27 UNTER DER LUPE Die russische Hungersnot. Wir veröffentlichen nachstehend Teile einer Rede, die Dr. Fritjof Nansen im Aufträge der Clar'e am 17. Februar für die Hungernden in Rußland ge halten hat. >r • • Jetzt endlich können wir die Funda mentalfrage beantworten. Wie heißt diese Fundamentalfrage? Sie heißt nicht etwa: welches ist die Ursache der Ffungersnot? Sie heißt vielmehr: braucht Rußland noch Hilfe? Wird man den Bauern, dieser un geheuren Landbevölkerung, die Möglichkeit geben, ihre Arbeit wieder aufzunehmen, sich wieder auszurüsten für die Bearbei tung des Bodens, oder wird die Hilfe nur Palliativcharakter tragen, ein provisori sches Hilfsmittel sein, das im Grunde zu nichts dient? Dieser Frage gibt es nur eine Antwort: es ist der Mühe wert, Hilfe zu schicken, und sie schnell zu schicken, nicht allein um Menschenleben zu retten, aber auch um den Geretteten weiter zu helfen und genügende Mengen zu senden, damit diese Getreidequelle Europas wieder in Stand gesetzt werden kann. Aber man hat mir folgendes gesagt: „Die Regierun gen können nicht und sind nicht berechtigt, sich um so ferne Dinge zu bekümmern, ehe. sie nicht ihr Möglichstes für die Ver besserung der Situation ihrer eigenen Län der getan haben.“ Man sagt und man wie derholt es: Europa könne sich den Luxus nicht leisten, Rußland retten zu wollen, und ich antworte, ich, mit aller meiner Kraft, daß Europa sich den Luxus nicht leisten kann, die Rettung Rußlands zu ver nachlässigen. Wir dürfen diese Getreide- kammer und diesen Markt nicht verlieren, und die Not, die es bedroht, beschränkt sich nicht auf dieses Jahr allein, sie wird sich auch auf das kommende ausdehnen. Europa darf diese beiden Monate nicht verstreichen lassen, ohne die hungernde Be völkerung zu retten und ihr die Möglich keit einer neuen Aussaat zu bieten. Wenn man dies nicht versucht, wird das Wolga gebiet bald in eine Wüste verwandelt sein. Im anderen Falle wird Rußland bald wieder ein Markt für die europäischen Produkte werden und das Wolgagebiet die reiche Kornkammer, die es vorher war. Diese Kornkammer und dieser Markt sind dem ökonomischen Leben Europas notwendig, und es ist nicht allein ein Akt der Wohl tätigkeit, sondern ein gutes Geschäft, Ruß land zu retten . .. Schon vier Monate lang fordere ich von den Regierungen, mir eine Summe von 5 Millionen Pfund Sterling zu gewähren, um die Hungersnot zu bekämpfen. Wenn wir diese Summe gehabt hätten, hätten wir so viele Menschenleben retten können! Jetzt fordere ich von den Regie rungen drei, Millionen Pfund Sterling. Das ist nicht genug, aber je mehr die ame rikanische Regierung und die Sowjetregie rung geben, umso leichter können wir auch mit dieser Summe alles Notwendige organisieren, mit Hilfe der schwachen Transportmittel, die uns zur Verfügung stehen. Doch die Völker müssen ihren Regierungen klarmachen, daß es notwendig ist, zu handeln und sofort zu handeln, sonst wird es zu spät sein. Vier Monate ist es her, als ich von dem Kampf gegen Kälte und gegen Hunger sprach. Damals glaubte ich etwas über den Hunger und über die Kälte zu wissen. Aber der Kampf ist viel schlimmer, viel schrecklicher, als ich ihn mir vorstellte. Ich erwartete gewiß dort unten Leiden und Tod zu finden, das schrecklichste Elend, das man sich überhaupt vorstellen kann. Aber das, was ich dort vorfand, das waren Dör fer, Städte, Provinzen, in denen eine bis ins Mark geschwächte Bevölkerung von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag ihren Tod erwartet. Ich hatte mich nicht darauf gefaßt gemacht, menschliche Wesen sehen zu müssen, die durch die Gewalt des Hungers in Bestien verwandelt worden sind, Männer und Frauen, die noch bis vor einigen Monaten zur großen Familie der