' I 136 Kandinsky, Aquarell 1915/16 enthüllt sich die bahnbrechende Bedeutung Kan* dinskys für unsere Zeit. Die Bücher, die der »Sturm« ihm gewidmet hat, die neue von Hugo Zehder geschriebene Monographie,*) die tempe ramentvoll und überzeugend für den lange Ver* höhnten wirbt, darf nicht darüber hinweg* täuschen, daß dieser große Künstler im allge* meinen noch längst nicht in seiner vollen Be* deutung erkannt und gewürdigt wird. Und doch hat kein Künstler vor ihm die unerhörten Mög* lichkeiten der Farbe sicherer erkannt, mit feineren Nerven gefühlt, großartiger ausgenützt und ihre musikalische Symbolik tiefer empfunden als er. Seine Bilder bedürfen nicht des optisch natur* haften Gleichnisses, sie sind so reich und aus* drucksvoll in der Sprache, so berauschend in ihrer Folyphonie, daß sie uns auf Augenblicke das chao* tische Geschehen um uns her vergessen lassen. Während Kandinsky das Jenseitige im »Er* scheinungslosen« und Unwirklichen, gleichsam nur in der Gelöstheit des Musikalischen zu er* leben vermag, gestaltet Chagall, sein großer Gegenspieler, die Mystik der Wirklichkeit. Tief im mütterlichen Boden Rußlands wurzelnd und Von seinem fanatischen Judentum getrieben schon hier auf Erden den Fingerzeigen der Ewigkeit nachzuspüren, gibt er die diesseitige Welt nicht auf, schließt nicht die Augen vor der Realität, sondern zeigt gerade mitten in der All* *> Verlag von Rudolph Kämmerer, Dresden. täglichkeit das Spukhafte, Dämonische, Jenseitige jeglicher Existenz. Im Banalen, Schmutzigen, im Allzu*Irdischen reißt er Schollen auf, aus denen plötzlich blutige Diablerien hervorbrechen. In der grellen Intensität seiner Farben glühen alle Rasereien, da schwelt Wollust, da flackert schwüle Verzückung, da zuckt Grausamkeit im Aufschrei gellenden Rots, da phosphoresziert Verwesung und Ekel, aber da blaut auch tiefes Mitleiden und demutsvolles Lieben zu der ge* quälten Kreatur. Tierhaftes und Göttliches, Verworfenes und Erhabenes, Sinnliches und Übersinnliches sind rätselvoll ineinanderver* strickt, so daß niemand die Grenze zwischen Diesseits und Jenseits aufzeigen kann. Solcher* art wachsen seine Gestalten ins Grenzenlose hinein. Seine Bilder, seine Aquarelle, von denen wir in der Ausstellung eine große Anzahl be* wundern dürfen, wirken im ersten Augenblick toll und exzentrisch, aber plötzlich kommt in sie der schwermütige dumpfe Klang der Volkslieder, der tiefe Sinn uralter Legenden, die aus Lust und Qual ganzer Völker, aus dem geheimnisvollen Blutlauf der Menschheit emporblühen. Nur dies eine Beispiel: nur dieser alte graue, in sich versunkene Geiger, scheinbar naturalistisch, ganz einfach mit dem Pinsel auf vergängliches Papier ge zaubert — und doch ein mythisches Wesen, wie von Jahrtausenden her das uralte Lied spie* lend, nach dem die kleinen verirrten Menschen