: t 126 OSKAR WILDE Schöpferische Kritik. w Für den Kritiker ist das Kunstwerk nur der Ausgangspunkt für ein neues, eigenes Werk, das nicht not endig irgendeine sichtbare Ähnlichkeit mit dem besprochenen Werk zu haben braucht. DERSELBE. FINGERZEIGE: Gilbert: Aber ist denn die Kritik keine Kunst? Und noch mehr? Wie das künstlerische Schaffen die Tätig* keit der kritischen Geister voraussetzt und ohne sie, kann man sagen, gar nicht vorhanden wäre, so ist wirklich die Kritik schöpferisch im höchsten Sinne des Wortes. Ja, die Kritik ist sowohl schöpferisch wie unabhängig. Ernst: Unabhängig? Gilbert: Ja, unabhängig. Man darf die Kritik ebensowenig an dem niederen Maßstab der Nachahmung oder der Ähnlichkeit messen, wie das Werk des Dichters oder Bildners. Der Kritiker steht dem Kunstwerk so gegenüber, wie der Künstler der sichtbaren Welt der Form und der Farbe, oder der unsichtbaren Welt der Leidenschaften und des Gedankens. Er braucht nicht einmal den feinsten Stoff, um zur Vollkommenheit zu kommen. Alles dient seinem Zwecke. Flaubert machte aus den unreinen oder sentimentalen Liebes* geschickten der albernen Frau eines kleinen Landarztes im schmutzigen Dorfe Jouville*L'Abbaye bei Rouen ein klassisches Buch und ein Meisterwerk des Stiles/ und ebenso kann ein wirklicher Kritiker aus den wert* losesten Stoffen — zum Beispiel von Bildern der letzten Akademie=Ausstellung, den Gedichten von Morris, den Romanen Ohnets — sobald es ihm einfällt, seinen Blick darauf zu verwenden — ein Werk schaffen, das in Schönheit und sicherem Takt glänzend ist. Warum nicht? Langweile lockt unwiderstehlich, selbst zu glänzen, und der Stumpfsinn bleibt ewig die Bestia triumphans, die die Weisheit aus ihrer Hölle lockt. Was ist der Stoffeinem so schöpferischen Künstler wie dem Kritiker? Nicht mehr und nicht weniger als dem Dichter und dem Maler. Wie sie, findet er seine Anregungen überall. Wie man etwas behandelt, darauf kommt es an. Es gibt nichts, was nicht Anregung und Keime enthielte. ALFRED KERR Produktive Kritik ist solche, die ein Kunstwerk in der Kritik schafft. Wert hat, wie ich glaube, nur Kritik, die in sich ein Kunstwerk gibt,- so daß sie noch auf Menschen wirken kann, wenn ihre Inhalte falsch geworden sind oder der besprochene verschimmelt ist. Die Kritik, die als eine Dichtungsart anzusehen ist. Der künftige Kritiker wird im allgemeinen daran festhalten, daß Systeme Schwindelbauten sind,- daß aber langen Bestand hat, was in sich gut gesagt, ist. MAC NEILL WHISTLER: KUNSTSCHRIFTSTELLER UND KUNSTGELEHRTE Seit einiger Zeit ist der Schriftsteller, obgleich er der Sache völlig fern steht, der Vermittler in Kunstange* legenheiten geworden, und sein Einfluß, der die Kluft zwischen Künstler und Publikum noch erweitert hat, bewirkt auch das grenzenlose Mißverstehen der Kunstziele. Für ihn ist ein Bild eigentlich nur eine Hieroglyphe oder das Symbol einer Anekdote. Von ein paar tech* nischen Ausdrücken abgesehen, für deren Anwendung er gern eine Gelegenheit findet, betrachtet er das Werk nur vom literarischen Standpunkt aus,- und schließlich, von welchem anderen kann er es auch sonst be* trachten? In seinen Essais behandelt er es als Novelle, Geschichte oder Anekdote. Es bleibt ihm natürlich vollkommen versagt, die künstlerischen Vorzüge oder Mängel zu sehen und somit degradiert er die Kunst, indem er nichts anderes in ihr sieht als ein Mittel, literarische Steigerungen hervorzubringen. Unter seinen Händen wird die Kunst lediglich zum dienenden Werkzeug und ihre eigentliche Mission ist nebensächlich, weil eben das Werkzeug sich den Zwecken unterordnen muß. In seinen Ausführungen legt er den Nachdruck unfehlbar nur auf das Sujet, und erhebt sich zu mehr oder weniger edler Begeisterung, je nach seiner Beredsamkeit oder seinen geistigen Qualitäten, während er mit Verachtung auf den Teil des Kunstwerks blickt, den er »bloß die Ausführung« nennt, und den er als Resultat des Studiums oder als Folge des Fleißes ansieht. So daß er schließlich, je weiter in seiner Übersetzung von der Leinwand auf Papier fortschreitet, das Werk zu seinem eigenen macht. Er findet Poesie dort, wo er sie