Innigkeit und Güte.
Da kommt auch noch die keufche Katharin.
Sie ift ein Vierteljahr Perreift geruefen.
Den Seelenherrn gewährend, grüßt Ae ihn.
Sie ift noch etrnas blaß, iPie kaum genefen.
Der Friedei hat ein Sträußchen auf dem Hut.
Wahrfcheinlich flucht er fchauderhaft im Stillen.
Tt-ntr.mv*
&***!&*&
Mxma
Die Frömmigkeit fleht ihm nur ziemlich gut;
Allein es ift nun mal der Mutter Willen.
Da kommt auch noch ein braper Ehemann
Mit feiner teuren Gattin angefahren.
Sie fchauen fleh mit Honigblicken an ...
Des Werktags liegen fle fleh in den Haaren
Der Glocken ehern Singen ift porbei. --
Nun fpricht der Pfarrer eine Polle Stunde.
Er regt fleh auf; das Sprechen ipird Gefchrei. . .
Die Salbung tropft ihm nur fo aus dem Munde.
Farbenorgie
IR IN grüner Jüngling laugt, neutral geftimmt,
An einem braunen Kraut, das rötlich glimmt.
Er bläft die blauen Räuchlein durch die Nafe,
Trinkt braunes Bier aus einem klaren Glafe.
Er denkt an eine fchöne, violette
Krarvatte und befchaut die goldne Kette,
Die breit auf rotgeblümter Welte liegt.
Ein fchivarzbefrackter Kellner kommt und rniegt
Ein filbernes Tablett auf gelben Fingern;
Das ift gefüllt mit knufprig=braunen Dingern,
Die eine blondgelockte Dame ißt.
Der grüne Jüngling fleht fie und vergißt
Die goldne Kette und die violette
Krarvatte, die er gern befeflen hätte.
Der Jüngling, der fo grün ift, ivie das Gras,
Vergißt das braune Bier im klaren Glas;
Er fleht die blauen Augen der Blondine. ..
Es ivird ihm fchrvarz. . . Schon ahnt er die Routine.
Das Kraut verglimmt; das braune Bier ivird fchal;
Der grüne Jüngling ruft mit einemmal
Dem fchrvarzbefrackten Kellner: „Ober, zahlen!”
Der Kellner ft eilt zrvei braun gefüllte Schalen
Auf einen roten Tifch, und lächelnd fteht
Er bei dem grünen Jüngling, bis er geht. —
Die Blonde fühlt den Jüngling fle begehren,
Hört auf, die braunen Dinger zu verzehren;
Sie fchlägt ein graues Tuch ums blonde Haar,
Steht auf vom Stuhl, auf dem fle feßhaft ivar. . . .
Und vor der Tür mit milchiguveißen Scheiben
Sieht man fleh Blond und Grün entgegentreiben.
4
Mittag
FMD offnen Türen fpeihen Henfchen aus;
^ Die laufen fo, als hätten fie den Sparren,
Und diefes aus dem Grunde, ipeil zu Haus
Die Frauen und die Suppe ihrer harren.
Den einen fleht man, beide Hände tief
Im Hofenfutter, feines Weges traben.
Din andrer lieft in einem Liebesbrief
Und landet fehr verblüfft in einem Graben.
An einer Dcke trifft ein Jüngeling
Per Zufall eine Jungfrau, hold geartet;
Sie ift ein liebes, zuckerfüBes Ding
Und hat fchon ziemlich lang auf ihn gewartet.
Din Schreiber fpricht auf einen andern ein
Und rpendet ihm fein Bleichgeflcht entgegen.
Der andre ftolpert über einen Stein
Und murmelt einen ftark gekürzten Segen.
Auf einem Zipeirad, ipenn auch ziemlich krumm,
Berpegt fleh einer fchneller als die meiften.
Din Angekarrter dreht fleh meuchlings um
Und fragt: „Wie können Sie fleh fo erdreiften?”
An einer Kreuzung ftockt der Wandrer Schar. -
Ift da ein Kalb aus einem Di gekrochen?
Dem ganz Beharrlichen ipirds offenbar:
An einem Wagen ift ein Rad gebrochen.
Han iPidmet fleh dem Fall, rpie flehs gehört,
Nach eigenem Dmpfinden und Drmeffen.
Auf einmal aber ift man fehr empört:
Han hat die Suppe und die Frau pergeffen.
Der leiste Galt
rME, Kellner lümmeln um den lebten Galt.. .
^ Noch eine Lampe geizt mit ihrer Helle;
Der Ober lieht gelangipeilt auf der Schwelle,
Und feine Rückenlinie rollt fleh faft.
Die Gläfer und Tablette find geleert;
Die Stühle flehen köpflings auf den Tifchen,
Und fehr bemerkbar wird fchon in den Nifchen
Von einem müden Knechte ausgekehrt.
Dann klingt ein Geldftück auf in kurzem Tanz;
Der Ober rechnet falfch und fleht in Pofe;
Dr fleckt blaflert das Trinkgeld in die Hofe,
Und fein Gefleht hat einen fetten Glanz.
Der Gaft empfiehlt fleh, und er drückt den Hut
Mit Abficht fehr beträchtlich in die Stirne.
Dr folgt dem Schatten einer müden Dirne . . .
Der Himmel flimmert in gedämpfter Glut.
Johannes Vincent Venner /
Ima no Hirne
I.
... An einem nebelfeuchten Abend im Nopember.
Ma PrinceiTe lointaine!
KENNEN Sie Ima no Hirne?
Nein?
Ich mill Ihnen lagen, ma PrinceiTe, mer Ima no Hirne mar. Aber
zupor lallen Sie den Wohlklang diefer Perlenkette aus Vokalen,
diefe fehnfüchtige und beraufchend traurig hinfchmelzende Ton=
fülle in Ihre Seele dringen.
Ima ... Ima no Hirne!
Kennen Sie die feltfame Traurigkeit der Stunden im Herbft?
Wenn rafchelnd die bunten Blätter unter unferen Schritten fliehen;
menn aller Dinge Wefenheit uns fo fern, fo perfchleiert, fo un=
mirklich, fo mefenlos und dafeinsfern dünkt. Wenn die Augen
der Frauen einen feuchten Schimmer bekommen und in ihren
Herzen ein Lied — ein fonderbares, törichtes Lied — leife und
laut, fanft und Itürmifch miederklingt: das kleine, fonderbare
törichte Lied pon der Wollult der Tränen, die ohne Grund
fließen, das Lied Pon der feltfamen Traurigkeit der Stunden im
Herbit.
Meine ferne Freundin, darf ich Ihnen das Lied mitteilen ? —
Hier ilt es:
Seltfam traurig find die Stunden im Herbit. —
Lautlos gleiten bunte Blätter nieder,
Die nach kurzen Tagen fchon perblalTen.
Sinnend gehn die Menfchen durch die Stunden,
Die perträumt und fruchtlos fleh zu Tagen reihen.
Und die Nächte können Piel erzählen,
Willen Piel um Itill gemeinte Tränen,
Die am End doch unbegreiflich bleiben...
Seltfam traurig find die Stunden im Herbit.
Kannten Sie diefes Herbitlied, ma Princefle?
Aber ich wollte Ihnen ja pon Iwa no Hirne erzählen.
In einem Buche, das in zartgetönte Seide gebunden war, las
ich jüngit wenige Zeilen pon Iwa no Hirne. Sie war eine Kaiferin
im Lande Japan und iit feit Pielen Jahren tot.
Sie trug eine Sehnfucht in ihrer Bruit, trug eine Sehnfucht in
ihrer Seele, eine Sehnfucht, die mit jedem Tage wuchs, die, wenn
das Abendrot fleh über Japans Himmel ausbreitete, ihr kleines
Herz zu zerfprengen drohte. Und als fie eines Abends das
glühende Rot über dem heiligen See Pon Iware emporfteigen
fah, konnte üe die große Sehnfucht nicht länger geheim halten
und tauchte einen Pinfel in die zinnoberrote Farbe der Leiden-
fchaft und fchrieb in zitternden Zeichen an die blaßlila Papier-
wand ihres Gemachs:
„Bis daß der weiße Reif des Alters fleh auf meine rabenfehwar-
zen Haare legt, will ich mein ganzes langes Leben durch nichts
weiter tun als warten, warten, warten auf Dich, den meine ganze
Seele liebt..
Der Schluß ift fehr traurig, ma Princefle; die Kaiferin Iwa no
Hirne mußte dafür fterben, daß fie ihre große Sehnfucht nicht
in einem Winkel ihrer Seele perborgen hielt. Dort aber, wo
man fie im glatten See pon Iware perfenkte, entftehen pon der
Stunde an unabläffig Kreife, die fleh ausbreiten und an die Ufer
wachfen.
Iwa no Hirne, Du Herrliche, Du Reiche! ift es deine Sehnfucht,
die nicht zur Ruhe kommen kann?
Das, ma Princefle, träumte mir, als ich die wenigen Zeilen
der japanifchen Kaiferin in jenem Buche mit feidenem Finband
gelefen hatte. Und — wie fonderbar — am Tage, der diefem
Traume porausging, habe ich Sie zum erftenmal gefehen.
Und Iwa no Hirne, die ich im Traume fah, trug Ihre Züge. Herbft
ift es auch. Die Stunden haben eine feltfame, fchwermütige
Traurigkeit im Gefolge.
Adieu, ma Princefle!
II.
Irpa no Hirne, ma PrincelTe!
Heute Iah ich Sie nieder! — 0 Sie Perne, Lichte! 0, Irpa no
Hirne! Als Sie einherfchritten, ging Ihnen Prahlende Jugend
Poran, und Schönheit und Güte rparen Ihre Begleiterinnen.
Hilde rpar Ihr Antlifc; Ihre Augen ruhten auf den Nenfchen,
als rpollten fie Tagen: Ichauet mich an, die Ihr mühfelig und
beladen feid, meine freie Stirne, mein königlicher Gang rperden
euch erouicken ...
0, Irpa no Hirne, Du Perne, Strahlende!
III.
Irpa no Hirne!
Jüngft las ich in Deinen Augen, die mich plötjich im Gerpühl
der Straße anfahen, ein Wort: müder Pilger!
Wie erbarmungslos das in meine Seele fuhr!
Da kam über den müden Pilger die fchrrerfte Stunde. Hitten
durchs Herz der Alpen fuhr er dem Frühling entgegen. Aber
mit ihm fchrpebte Dein Bild, Irpa no Hirne, und rpie Höpen um=
flatterten ihn rpilde, fchmerzliche Wünfche.........grauperfchleiert
fuhr Frau Herzeleid mit ihm.
Nicht die türkisblauen Seen, nicht die zarten, rpeißen Came=
lien, nicht die Sonne pon Ronco perfcheuchten die grauper=
fchleierte Frau und der müde Pilger permochte der Tage am
Lago Haggiore nicht froh zu rperden.
Der müde Pilger fuhr rpieder nach Norden.
Der Schnellzug Höhnte, ftampfte, ächzte und jammerte rpie ein
Riefe; fein Atem ging fchrper... Ungebändigt, ungezügelt rafte
er durch die Nacht. An tiefen, geheimnispollen Wäldern porüber,
die am Tage licht und lieblich find; an trüb flackernden Later=
nen porbei, die aus den kleinen Stationen klägliche Gebilde
und fpukhafte Nachtgeftalten machen ...
Endlos... Unendlich ...
Wie rpeit und fern lag die Welt!..
io
Ungebändigt . . ungezügelt rafte diefes Ungetüm durch die
Nacht.
In feinem Bauche faßen viele Pilger . . . einige fatt, ohne Sehn=
fucht, andere mit brennender Sehnfucht in der Seele; einige mit
leichtem Herzen, andere mit kummergefurchter Stirne. . .
Der müde Pilger, der Andere, mit der brennenden Sehnfucht,
der Andere, mit der kummergefurchten Stirne, hielt mit liebe=
voller Gebärde ein Buch, in dem er nicht las. Seine Augen fahen
über das Buch hinaus. .. irgendwohin, wo in feurigen Lettern
Itand:
„Iwa no Hirne! Du Perne! Du Lichte!”
Der müde Pilger träumte:
„Wann war es doch, als ich dich zum lebtenmal vorübergehen —
vorüberfchweben fah? Dein Fuß fchien die Erde nicht zu be=
rühren, du Leichte! Dein fchwarzes Haar umwallte die freie Stirn.
Du nahmft mit deinem Auge den müden Menfchen alle Laft und
in mein Leben brachit du ein mit dem Ungetüm des Föhnwinds,
wenn er durch den Vormärz ftreicht. .. .”
Der Schnellzug wartete auf Anfchluß. Auf dem Geleife nebenan
itand ein Zug, der in wenigen Minuten in entgegengefebter
Richtung in die Welt hinausfahren mußte.
Der müde Pilger träumte:
„Einit vor langen Jahren-------”
Seine Blicke itreiften das gegenüberliegende Waggonfeniter,
wo hinter trüben Scheiben ein Weib faß.
Weiche braune Augen fingen feinen Blick auf und ein leifes,
fehnendes Lächeln hufchte über ein zartes Frauenge ficht.
Ihre Blicke konnten fich nicht mehr trennen.
Gedanken, Wünfche und Sehnfucht zogen ihre Fäden hin und
her, vom Einen zum Andern.. .
Der müde Pilger fühlte:
„In wenigen Sekunden zwingt uns eine Gewalt auseinander,
über die wir nicht Herr find; ein höheres Müifen. .. Und nie
mehr werden wir uns in die Augen fehen können.”
n
„Ich liebe Dich, o, meine Schmetter", blickten die Augen des
Pilgers.
„0, Du mein füßes Herz, meine Seele bangt nach Dir”, ant-
worteten die weichen braunen Augen.
Da fchrieb der müde Pilger hattig auf ein lofes Blatt:
„Meine ferne, meine langgefuchte, nahperwandte Schmetter...”
Er hielt das lofe Blatt ans Waggonfenfter.
Weiche braune Augen Perfchleierten fleh für einen Augenblick
und dann glitt mie ein Sonnenftrahl ein fanftes Lächeln über
das Frauenge fleht.. . .
Ein greller Pfiff.. . noch einer! zwei Menfchen fahen fleh ein
letztes Mal in die Augen.
Weiter ftrebten die Züge auseinander, immer weiter; immer
überwältigender dehnte fleh die Ferne.
Zwei Menfchen faßen, jeder in feinem Zuge, und die rattern*
den Räder gingen über ihre eigenen Seelen.
V.
Ma Princeffe lointaine!
Ich bin wie ein kerbendes Feuer. Die Lohe ift niedergebrannt,
innerlich aber Perzehrt mich die Glut, und ich erlöfche nach und
nach.
12
VI.
.... 0, Iroa no Hirne, ma Princeffe, meine Seele bangt Tag
und Nacht nach Dir.
VII.
... Iroa ... Irpa no Hirne! Die Finfternis ift nicht mehr fern
und meine Seele erfticKt in der Afche.
0, Irra no Hirne, ma Princeffe lointaine, ipo bliebft Du fo
lang ?!
Die Schuld des Gottlob Schleicher
Novelle pon Robert Jakob Lang.
Co kam der Frühling fchon im Februar: die Sonne fchien warm
^ und freudig auf die kahlen Zweige. Die Finken fchlugen
perwundert im Geäft; nur der Himmel war pon einem tückifchen
blaffen ßlau.
Hinter dem Dorf (treckte fleh eine breite, weiße Straße, an
welcher Pappeln (landen. Zwilchen der fünften und fechsten
Pappel lag ein Haus. Es war fo gewöhnlich, daß man feine
befcheidene Häßlichkeit überfah und ihm eine Berechtigung in
der Natur zuerkennen konnte wie jedem grauen Feldftein. Hinter
dem Haus fing das Gewirr der Baumgärten an. Die Dächer lagen
über den Kronen wie baumrote Pielgeftaltige Eier in einem
Riefenneft. Unter der oberften Fenfterreihe des Haufes lief eine
lange hölzerne Laube. Ueber dem Geländer war eine Schnur
gefpannt, daran flatterten rote und weiße Windeln. An einer
der hölzernen Stüftfäulen hing eine kleine Eifentafel, auf wel=
eher die Roftflecken üppig wucherten, nur die Buchftaben der
Auffchrift perfchonend. Von der Straße aus war nichts zu lefen
und es hatte auch keine Not, denn daß da oben der Schneider*
meifter Gottlob Schleicher feine Werkftatt hatte, das wußte ein
jeder im Dorfe. Wenn man fleh aber über das Geländer der
Laube lehnte, las man mit Befriedigung, daß der Schneider*
meifter nicht ein gewöhnlicher Kleidungskünftler war, fondern
ein „marchand=tailleur”. Ueber die Bedeutung diefes Ausdrucks
war fleh der Meifter nicht im Klaren und dachte fleh die Sache
fo, daß marchand wahrfcheinlich Schneider und tailleur demzu*
folge Meifter bedeute. Es war da por einigen zehn Jahren ein
fremder Gefelle beim Maler Pifcher untergekommen, der hatte
ihm den Firmenfchild gemalt und als er damit fertig war, zeigte
das Schneiderlein einen hellen Stolz über feinen neuen Titel,
getraute fleh aber nicht aus der löblichen Furcht heraus unge*
bildet zu erfcheinen, nach dem Sinn zu fragen. Er ahnte wohl
deffen Herkunft aus der franzöflfehen Sprache und grämte fleh
ein wenig, nicht Schangi oder Schaggi zu heißen. Mit einem
folchen feinen Namen wäre die Tafel fein ganzes Glück gewefen
-Vfct.,
h
\ ■ i
••C'L
/r..
Louis Gerber / Lithographie
□
15
und feine biderbe deutfchfchweizerifche Wefenheit hatte dann
den höchften Grad erreicht.
Er hatte ein fchönes Gefchäft, der marchand=tailleur Gottlob
Schleicher. Er flickte zum minderten fechs Paar Mannshofen und
ein Paar Herrenhofen in der Woche. Auf diefe leßte Arbeit
bildete er fleh etwas ein. Es ift nämlich ziemlich zweierlei, einen
Piereckigen Fleck Stoff auf ein Loch nähen ohne befondere Be=
rückflchtigung des Grundgewebes, oder mit piel Sach= und Farb=
kenntnis den Fleck auf der Innenfeite des Loches anzubringen
und den Uebergang in den Stoff der Hofe fo zu bewerkftelligen,
daß man ihn gar nicht merkt; ebenfo zweierlei wie das Bügeln
einer Zwillichhofe und eines Beinkleides aus englifchem Hofenftoff.
Jeßt lehnte fleh der kleine Hann mit dem großen Kopf über
das Laubengeländer und fah mit dunkeln Augen, in denen eine
pfiffige Wohligkeit büßte, auf die Straße hinunter. Um ihn her=
um flatterten die Windeln feines Jüngften. Es war zwifchen zwölf
und ein Uhr. Ein paar Arbeiter gingen gefchäftigen Schrittes
dem Dorfeingang zu. Mitten auf der Straße lag ein fchwarzer
Köter und fonnte fleh. Der Schneidermeifter fog die Frühlings=
luft mit offenem Munde ein und puftete fle durch die zufammen*
gekniffenen Nafenflügel wieder aus. Die Pinken fchlugen in den
Bäumen und die Spaßen ouietfehten in den ftaubigen Pappeln.
Der Schneidermeifter Gottlob Schleicher freute fleh an den Finken
und an den Spaßen. Ueber ihm hatte der Himmel ein giftig
blaffes Blau. Schulbuben gingen porbei. Der fchwarze Köter
fchnupperte in die Luft, ftand auf, ftreckte fleh und trollte fleh,
bepor ihn der erfte Stein erreichte, dapon. Um die Ecke aber
klang ein mehrftimmiger Spottruf: „Schneider meck meck! Schnei=
der meck meck!”
Der Meifter zog die Stirne kraus, ärgerlich ging er an die
Arbeit. Mit läffiger Behendigkeit zog er feinen Rock aus und
ftand nachdenkend in feiner Werkftatt. Die dünnen Beine in
zu kurzen hellen Hofen, den Operkörper ohne Hofenträger in
einem weichen grauen Kamifol, das baufchig über den Hofen=
gurt herabfiel.
Das war des Meifters Werkftatt: Drei Meter im GePiert, pon
denen ein fchönes Stück abging, weil zwei Türen zu öffnen
waren, eine auf die Laube und eine in die Küche. Die Pier
Wände ftrahlten im Glanz einer grün- und rotblumigen Tapete.
An klobigen Nägeln hingen des Schneiders Schnittmufter, Scheeren
und Elle; bei der Küchentür über dem KundenfelTel hing, am
Ehrenplab, die Photographie des Gemifchten Chors. Durch das
Fenfter, das auf die Laube ging, fiel das Licht pon rechts auf
den mächtigen Arbeitstifch; dem Fenfter gegenüber ftand hart
neben dem Tifch ein Schrank, defTen Türen beim Oeffnen knapp
an der Tifchplatte porbeirieben und neben dem Schrank glühte
der kleine eiferne Ofen. Die Laubentür irar Perglaft. So ipar
in dem Stübchen eine nette Helligkeit; aber ipeil der Meifter der
frifchen Luft alle möglichen Untugenden zufchrieb und die Fenfter
mit allen erdenklichen Liften zuzuhalten ipußte, eine jämmer-
liehe Atmungsgelegenheit.
„Die perdammten Buben!”
Mißlaunig holte Gottlob Schleicher fein Kohlenbügeleifen Pom
Schrank herunter und füllte es mit Glut aus dem Ofen. Dann
fchipang er es auf der Laube einige ziranzig Mal hin und her,
neftte bedächtig feinen Zeigefinger, fuhr porfichtig über die
Bügelfläche und brachte ein gutes Zifchen zurpege. In feiner
Werkftatt faltete er ein Paar Hofen umftändlich auf den Tifch,
legte ein fchiparzes Schußtuch darüber und bügelte mit Piel An-
ftrengung und genug Waffer Pier porzügliche Bügelfalten.
Bei feiner Arbeit rpar Gottlob Schleicher mit feinen Gedanken
allein.
„Die perdammten Buben! Seinerzeit.. .”
Da ging ihm ein Begegnis durch den Sinn, das er gerne per-
gellen hätte und das ihm doch ipieder aufkam.
Die Bäume blühten. Hinter dem „Hohren” ftand eine Kutfche.
Der Gaul fcharrte ungeduldig. Auf dem Bremsbacken lag ein
glimmender Zigarrenftummel, Weiß der Teufel ipas den Schlin-
gel, den Gottlob Schleicher, ankam. Auf einmal ftak der Stum-
mel ziPifchen Lederzeug und Pferdefell. Der Bub aber ftand
hinterm Brunnenftock und ipartete und fah zu, rpie der Gaul Reiß-
aus nahm und Leute aus dem „Hohren” kürzten dem herren-
lofen Gefährt nach. Der Gottlob Schleicher ift nie mit dem Gefeft
und feinen Vertretern in Konflikt gekommen, aber feit jenem
Jugendftreich hat er ein Perdammt empfindliches Gerpiffen und
die Sache rpill fleh ihm nicht perjähren. Schließlich hat ja nie-
mand etwas gefehen als feine Frau, die damals ein kleines Mäd=
lein war und die er - ein klein wenig auch - wegen ihres Mit»
willens geehlicht hatte. So kam vielleicht die Hälfte der Schuld
auf fie.
Das Mädlein war ein Jüngferlein geworden. Schmal und bleich
mit großen dunklen Augen, in denen immer die Frage zu
ftehen fchien: rparum fchauft du mich an ? Wenn fie angezogen
war, legte fie ihr Umtuch ins Dreieck, fchlugs um die Schultern,
band zrpei Zipfel davon kreuzweis um die Bruft und im Rücken
zufammen und ließ den dritten unter ihrem fchwarzen Haar
iPie ein braunrotes Wimpelchen flattern, ipenn fie mit rafchen
Schritten durch die Straßen ging. Das war die Frau Schleicher
und ipar früher die Jungfer Steiner geipefen und noch früher
das Steiner Miggeli. Aber das Umtuch war immer dasselbe.
Vor Jahren einmal ipar fie an einem fchönen Sonntag nach=
mittag durch die Wiefen gegangen und der Schneider hatte fleh
zu ihr gefeilt. Sie fah ihn gern, ipeil er ihr Schulkamerad ge=
wefen. Daß fie feine Frau werden ipürde, daran dachte fie nie.
Sie ließ ihre Träume nicht fo hoch fliegen. Darauf daß einmal
ein fcheu gewordenes Pferd durch die Straßen geraft und der
Gottlobli hinter dem Brunnenftock geftanden, hatte fie vergeffen,
und dachte jeßt, ipo der junge Schneider neben ihr durch die
Wiefen ging, erft recht nicht daran.
„Weißt du noch Miggeli?”
„Was denn?”
„Hedann, weißt beim Mohren?”
„Nichts weiß ich!”
„Der Wagen mit dem Gaul?”
„Was für ein Wagen?”
„Weißt doch, der wo wild geworden ilt!”
Miggli Steiner fah Gottlob Schleicher mit fonderbaren Augen
an. Was der für wunderliche Sachen berichtete.
„Da bin ich fchuld daran.”
Die Augen der Jungfer nahmen einen immer verwundeteren
Ausdruck an und wurden fo groß, wie der Schneider fie noch
nicht gefehen.
Oh läb, dachte er traurig, jeftt ift’s aus. Und er wußte nicht,
ob er da noch berichten folle, dann nahm er fleh ein Herz:
18
„Aber weißt Miggeli, das hab ich auch niemehr getan, meiner
Seel nicht!”
Das Miggeli war dran ihm zu Tagen, daß ihm das doch gleich
Tein könne, und was er denn etwa wolle mit feinem Gered.
„Weißt, aber ich weiß nicht, was ich denkt hab felbiges Mal.
Auf einmal hab ich dem Gaul die zündige Zigarre zwifchen das
Lederzeug und das Pell gelteckt, da ift er davon!”
Das Mädchen Iah auf den Boden und wußte nicht, ob der
Gottlob am heiterhellen Tag fchon befoffen oder fonft über fei.
„Magft du mich jefct gleich noch?” fragte der nach einer Weile.
Da (lieg der Jungfer ein roter Schein ins Gefleht und es ließ
die Augen nicht mehr vom Boden los.
„Jebt wirft mich denk nimmer mögen?” fragte der Gottlob
ipeiter.
Da fing das Jüngferlein ein Lächeln an, daß die Vögel in den
Bäumen darob zu ftaunen fchienen.
„Ja rpenn dir fo viel daran gelegen ift, mögen tu ich dich
fchon.”
„Gleich, auch wegen dem Gaul?”
Darauf hat fleh der Schneidermeifter Gottlob Schleicher nicht
länger befonnen und hat das Miggeli Steiner zur Frau genom=
men, und ift trots der Gaulgefchichte nicht übel dabei gefahren.
Aber verrechnet hat er fleh dabei doch. Die Angft vor der
Polizei und vor allen uniformierten Beamten ift er nicht los ge=
worden —
Jetft wo er auf feinem Tifch faß und finnierend auf feinen
Fingerhut guckte, rpar es ihm genau, als höre er die Stimme
Wächters der Ordnung
kam fein Gefleht
derliches Ausfehen. Dine herrifche Angft hockte fleh in Mund
und
Augenwinkel und verfteinerte feine. Züge,
i entfchloflenen Ausdruck, den ihm niemand
gab ihm
inte. Br
laufchte hinaus
verklang die Stimme ipieder. Mit einem
fcheuen Seufzer zog er eine Armlänge Zrrim von der
fädelte ein und nähte Stich
Schon in der Schule hatte
feilen. So rpar er immer für fleh
m Stich.
ihm diefe Furcht im Nacken ge
allein geblieben, weil er fleh
Bubenftreichen fürchtete. Vor den Lehrern zitterte
für ihn Staatsgewalt waren. Und die Lehrer brauchen
9
keine Pfychologen zu fein, die waren bald fertig mit ihm. Duck*
mäufer, war die Qualifikation, die ihm fein Wefen eintrug. Er
hat den rechten Namen, gloffierte der Oberlehrer dazu. Und es
war fchließlich niemand Schuld daran, als er — Gottlieb Schlei*
eher — felbft, wenn er fleh immer mehr weg und herumfchleichen
mußte mie ein Ausfätfiger und nur luftig fein konnte, wenn
nicht ein Schulerbub oder ein Gaul feinen Weg kreuzte.
beim Kaffeetrinken meldete ihm das Miggeli, die Frau Studer
habe ihre Steuern fcheints noch nicht bezahlt. Der Steuerzettel
ftecke noch in der Türfpalte und es fei jetjt doch fchon zwei
Tage her, feit man fie Pertragen habe.
Gottlob Schleicher war fchlechter Laune. Seine Gedanken hatten
ihn gegen die Menfchen erbittert. Das fei immer fo, meinte er,
denen, die etwas zu Perfteuern hätten, denen laffe man Zeit
bis zum ewigen Feiertag, und den armen Kaiben, ipenn die
nicht faft auf die Kanzlei fprängen, bepor der Zettel komme,
denen rperde gepfändet.
„Es muß dich dann nicht Wunder nehmen, rpenn ich an einem
fchönen Tag Sozi rperde!”
Frau Miggeli machte ihre großen Frageaugen; als ob fie
friere, kreuzte fie fleh zufammenkauernd die Arme. Die drei
fchrparzhaarigen Mägdlein sahen den Vater perrpirrt an und nur
im Zimmeripagen krähte das Jüngfte unentwegt weiter.
„Wenn ich das Geld hätte, wo die Studerin hat, die Alte, dann
könnte mir meinetwegen alles andere geftohlen werden!”
Das Zilli hat getagt,,plauderte die Grete die Ältefte\ fie habe
gar nicht fo Piel!”
„Halts Maul, das weiß denk ich befier!”
„Aber Vater, ,Frau Miggeli hielt etwas auf gute Erziehung und
hörte nicht gern wenn Gottlob grob kam, weil das leicht ab*
färbe1, das kann doch das Zilli ganz gut wißen, die geht doch
bei der Frau Studer auf die Stör!”
„Ich weiß was ich weiß!” beharrte der Schneider.
Dann faß er wieder auf feinem Tifch und nähte Stich an
Stich. Unter dem Fenfter aber faßen die drei fchwarzhaarigen
Mägdlein und erzählten fleh Gefchichten pon der reichen Frau
Studer und den fürchtigen Sozi.
Eine Woche fpäter ftand Gottlob Schleicher mit dem leeren
20
fchrparzen Tuch, in dem er die Kleidungsftücke feiner Kunden
ablieferte, unter feiner Wohnungstür. Drei Stockrperke unter
ihm ging jemand durch den Hausgang. Es rpar der Polizei=
rpachtmeifter Brunner. Ein böfer Schreck fuhr dem Schneider*
meifter in die Kehle. Er räufperte fleh dreimal kläglich, dann
blieb er rpie gebannt liehen und rpartete. Zrpei Stockrperke unter
ihm bei der Frau Studer läutete man; läutete zum zweiten*
und drittenmal. Dann flieg der Wachtmeifter rpeiter.
„Jeßt rpird er drunten läuten,” dachte Schleicher.
Der Wachtmeifter flieg rpeiter und ftand por dem „marchand*
tailleur”.
„Seit rpann ift die Frau fort?” brummte es das Hännchen an.
Gottlob Schleicher knickte zufammen.
„Seit Samstag, das heißt feit Freitag oder auch Donnerstag.”
Hm“ fchnauzte der Wachtmeifter und es gelang ihm fein Pom
Steigen glänzend erhitztes Gefleht in dunkle Amtsfalten zu legen,
hm, alfo fall eine ganze Woche
alleinftehende
kann ipas pafflert fein. Muß pon Gefebesrpegen nachfehen lallen.
Hm”. Dann iParf er einen mufternden Blick auf den Schneider
und ging.
Der Schneider faß auf feinem Tifch und fah durchs Fenfter.
Der Regen fiel in Fäden auf die brauen Bäume und zerftäubte
auf dem naflen Laubenboden. Fingerhut und Scheere, Nadel
und Zrrirn lagen zipifchen den Knien des Meifters. Der dachte
und dachte und die Angfl, die herrifche, die ihm in Auge und
Mundrpinkeln hockte, ipuchs und rpuchs und rpürgte ihn und
geißelte ihn mit hundert Schauern am ganzen Leib.
Jebt kam das Gericht. 0, fle konnten ihm nichts anhaben.
Er rpar doch der ehrbare Schneidermeifter Schleicher. Ha! Aber
der Duckmäufer ipar er auch, und der, rpelcher den rechten
Namen trug. Einen Gaul hatte er fcheu gemacht aus Jux! Aber
fonit konnten fle ihm nichts porrperfen. Berpeifen ipollte er ihnen
das. beipeifen. Was
Daß
einzige im Haufe perkehrt
alleinftehenden
[aß er in ihrer
Wohnung gerpefen ipar, ipo doch fonft niemand Zutritt hatte,
daß er Gold gefehen hatte auf dem Tifch der alten reichen
Geizhälfln, daß er das alles erlebt, er der arme Plickfchneider
Schleicher. Was follte das berpeifen? Nichts berpies das, und der
21
„marchand-tailleur” faß im Zuchthaus, ireil er eine Frau umge-
bracht und beifeitegefchafft haben Tollte, und konnte nachdenken
über leine Schuld. Da half ihm kein Niggeli darüber hiniveg.
Fr hörte die Buben fötzeln und die Gäule iriehern. Beireifen,
ja beireifen! Seine arme Frau aber, und feine drei Kinder, feine
Pier Kinder, ivas füllten die beipeifen ? Daß er ein braver Hann
und ein guter Vater rpar. Was beiPies das? Fr ipar ja ein Duck-
mäufer, er trug ja den rechten Namen. Sein Vater rrürde fleh
im Grabe umdrehen und fein Großvater und fein Urgroßvater
und fie ivürden ihm erfcheinen in den langen Kerkernächten
und ivürden auf ihn zeigen: Seht da, der von unferm Blut, der
da, dem der Schneidermeifter nicht mehr genug ivar, der fleh
von einem hergelaufenen fremden Halergefellen einen fremden
Titel auffchivaben ließ. Seht ihr ihn da, fo rreit ifl es mit ihm
gekommen! Und er, ivas konnte er dagegen Vorbringen? Daß
er keinen Unterfchied mache zrvifchen arm und reich. Bah, das
rvürde ihm keiner glauben, das glaubte er ja felber nicht. Fr
flickte doch auch die Hannshofen anders als die Herrenhofen.
Fr, der Gottlob Schleicher mit den aufrührerifchen Gedanken!
Hatte er nicht fchon oft gedacht und gefagt, Sozi ivolle er iver-
den! Beipeifen? Fr konnte nichts beipeifen.
Der Schipeiß ging ihm über die Wangen und feine Hände zit=
terten. Aber fo fchnell verloren geben ivollte er fleh nicht.
Wehren ivollte er fleh. So fchnell füllten fie ihm’s nicht anmer-
ken, daß es nichts zu beipeifen gab. Lachen ivollte er. Lachen!
So . . . ganz gut ging’s! Weh tat’s! Aber es ging! So. Und
laut reden. Allerhand Zeug! Auch von der Frau Studer. Ja,
nur nichts merken lallen, ivie ivehrlos er ivar. Und fingen auch,
Warum follte er nicht fingen? Fr hatte doch früher auch ge-
lungen. In der Schule und die paar Wochen um feine Hochzeit
herum im gemilchten Chor. Was ivollte er denn jeftt fingen?
Fin luftiges Lied, ein ganz luftiges, daß fie nichts merkten, gar
nichts. Aber ivas für eins. Fs fiel ihm kein Lied ein. Das ivar
fonderbar. Vorher hatte er doch auch luftige Lieder geirußt.
So fang er halt ein ernftes. Was füllte er da fingen? Fin Vater-
ländifches Lied. Und er fang: „Bei Sempach der kleinen Stadt...”
und fang iveiter und es kümmerte ihn nicht, daß er mit der
ziveiten Strophe anhub, und allerlei Flickiverk aus den übrigen
11
Strophen herbei holte; er fang: „Wir fingen heut ein heilig
Lied.. laut und keck zuerft, dann nachdenklich und zart und
fchrecklich traurig zulebt.
Seine Frau, das Higgeli, war unter die Türe getreten und
ftierte ihn mit großen Augen an. Die drei Aelteften drückten fleh
in die Rockfalten der Hutter und kicherten und das Jüngfte lag
im Zimmerwagen und krähte. Er, Gottlob Schleicher, fah nichts,
hörte nichts und fang: „erhaltet mir Weib und Kind . . .” und
zulebt flüfterte er nur noch und es mar kein Ton höher als der
andere, keiner länger als der andere, „die eurer Hut empfohlen
find .. .” Frau Schleicher fuhr fleh mit dem Handrücken über
die Augen und ging auf ihren Hann zu:
„Gottlob, fagte fie zärtlich, bift du krank?”
Der Schneidermeifter Schleicher fah auf feine Frau und fah
auf feine Kinder und murmelte: „in kurzem bringt euch blutig
rot. .. „Gottlob, Gottlob ift dir nicht wohl?”
Da befann fich Gottlob Schleicher auf feinem Gelang und warum
er fingen wollte. Nein, auch fie füllten nichts merken, auch fie
nicht, und laut und keck wiederholte er: „in kurzem bringt
euch blutig rot.. .”
Da warf das Schluchzen Frau Higgeli auf einen Stuhl und die
drei Hägdlein mit den fchwarzen Haaren legten fich um fie und
fingen zu weinen an. Draußen fiel der Regen in grauen Fäden
in die braunen Aefte. Ein Bächlein ging pon der Lauben=
tür bis zum Tifch, auf dem Gottlob Schleicher faß, mit Augen,
in denen wie ein fchwarzes Feuer die Angft wuchs, und fang:
„ein Eidgenoß das Horgenbrot.. .” Jebt faßte Frau Higgeli
ihren Hann mit zitternden Händen an, und lehnte ihren Kopf
an den feinen.
„Gottlob, du follft fo nicht tun! Ich hab Angft und die Kleinen
haben Angft und wir wißen nicht, warum du fo bift. Gottlob
gelt.”
Da erwachte der Schneider aus feiner Verlafienheit und legte
einen Arm um feine Frau und fah auf feine drei Hägdlein und
fchwieg.
Draußen fiel der Regen. Von der Laubentür her rann ein
Bächlein zum Tifch des Heifters. Niemand fah das Rinnfal, als
die kleine Line, die fich mit ihren Füßen darin zu fpielen machte
23
und naffe Spuren durch das ganze Stübchen perfchleppte. Da
kam in Frau Higgeli wieder die Erziehungspflicht oben auf. Mit
einem energifchen Ruck (teilte fie ihre zweitältefte por die Türe.
Der böfe Zauber war gebrochen. Das Gefchrei der Line und
das Kreifchen des Jünglten läuteten den Alltagszultand wieder
ein. Der Schneidermeifter Gottlob Schleicher fuhr lieh mit einer
fcheuen Bewegung über Stirn und Hinterkopf: dann zog er eine
Armlänge Zwirn pon der Spule und nähte Stich neben Stich.
Am Nachmittag grüßte er im Hauptgang die Frau Studer mit
einem Perlegenen Seitenblick. Am Abend aber trank er im „Moh=
ren” am Tifch des Polizeiwachtmeifters Brunner einen Halben
Le^tjährigen und es machte ihm keine Gedanken, daß ihn der
Geftrenge forfchend muiterte, als er nachfüllen ließ.
Verantwortliche Herausgeber: Paul Altheer, Robert Jakob Lang und Johannes
Vincent Venner # Verlag: J. Gremminger &> Co., Winterthur
(Alle Zahlungen find an den Verlag zu richten)
Redaktionelle Zufendungen find ohne Namensnennung an die Schriftleitung
des „Pantagruel”, Zwingliplaft 1, Zürich 1, zu richten