253 ENGLAND Kurzer Überblick der modernen Kunstbe wegung Es ist eine seltsame Erscheinung, daß, während auf dem europäischen Festland die Menschheit in den Kunstbestrebungen Trost und Erholung von den Wunden und Nachleiden des Weltkrieges sucht, ge* rade in England in dieser Beziehung Ernüchterung und Erschlaffung eingetreten ist. Der Rückschlag ist um so bedauerlicher als die beiden letzten Kriegsjahre zu einem beispiellosen Aufschwung in Kunstproduk* tion und Kunstgönnerschutz führten. Zum ersten Male übernahm der Staat die Förderung der bilden* den Künste, wenngleich die Beweggründe eher poli* tischer als ästhetischer Natur waren. Dies an sich selbst war überraschend genug. Geradezu verblüffend aber war die von der Regierung eingeschlagene Rieh* tung der Protektion expressionistischer Kunst. Nichts kann für den Siegeswillen, für die feste Überzeugung des endgültigen Erfolges bezeichnender sein, als die Entscheidung des Propagandamini steriums (Ministry of Information), während der finsterst drohenden Periode des Krieges, inmitten der beunruhigendsten Nachrichten vom Kriegsschau* platze, eine kleine Armee von Künstlern zu orga* nisieren um an Ort und Stelle — in Frankreich und Flandern, in Gallipoli und Italien, in Palästina und Mesopotamien, zu Land und zur See und in den Lüften — mit Stift und Pinsel und Meißel eine dau* ernde Chronik des welterschütternden Kampfes nieder* zuschreiben. Und zwar waren es nicht die alten Aka* demiker und Professoren, denen die Aufgabe anver* traut wurde, sondern die lebenskräftigen und Schaffens* freudigen jungen Kämpfer aus den Schützengräben, die, dem Aufruf zu den Waffen folgend, das wahre Wesen des Krieges aus eigener Erfahrung kennen gelernt hatten. Ein vom Propagandaministerium er* nannter Ausschuß verläßlicher Kritiker und Kunst* kenner, bei dem allen Präcedenzien zum Trotze weder die Royal Academy, noch irgendeine andere »offi* zielle« Künstlergenossenschaft vertreten war, entwarf die Liste der geeignetsten Künstler, und das Kriegs* ministeriiyn stellte dem Ansuchen der zeitweiligen Entlassung der betreffenden Soldaten und Offiziere aus dem Kriegszwang keine Schwierigkeiten entgegen. Kanada hatte schon vorher einen ähnlichen Plan be* folgt, der in einem Museum von über sechzig Monu* mentalgemälden erstklassiger Künstler meistens mo» derner Richtung und von etwa 900 kleineren Werken zur Ausführung kam. Die von der englischen Regie* rung beschäftigten Künstler zählten nach Hunderten — ihre Werke nach Tausenden. So wurde nicht nur eine bis ins kleinste Detail vollständige bildliche Chronik des englischen Kriegsanteils geschaffen, son* dem auch die Blüte und Hoffnung der künstlerischen Jugend Englands der Gefahr von Tod, Erblindung und Verstümmelung entzogen. Obgleich nicht gänzlich ausgeschlossen, wurden doch die Anhänger der akademischen Richtung und die traditionellen graphischen Berichterstatter ziemlich hintangesetzt. Dagegen wurden die erlebnislustigen Sucher nach neuen Ausdrucksmitteln zu den ehren* haftesten Aufgaben herangezogen. Die großen De* korationsgemälde, zum Schmucke der Hauptsäle des erst zu erbauenden Kriegsmuseums bestimmt, wurden fast ausnahmslos den jungen englischen Expressio* nisten, Vorticisten, Kubisten und Futuristen anver* traut. Zum ersten Male fand auf diese Weise die Neue Kunst großzügige offizielle Anerkennung und Unterstützung. Allerdings nicht ohne Protest und