21 6 WIEN Die Einladung, midi über die Situation der neuen Kunst in Wien zu äußern, stellt midi mit ihrer Nötigung, einen komplizierten und widerspruchsvollen, aus den innersten Zentren der Kunst mit allem sozialen Leben unendlich verknüpften geistigen Vorgang in seinen dürftigen und zufalls= bestimmten äußeren Erscheinungen zu fassen, vor eine Verlegenheit, deren Größe und Begrün^ düng vielleicht das besondere Verhältnis Wiens zur modernen Kunstbewegung charakterisieren hilft. Denn diese Bewegung ist zweierlei: ein neuer Geist, der aus seinen unterirdischen Tiefen, in denen er wird und wächst, hie und da herauszüngelt, unsichtbar und allgegenwärtig, alles durch dringend und in keiner Äußerung ganz erfaßbar,- und ist auch die breite Fülle der Erscheinungen, die äußerliche Zeichen Zusammenhalten, mit all dem unvermeidlichen Troß wahrer und falscher Propheten, mit dem wüsten Hof der durch Suggestion Unterworfenen, mit dem Ritus und der liturgischen Sprache abgezirkelter Kirchlichkeit, die dieses neue Bekenntnis wie jedes frühere dem Glauben deutlich genug entgegensetzt. Ob Wien am Geistigen des neuen Geistes teil hat, läßt sich kaum beantworten,- denn nicht nur, daß dieser ein von den Stätten, an denen er berufsmäßig gepredigt wird, unabhängiges Leben führt, er ist weniger denn je in die verengte Fragestellung des Künstlerischen hineinzupressen, er ist ein unabtrennbares Stüde unseres ganzen Lebens und wer wollte zu messen wagen, welchen Teil daran Wien hat, mitten in einer Krise, in der wir im Werden und Vergehen die positiven Werte nicht zu scheiden vermögen. Offenbar ist Wiens Fall politisch und wirtschaftlich der tiefste und das ererbte kulturelle Kräftespiel läuft ächzend und sinnlos im geborstenen Hause,- aber ist nicht vielleicht Krankheit Fortschritt, Zersetzung Vorteil und Auflösung Beginn der Gesundung? Wer maßt sich an, geistigem Geschehen seine Wege zu weisen? Wenn aber die »neue Kunst« die Bewegung ist, deren gestottertes Schibboleth das Schlagwort der Tagesmode geworden zu sein scheint, dann bietet ihr Wien keinen günstigen Boden,- äußerlich hat die Stadt, in der Kokoschka und Schönberg zur vollen Kraft erwuchsen und Johannes Itten entscheidende Jahre des Reifens verbrachte, mit der neuen Kunst wenig zu tun. So nachteilig sich diese Haltung der Stadt den einzelnen Künstlern gegenüber erweist, so liegt ihr doch die natürliche Gesinnung zugrunde, die einer sehr tief wurzelnden und stetig entwickelten künstle^ rischen Kultur entwächst. Dieser Konservatismus macht Wiens Verhalten zu jeder Kunst zu einem passiven,- die Stadt sucht nicht nach neuen Befriedigungen starker aktiver Bedürfnisse, sie wartet, sie gibt sich hin, sie hat — im Gegensatz zu manch anderer Stadt — etwas ausgesprochen Weibliches in der Art, wie sie demjenigen, der ihren Widerstand überwindet, vorbehaltlos will fährig ist. Aber dieser stets ersehnte und erträumte Sieger kommt niemals in der abstrakten Ver^ körperung einer Kunstrichtung,- daß trotz aller tiefen Fehler und Schwächen, die der in Wien Lebende am stärksten erlebt und erkennt, Echtlötige der kulturellen Einstellung der Stadt ent hüllt sich am sichersten darin, das sie unbeirrt von Prinzipien und theoretischen Tendenzen die Künstler nach dem Maß ihrer menschlichen Persönlichkeit bewertet. Die Kunstgeschichte Wiens ist eine Kette des Personenkultes,- die Beurteilung der mehr oder weniger großen Vervollkommn nung als Maler oder Bildner tritt weit zurück hinter der — als Vergötterung oder Steinigung geäußerten — Anerkennung des vollen Persönlichkeitswertes. Oskar Kokoschka war Wien ein Gegenstand leidenschaftlicher Liebe oder harscher Verunglimpfung, Itten hat einen magischen Kreis um sich gezogen, aus dem er sich, als die Gefahr einer banalen Popularität drohte, losriß, ~ aber die »neue Kunst« als Schulbegriff und Kredo ist für Wien etwas Sinnloses und Totes,- wer zu ihr steht, wirkt einzeln und für sich durch den Radius seiner persönlichen Kraft und die — gewöhnlich von auswärtigen Künstlern — unternommenen Versuche einer mehr systematischen Organisierung verraten durch die unbehebbare Lebensunfähigkeit am deutlichsten, wie sehr der