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ÖSTERREICHISCHE ERZÄHLER
Den besten Beweis für die Beliebtheit und Gelesenheit
moderner österreichischer Erzähler geben die Auflage»
Ziffern, die von den Publikationen eines durchaus austro»
phil orientierten Leipziger Verlages erreicht wurden. Nun
wird in Wien von dem neugegründeten Rikola»Verlag
der nationalökonomisch durchaus gerechtfertigte Versuch
unternommen, die heimische Literaturproduktion im Ent»
stehungslande selbst auszuwerten. Eine geschlossene
Phalanx erprobter und erfolgsicherer Wiener Autoren
marschiert im Zeichen des Rikola» Verlages auf das deutsche
Lesepublikum los. Hauptsächlich sind Vertreter der jungen
Generation aufgeboten, aber mit Ausschluß aller radikalen
Elemente <von deren subalterner Existenz einige nicht
sehr erfreuliche Veröffentlichungen des Wiener Verlages
E. Strache Zeugnis ablegen). Es ergibt sich, daß die
»Wiener Jugend« mit ebensoviel Geschieh, wenn auch mit
geringerer Begabung als die Schnitzler, Ginskey, Bartsch
usw., um eine Augmentierung der Unterhaltungsliteratur
bemüht ist. Nun muß aber gesagt werden, daß die Wiener
Unterhaltungsliteratur seit Schnitzler qualitativ höher zu
bewerten ist, als die reichsdeutsche Konkurrenzproduktion.
In Wien gedeihen jene ohne Geschmacklosigkeiten und
Übertreibungen unterhaltsamen Erzähler, die hinreichend
gesellschaftlichen Takt besitzen, um mit Maß nachdenklich
und gefühlvoll Problemchen einer meist erotischen Psycho»
logie in eine spannungsreiche Handlung zu kleiden. Vom
Kampf und Krampf des jungen Deutschland ist da so gut
wie nichts zu spüren. Aber überlassen wir diese Literatur
jenen, an die sie sich wendet: den Damen und Herren der
neudeutschen Bourgoisie, die Wien, dieser traditions»
reichsten, aber abgelebtesten Großstadt Europas, die Rolle
eines arbiter artium elegantiarum zusprechen.
Nun finden sich in der Reihe der Unterhaltungsromane
des Rikola »Verlages zwei Werke, denen man Unrecht
täte, wollte man sie mit dem Maß der Soykas und Hohl»
baums abschätzen. Das eine — Die Geburt des
Antichrist — ist eine abenteuer» und gestaltenreiche
Erzählung von Leo Perutz: ein in Palermo friedlich
dahinlebender Schuster ehelicht die Magd eines Pfarrers und
erhält von dieser einen Sohn. Bald nach derGeburt desselben
hat der Schuster einen seltsamen Traum, der ihn aufs tiefste
beunruhigt. Ein bibelkundiger Bauer weiß ihn als Traum
vom Antichrist zu deuten. Aus einer Weissagung des
dem Schuster im Traume erschienenen Presbyter Johannes
erfährt der Vater, daß der Antichrist am heiligen Weih»
nachtsabend als Sohn eines entsprungenen Mörders und
einer entlaufenen Nonne geboren werden würde. Am
Weihnachtsabend wurde dem Schuster der Knabe geboren,
er — der Vater — ist ein der Galeere entsprungener
Mörder, sie — die Mutter — hat ihrem Gatten seinerzeit
gebeichtet, daß sie dem Kloster entlaufen ist. So weiß nun
der Schuster, daß sein Sohn der Antichrist ist, den zu töten
ihn sein Glaubenseifer gebietet. Aber die Mutter stellt
sich schützend vor ihr Kind, und als sie sich keinen andern
Ausweg mehr weiß, schreckt sie auch nicht zurück, ihren
Gatten den Häschern preiszugeben. Dem Schuster gelingt
es, dem Gefängnis zu entkommen, und sobald er wieder
frei ist, nimmt er die Suche nach Mutter und Kind auf.
Da ereilt ihn sein Schicksal: Einlaß suchend in die Kammer,
wo sein Sohn liegt, gerät er in Streit mit einem, der ihn
aufhalten will, und die Kugel eines Flurschützen streckt
ihn nieder. In der Leiche erkennt die heimkehrende Mutter
ihren Gatten,- Reue erfaßt sie und Widerwillen gegen den
Knaben, dem sie die Schuld am Tode des Mannes zu»
schreibt. Sie kehrt zurück ins Kloster und überläßt den
Knaben der Pflege fremder Menschen. Dieser wächst
heran, wird klug und schön.
Am Schluß der Erzählung erfahren wir, daß er an den
Vorsteher des Priesterseminars in Palermo ein Schreiben
mit der Bitte, sich ganz dem Dienste der heiligen Kirche
zu widmen, gerichtet hat. Unterzeichnet ist dieser Brief
mit dem Namen: Josef Cagliostro. Es ist von einer sehr
feinen Ironie, wenn Perutz einen Abbate zu dem Knaben
sagen läßt: »Ich sehe dein Leben von nun an still und
friedlich verlaufen und du wirst das wahre Glück finden,
indem du deine Gemeinde auf den Weg des Guten führst,
ein Pastor animae, ein Hirt der Seelen, auf daß sie erkennen
die Wohltaten Gottes, der da thronet und regiert in Ewig»
keit. Amen.«
Das natürliche Erzählertalent des Leo Perutz, dem wir
so fesselnde Romane wie »Die dritte Kugel« und den
»Marquis von Bolibar« verdanken, bewährt sich auch dies»
mal in glänzender Weise. Perutz besitzt die Fähigkeit,
Menschen und Kulturen entlegener Epochen zu blutvollem
Leben zu erwecken, ohne die Krücken des Historikers zu
gebrauchen, nur seiner dichterischen Intuition vertrauend.
Ein Callot oder ein Salvator Rosa wäre der beste Illu
strator des Büchleins gewesen,- Axel Leskoschek,
der die Erzählung mit Zeichnungen begleitet, ist dem
Dichter leider nicht kongenial.
Das zweite Werk, das wir von der übrigen Belletristik
des Rikola »Verlages absondern wollen, sind »Die Taten
des Herakles« von Felix Braun, ein dickleibiger,
etwas langatmiger historischer Roman, der im ersten nach
christlichen Jahrhundert spielt und von den Schicksalen
eines sich endlich zum Christentum bekehrenden Römer
jünglings erzählt. Der weltgeschichtliche Hintergrund ist
viel bedeutsamer als die Personen, die vor ihm spielen.
Zart empfundene Schilderungen von Naturstimmungen
und Landschaften nehmen einen breiten Raum ein und
beweisen, daß Braun ein Lyriker, aber kein Romancier ist.