301 Aktive und passive Religiosität in Indien und China Von Dr. OTFRIED EBERZ Rein etymologisch bedeutet Mystik die Kunst, einen andern oder sich selbst in den som nambulen Zustand zu versetzen. In diesem künstlichen Schlafe erlischt das empirisch-indi^ viduelle Bewußtsein,- und wie verschieden auch die Mystiker von ihren relativen geistigen Voraus setzungen aus ihren Zustand mythologisch^konkret oder metaphysisch-abstrakt als Hinswerden mit Gott oder als Identität des Subjekts und Objekts formulieren mögen, alle erblicken in dem »Entwerden« die wahre Bestimmung des Menschen und die höchste ihm erreichbare Glückseligkeit. Im Osten wie im Westen stellten sie diese passive Versenkung als das innerliche Gebet und die innerliche Religion dem aktiven voluntaristischen Gebete der positiven Religionsgemeinschaften entgegen. Aber als Verneinung der aktiven Religion des Staates negiert die Mystik bewußt oder unbewußt diesen selbst zugleich mit seiner geistigen Grundlage,- und umgekehrt liegt in ihr der Anspruch, mit dem neuen Gebet die Grundlage einer höheren, nicht mehr wollenden, also nicht mehr staatlichen, sondern ideaLanarchistischen Gesellschaft zu bilden. Natürlich haben sich in den religiös=politischen Gesellschaften des Ostens und Westens diese Gegensätze immer wieder syn= thetisdi zu vereinigen gesucht,- die mystische Opposition erkannte die aktive Religion als Vorstufe an und die Hierarchie utilisierte den mystischen Somnambulismus für die praktischen Bedürfnisse des Gesellschaftslebens. Soziologisch aber ist diese Synthese der Ausdruck für die Verschmelzung oder Assimilation der beiden anthropologischen Schichten, aus denen jede Gesellschaft besteht: der aktiven Herrenrasse, der Trägerin des Staates und seiner positiven Religion, welche dem sozialpolitischen Naturgesetze gemäß die ungleichen Rechte der Individuen, Stände, Nationen und Rassen sanktioniert, und der passiven Unterschicht, deren mystische Religiosität das Selbst bewußtsein der geistlichen und weltlichen Aristokratien zum quietistischen Selbstmord im somnam bulen Schlafe zu verführen sich bemüht. In Asien hat diese quietistische Mystik ihr chiliastisches Ideal am naivsten ausgesprochen. Hier fordert die apokalyptische Utopie der niederen passiven Rassen die Rückkehr zu dem digestiv^contemplativen Vegetieren ihres Urzustandes, aus dem sie einst die erobernden Herrenrassen, sie zur Arbeit zwingend, gerissen hatten. I. In den Köpfen unserer Gebildeten spukt immer noch das OperettenUndien der Romantik. Die einseitige Betrachtung der aus dem Zusammenhang mit dem konkreten Leben gerissenen religiösen Literatur hat das ganze indische Volk zu einer von dem Rest der Menschheit verschiedenen Gattung träumender Lotosblumen gemacht. Vielen wird es eine Überraschung sein zu hören, daß die Intensität des ökonomischen, sozialen und politischen Lebens in den Dutzenden von Klein staaten zwischen dem Indus und der Gangesmündung mit derjenigen der gleichzeitigen griechi^ sehen Stadtstaaten verglichen werden muß. Noch waren die Stände nicht zu Kasten erstarrt, sondern mehr oder weniger geschlossene Berufsgenossenschaften, welche das Königtum miteinander zur Einheit des Staates verknüpfte. Tendenziöser Antiklerikalismus hat die Rolle des Priester standes im Leben der indischen Staaten maßlos übertrieben, indem er sich auf Stellen berief, die niir die diktatorische Aspiration der Brahmanen, aber nicht ihre reale Machtstellung ausdrücken. In Wirklichkeit war der Priesterstand der indischen Stämme, wie der aller antiken Völker, der Erzieher zum religiös-politischen nationalen Imperialismus und der Hüter seiner Überlieferungen Brahma oder später der Eine Gott in den drei Gestalten des trimurti war nicht nur der Weltgott, sondern zugleich der allen Stämmen gemeinsame Nationalgott, der durch das auserwählte indische Volk seine Herrschaft über die Erde ausbreiten wollte. Sein Priesterstand lehrte das von ihm