235 5 B: Er ist es. Die Kunst, eine Komponente der Geistigkeit, mordet sidi selbst, wenn sie ihrem natürlichen Gegner sich verschreibt: dem Materialismus. Und das geschieht — es geschieht seit fünfzig Jahren — geschieht heute noch — trotz aller Selbsterkenntnisse der Künstler und trotz aller Entrinnungsversuche jüngerer Generationen. Der Pakt wurde geschlossen. Er ist bis heute nicht zerrissen. A: Ich erkenne das Gegenteil. Ich sehe Poeten, die ihrer Zeit den Krieg erklären. Wann ist dies mit größerer Inbrunst geschehen? Und wann mit größerer Entschiedenheit? Sagen Sie selbst: die Materie ist geflohn, der Geist gesucht. B: Sie sagen: gesucht. Aber Dante hat ihn nicht gesucht. Cervantes nicht. Goethe nicht.Wohl: sie suchten ihn zu erkennen. Aber sie hatten ihn. Sie hatten Plato. Ihr Werk war wesentlich, weil das Wesentliche ihre Welt war, weil das Element, weil die Idee hinter der Natur, weil das Ding an sich ihre Welt war und weil sie mit Selbstverständlichkeit wußten, daß gerade jene Realität, in der wir leben, das eigentlich Unreale, das Unwesentliche ist. Was wir von den Begebenheiten sehen, hören, riechen, fühlen ist nur Maske, bestenfalls Gewand des zuletzt Realen, das Geheimnis bleibt. Jene waren im Geheimnis, sie deuteten es: sie waren religiös. — Dann begann der Verfall. A: Ich unterbreche Sie abermals. Wir sprachen von Österreich. Was hat dies alles mit der österreichischen Dichtung zu tun? B: Sie werden sofort begreifen. Als Goethe und Hölderlin lebten, — und in Abstand davon Schiller und Kleist, oder anders gesagt: als die deutsche Kunst wesentlich war, — da spielte die österreichische Kunst keine Rolle: sie hatte keinen Repräsentanten von Gewicht. Wie wäre es auch möglich gewesen? Der Österreicher, von Natur aus mit den Sinnen allein begabt und niemals dem Hinterweltlichen nachforschend, — er verstummt, wenn es gilt, ein Letztes, Tiefstes, Geistigstes auszusprechen. Während Weimar um Gott und Hölle ringt, beglückt sich Wien mit seinem Castelli, der in Kalauern und Obszönität stark ist. Aber schon ändert das Bild sich. Die sogenannte Realität rückt in den Kreis der Darstellung. Jetzt erwacht der Österreicher. Was er wahrnimmt, daran glaubt er. Er wird potent, weil er mit Augen, Ohren und Gaumen arbeiten kann. Der Realismus ist da — es sind Stifter und Nestroy da. A: Was Sie ausführen, würde mich überzeugen, wenn nicht gerade die Gegenwart es wider legte. Ich denke an Hofmannsthal, an Rilke, an viele der Jüngsten. Niemand hat intensiver aus dem Realismus fortgeführt. Bedenken Sie: während allseits noch blosse Wiedergabe des Erlebten herrschte, — war mit Hofmannsthal plötzlich die Losung zum Abfall gegeben. Er überwand mehr als den Alltag. Er überwand die sogenannte Wirklichkeit vollends. Sie löst sich auf B: Sie irren. Und richtig ist das Gegenteil. Der Stoff —■: nein, glauben Sie mir, er wechselt nicht. Er wird nur nüanciert. Anstatt Wirklichkeit der Umwelt, tritt Wirklichkeit der Innenwelt. Die Psychologie wird Domäne. Wie man ein Jahrzehnt früher Fabriken oder Elendshäuser abgeschrieben hat, —’ so schreibt man jetzt das eigene Innenleben ab. Man treibt den Naturalismus auf die Spitze: jetzt wird das Geheimnisvollste enthüllt. Jetzt liegt alles in ehrfurchtsloser Nacktheit. Anstatt der Kunst tritt Anatomie der Seele an den Platz, —- und darüber können weder prunkende Verse noch Überschuß an Bildern hinwegtäuschen. Nichts mehr interessiert den Poeten außerhalb dieses kleinen Menschen^Ichs, außerhalb dieser Beziehungen von Mensch zu Mensch, — oh noch schlimmer: von Mann zu Weib. Die Neu-Romantik der Wiener Schule ist nichts anderes als: Naturalismus der Psychologie. Er wird zum Raffinement, weil die Form tönend wird und verkleidet. Und wenn Arthur Schnitzler die Aufzeichnungen allein auf den Geschlechtsakt beschränkt, so ist das Ende gegeben. A: Nun verstehe ich Sie endlich. Sie meinen: jetzt beginnt der österreichische Dichter den Sieges lauf über eine Welt, die entgöttert ist und die den Entgöttertsten am heißesten begrüßt. Einst stieg