184 Erst war sie mit dem Zitherkasten gegangen, all abendlieh. Dann hatte sie das Violinspielen gelernt. Bleichsüchtig und hager, von einer rührenden Gott seligkeit war sie. Sie säen nicht, sie ernten nicht, und doch ernähret sie der Herr. Manch einer hatte sie mitgenommen aus Mitleid und ihr ein warmes Nachtlager gegeben, wenn sie noch spät hach der Polizeistunde auf der Strasse irrte. Engbrüstig und schmal war sie von Gestalt, ein Lehrerinnentyp. Einen Kneifer trug sie und strich mit dem Fiedel bogen so ausdruckslos freundlich und doch akkurat und energisch ihr Instrument, dass man ihr wirklich nicht böse sein konnte. „Soll ich mal was spielen?“ fragte sie harmlos. „Ja, fiedel mal los!“ sagte Raffaela. Aber die Geigen-Marie genierte sich. „Draussen in der Küche,“ sagte sie forsch. Und sie ging hinaus in die Küche, öffnete den Schalter, damit man auch drinnen etwas hören könne, und dann spielte sie los. ,Stille Nacht, heilige Nacht*, oder ,Behüt’ dich Gott, es wär’ so schön gewesen*, oder ,Die Rasenbank am Elterngrab*. Kam dann wieder herein und lächelte jeden einzeln der Reihe hach an, als wolle sie fragen: „Na, wie war’s? Schön, nicht wahr?** Aber Lydia meinte: „Komm’ mal her! Was hast du denn da für ein Fähnchen?** und zog ihr ein kleines Metallfähnchen aus dem Brustlatz. Lydia war neugierig wie ein Tier; beschnupperte sie, federte sie ab.