ÜBER, FÜR UND WIDER DIE KRITIK GOETHE Um von Kunstwerken eigentlich und mit wahrem Nutzen für sich und andere zu sprechen, sollte es freilich nur in Gegenwart derselben geschehen. Alles kommt aufs Anschauen an, es kommt darauf an, daß bei dem Worte, wodurch man ein Kunstwerk zu erläutern hofft, das Bestimmteste gedacht werde, weil sonst gar nichts gedacht wird. Daher geschieht es so oft, daß derjenige, der über Kunstwerke schreibt, bloß im allgemeinen verweilt, wodurch wohl Ideen und Empfindungen erregt werden, ja allen Lesern, nur demjenigen nicht genugtun wird, der mit dem Buche in der Hand vor das Kunstwerk tritt. <Einleitung in die »Propyläen« 1797.) Ein echtes Kunstwerk bleibt, wie ein Naturwerk, für unsern Verstand immer unendlich/ es wird ange schaut, empfunden,- es wirkt, es kann aber nicht eigentlich erkannt, viel weniger sein Wesen, sein Verdienst mit Worten ausgesprochen werden. Wenn man von einem trefflichen Kunstwerk sprechen will, so ist es fast nötig, von der ganzen Kunst zu reden, denn enthält sie ganz, und jeder kann, soviel in seinen Kräften steht, auch das Allgemeine aus einem besonderen Fall entwickeln. <Über Laokoon, 1797.) FLAUBERT »Sie sprechen in Ihrem letzten Brief von der Kritik und sagen, daß sie demnächst erlöschen wird. Ich glaube im Gegenteil, daß sie höchstens im Erwachen ist. Man tut das Gegenteil von dem, was die frühere getan hat, aber nicht mehr. Zur Zeit La Harpes war man Grammatiker, zur Zeit Sainte-Beuves und Taines ist man Historiker. Wann wird man Künstler sein, nur Künstler, aber wirklich Künstler? Wo kennen Sie eine Kritik, die sich mit dem Werk an sich beschäftigt, in intensiver Art? Man analysiert sehr scharfsinnig das Milieu, in dem es entstanden ist und die Ursachen, die es herbeigeführt haben/ aber die unbewußte Dichtung? Woraus sie entspringt? Ihre Komposition, ihr Stil, den Standpunkt des Schöpfers? Nirgends! Für diese Kritik wäre eine starke Phantasie und eine große Güte erforderlich, ich meine eine stets bereite Begeisterungsfähigkeit, und außerdem Geschmack, eine seltene Eigenschaft selbst in den Besten, so selten, daß man überhaupt nicht mehr davon spricht. Was mich täglich empört, ist, mitanzusehen, wie ein Meisterwerk und eine Scheußlichkeit auf eine Stufe gestellt werden. Man regt die Kleinen auf und erniedrigt die Großen, nichts ist dummer und unmoralischer.« <Aus einem Briefe vom 9. Februar 1869 an G. Sand.) HENRI ROUSSEAU »Ai'e, aie, aie que j'ai mal aux dents«, pflegte Henri Rousseau auszurufen, wenn man auf die Kunst schriftstellerei zu sprechen kam. 125