57 l ZUM WERKE ALFRED KUBINS Als er um die Jahrhundertwende seine graphische Tätigkeit begann und seelische Not in Kunst transponierend, von quälenden Visionen sich befreite, ai beitete er als Zeichner mit nachtwand^ lerischer Unbewußtheit vor sich hin. Viele Blätter mißlangen — andere glückten — und wieder andere gelangen so über alles Erwarten, als hätte ein Dämon seine Hand geführt. Es waren stark getönte Federzeichnungen, die trotz einer zum Teil erstaunlichen Unzulänglichkeit in der Bewältigung des Formalen mehr menschliche als künstlerische Erschütterungen des jungen Kubin mit furchtbarer Eindringlichkeit sichtbar machten. Es folgte eine Periode der technischen Versuche und Entdeckungen. Farbige Blätter entstanden, auf denen in sagenhafter Landschaft urweltlidhe Geschöpfe oder völlig unbeschreibliche Gebilde ein traumhaft verzaubertes Dasein führen. Laune des Zufalls oder Materials führte zu täglich aufs neue überraschenden Resultaten. Dieses behagliche Schaffen konnte auf die Dauer nicht befriedigen. Selbstgewählte Einsamkeit auf dem Lande machte den Künstler erst zum Märtyrer und Genießer seiner Arbeit. Die Ent fernung von allen literarischen Beeinflussungen und Sensationen der Stadt verinnerlichte seine Kunst, Illustrationsaufträge zwangen zu diszipliniertem Vortrag. Die reine Federzeichnung wurde zum einzigen Ausdrucksmittel, Durch unermüdliche Arbeit wurde die spröde Technik zum gefügigen Instrument. Das Ziel wird erreicht mit letzter äußerer Freiheit jeder Seelenschwingung zu folgen. Nicht mehr sind Wahngebilde und Traumgesicht ausschließlicher Inhalt seiner Blätter. In liebgewordener, vertrauter Landschaft lebend, Tier und Pflanze verstehend, wird ihm jegliches Ding zum Träger wunderlicher Geheimnisse. Körperlich von geringer Widerstandskraft, werden die Nerven empfänglich für subtilste Reize. — Augenblicke übernatürlicher Klarheit leuchten blitzartig auf und enthüllen »die andere Seite«. Menschen und Tiere, Straßen und Häuser sind unheimlich vielsagend — es knistert von Geheimnissen in dem Fluidum, das sie umgibt. Zu den reichen Eindrücken des Lebens in der Natur gesellten sich die aus Büchern gezogenen Anregungen. Kubin wurde bald zum klassischen Illustrator aller seltsamen Literatur. Bis heute sind es mehr als 30 Bücher, die er mit einer überwältigenden Fülle von erschütternden, spukhaften oder drolligen Federzeichnungen geschmückt hat. Bücher, in denen übersinnliche Mächte Ge schehnisse und Gestalten umwehen, in denen Menschen geplagt und verängstigt dem Verderben entgegengehetzt werden. Dann aber wieder die Märchen, die an langsam verwitternden Orten spielen, die Idyllen des leisen Bröckelns und Vermoderns, und schließlich die Phantasien von den Ländern der Traumwelt, in denen noch keiner so geherrscht hat wie er. Das Buch aber, das den tiefsten Einblick in seine Welt erschließt, hat er sich selber geschrieben: »Die andere Seite«. Diese tiefsinnige Geschichte von der Stadt Perle mit dem ewigen Zwielicht, in der die Bewohner ein sinnloses Leben fristen, bis sie in Schrecken untergehn, zeigt uns Alfred Kubin als Dichter und unerschöpflichen Fabulierer, als Mystiker und Propheten. Aber die Welt, die den Jüngling entsetzte, der den Keim der Verwesung in allem Lebendigen spürte, schreckt ihn heute nicht mehr sehr. Die monumentalen Blätter, die er nun prachtvoll mit Farben tönt, sprechen wohl von ihr mit ein wenig Abscheu, viel Mitleid und grimmigem Humor. Das Wichtige liegt wo anders. Manchmal blickt man durch zerreißende Wolken in das ewige Kreisen der Gestirne und manchmal tönt es wie Musik. Rolf von Hoerschelmann.