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wie willenlose Marionetten tanzen, zwischen
Geburt und Tod — der gewaltigste Gestalter
unserer Zeit, groß genug um dem andern rus
sischen Riesen an die Seite gestellt zu werden:
Dostojewsky —■.
Zwischen den beiden großen Malern der größte
Plastiker des Ostens: Archipenko. Seine »Frau
mit Katze«, zusammengepreßt, ganz in die
Würfelform des Blockes geduckt, ist trotz aller
Einfachheit von lebendigem Rhythmus bewegt,
von warmer Sinnlichkeit durchstrahlt. Der
»Heros«, in eigenwilliger Geste aufgereckt und
zurückgebogen, asketisch in der Modellierung
seiner kristallischen Formen, ist Ausdruck,
der ganz und gar zu künstlerischer Ordnung
versteinerte. Zahlreiche schöne Zeichnungen des
Bildhauers — meist mit Rötel oder weichen
Kreiden auf farbiges Papier geworfen, schälen
aus der Mannigfaltigkeit der sinnlichen Erschei
nung die Drehpunkte und Gelenke des Funk*
tionalen heraus, zeigen in rhythmischen Steno*
grammen — nicht unähnlich dem theoretischen
Liniensystem, mit dem der Ingenieur das kom*
plizierte Spiel entgegengesetzter Kräfte in gra*
phischer Abstraktion zu entwirren sucht — die
klare Gesetzlichkeit des Dynamischen, deuten
in einfachster Formel die weise Mechanik alles
Lebendigen.
Weniger konsequent und unerbittlich, weicher
und biegsamer als die herrischen Fanatiker Kan*
dinsky, Chagall und Archipenko ist Alexey
von Jawlensky, dessen Schaffen einige Monate
zuvor in einer Ausstellung der Kestner*Gesell*
schaft vorgeführt wurde. Kein Kämpfer und
Umstürzler wie die drei andern, kein Riese, der
in vulkanischer Unerschöpflichkeit immer neue
Visionen aus sich herausschleudert, vielmehr
ein Träumer und Dichter, ein stiller Gottsucher,
den ein und dasselbe Motiv, ein Blick aus dem
Fenster, immer von neuem zu farbenschönen
Variationen begeistern kann.
Und nun die zahlreichen jungen, fast noch
unbekannten Maler, die das Bild dieser auf*
schlußreichen Ausstellung vervollständigen. Adja
Junker hat einen eigenen Stil noch nirgends ge*
funden. Vor kurzer Zeit noch ganz und gar im
Banne Kandinskys, versucht er es heute in der
Gefolgschaft Chagalls. Franz Radziwill — in
den Bildern noch sehr ungleichmäßig und dem
Maler von Witebsk oft allzu nahe auf den
Fersen — gibt in seinen Aquarellen da und dort
Proben einer jungen Begabung, die nur Zeit
und Ruhe braucht, um bald zu selbständiger
Bedeutung zu gelangen. Golyscheff, zu unge*
zügelt, um zu eigentlicher Gestaltung vorzu*
dringen, entwickelt in seinen Aquarellen ein Far*
bengefühl von ungewöhnlicher Feinheit, so daß
man hoffen muß, aus diesem schönen Material
werde bei Selbstzucht und Wille zur Organisation
eines Tages ein gerundetes Werk erstehen. Lasar
Segall, dessen Figurenbilder mir vor etwa zwei
Jahren noch allzu gewollt und gewalttätig und
nicht aus jener Notwendigkeit heraus gewachsen
schienen, die allein erst das Kriterium des Kunst*
Werkes ausmacht, ist zu einem Maler von Be*
deutung herangereift. Ganz selbständig schafft
er aus einer gedämpften Palette, häufig aus dem
Zweiklang violett und gelb, Kompositionen von
eindringlicher Größe. In der »Schwangeren«,
seinem besten Bilde auf dieser Ausstellung,
Mann und Frau in heiligem Schweigen bei*
einander, als lauschten sie dem leisen Pochen des
neuen kleinen Lebens, das aus den geheimnisvol*
len Tiefen mütterlichen Blutes herauf zum Lichte
strebt, der großen, seltsamen Blume vergleichbar,
die der Künstler zwischen dem Menschenpaar em*
porwachsen läßt. Geburt und Tod, diese beiden
Mysterien, hat die russische Kunst immer wieder
und immer auf neue Art zu gestalten versucht.
Diese große russische Kunst, fanatisch, ex*
zessiv, maßlos, ist nicht ohne Tradition. Man
darf nur nicht an das 18. und 19. Jahrhundert
denken, denn Peter der Große hatte dem echten
Russentum mit seinen westlichen Ambitionen
einen so schweren Schlag versetzt, daß es lange
Zeit fast ganz von Westlichkeiten verschüttet
war. Daß sein großes Denkmal von einem
Franzosen geschaffen wurde, ist nicht ohne sym*
bolischen Sinn. Westliche Einflüsse aller Art
durchziehen das ganze 19. Jahrhundert, und
Künstler wie Weretschagin und Somoff sind
französische Maler, die zufällig in Rußland ge*
boren wurden. Sie sind mit Recht in dieser
Ausstellung russischer Kunst gar nicht