<p>HUGO BALL<br />Flametti<br />ODER VOM DANDYSMUS<br />DER ARMEN<br /><br />ROMAN<br /><br /><br />ERICH REISS VERLAG<br />BERLIN W62</p>
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<p>Flametti</p>
Alle Rechte Vorbehalten<br/>
HUGO BALL<br/><br/>FLAMETTI<br/><br/>oder<br/><br/>VOM DANDYSMUS DER ARMEN<br/><br/>Roman<br/><br/>19 18<br/><br/>Erich Reiss Verlag, Berlin<br/>
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<p>Emmy Hennings<br />zugeeignet</p>
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I.<br/><br/>Flametti zog die Hosen an, spannte die Hosen-<br/>träger und brachte durch mehrfaches Wippen der<br/>Beine die etwas straff ansitzende Hosennaht in die<br/>angängigste Lage. Er zündete sich eine Zigarette an,<br/>stülpte die Hemdärmel auf und trat aus dem Schlaf-<br/>gemach in das Gasfrühlicht seiner geheizten Stube.<br/><br/>„Kaffee!“ befahl er mit etwas verschlafener, rauh<br/>gepolsterter Stimme.<br/><br/>Er strich sich die haarigen Arme und gähnte. Trat<br/>vor den Spiegelschrank, zog sich den Scheitel. Er<br/>bürstete Hosen und Stiefel ab, setzte sich dann auf<br/>das weinrote Plüschsofa und öffnete zögernd die<br/>Schieblade des vor dem Sofa stehenden Esstisches.<br/><br/>Dort befanden sich seine Rechnungsbücher, seine<br/>verschiedenen Kassen, Quittungshefte und die brand-<br/>roten Briefkuverte, die die Aufschrift trugen „Flamettis<br/>Variete-Ensemble“.<br/><br/>Er stellte die Gagen zusammen — es war der fünf-<br/>zehnte — und fand, dass er zu zahlen habe:<br/>dem Jodlerterzett (Vater, Mutter und<br/>Tochter), nach Abzug der ä conti Fr. 27.50<br/>dem Kontorsionisten, nach Abzug der<br/>ä conti ' „ 2.27<br/><br/>dem Damenimitator (keine ä conti) „ 60. —<br/><br/>Uebertrag Fr. 89.77<br/>
8<br/><br/>Uebertrag Fr. 89.77<br/>der Soubrette und dem Pianisten (zu-<br/>sammengenommen, sie lebten zu-<br/>sammen), nach Abzug der ä conti „ 15. —<br/><br/>Zusammen Fr. 104.77<br/>Dagegen befanden sich in der Kasse:<br/>für das Terzett (hier war Genauigkeit<br/>geboten, die Leute waren unruhig,<br/>aufsässig und Anarchisten) Fr. 27.50<br/><br/>für den Kontorsionisten (dem gab er<br/>die Gage unter der Hand) „ —. —<br/><br/>für den Damenimitator (bei schlech-<br/>tem Geschäftsgang hatte Flametti<br/>für ihn nur jeweils die Hälfte der<br/>Gage allabends zurückgelegt) „ 30. —<br/><br/>für das Pianisten-Soubrettenpaar(streb-<br/>same, ruhige Leute, die Anspruch<br/>machten auf Solidität „ 15.—<br/><br/>Flametti addierte Fr. 72.50<br/><br/>Er zog die Summe von den Fr. 104. 77 ab. Blieben<br/>Fr. 32. 27, die aus der Haupt- und Betriebskasse noch<br/>nachzuzahlen waren.<br/><br/>Er öffnete auch diese Kasse und fand darin bar<br/>Fr. 41.81.<br/><br/>„Neun Franken vierundfünfzig Vermögen!“ Er<br/>schloss die verschiedenen Kassen ab, schob die Schieb-<br/>lade zurück, schloss auch diese und steckte die Schlüssel<br/>zu sich.<br/><br/>Seine linke Augenbraue flog hoch, für einen Mo-<br/>ment. Er tat einen kräftigen Zug aus der Zigarette<br/>
9<br/><br/>und blies den Rauch aus der Lunge. „Lausige Zeiten!“<br/>brummte er. „Aber wird sich schon geben. Nur kalt<br/>Blut!“<br/><br/>Ein kleiner Schalter öffnete sich, der das Wohn-<br/>zimmer mit der Küche verband, und ein übergross<br/>langes, mürrisches Gesicht erschien in der Oeffnung.<br/>Eine grosse, magere Hand schob ein Tablett mit<br/>Kaffee, Milch und Zucker durch die Oeffnung. Dann<br/>ging auch die Türe und eine hörbar schnaubende<br/>ältere Frau erschien, missmutig, verdriesslich, russig,<br/>in schlappenden, grauen Pantoffeln, mit schmutzigem<br/>Rock von undefinierbarer Farbe und mit aufgesteck-<br/>tem Haar, das wie das Nest einer Rauchschwalbe<br/>aussah: Theres, die Wirtschafterin.<br/><br/>Sie schleppte sich zum Tisch, zog die Tischdecke<br/>weg und legte sie knurrend zusammen. Schlappte<br/>langsam und uninteressiert zum Schalter, nahm das<br/>Tablett und stellte es auf den Tisch.<br/><br/>Ohne ein Wort gesprochen zu haben, brummte<br/>sie wieder hinaus, die Tür lehnte sich hinter ihr an,<br/>und von draussen schloss sich der Schalter.<br/><br/>Flametti goss sich Kaffee ein. Er nahm den Hut<br/>vom Haken, legte die Joppe an, die über der Stuhl-<br/>lehne hing, holte aus einer Ecke sein Angelgerät,<br/>aus dem Büfett einige Blechdosen von unterschied-<br/>licher Grösse und war bereit.<br/><br/>Nein, die Ringe! Er drehte die Ringe von den<br/>geschwollenen Fingern, den Totenkopfring und den<br/>Ehering, legte sie in das Geheimfach im Schrank,<br/>schloss den Schrank ab, steckte den Schlüssel zu sich<br/>und ging. Auf der Postuhr schlug es halb sechs.<br/>
10<br/><br/>Er hatte ein kleines Stück Fluss gepachtet, in-<br/>mitten der Stadt, nahe der Fleischerhalle. Dahin be-<br/>gab er sich.<br/><br/>Eine kurz angebundene Melodie vor sich hin-<br/>pfeifend, den Kopf energisch gegen das Pflaster ge-<br/>senkt, bog er aus der kleinen, verräucherten Gasse.<br/><br/>Im Automatenrestaurant nebenan fegte, gähnte und<br/>scheuerte man. Ein Polizist auf der anderen Strassen-<br/>seite, nahe beim übernächtig nach Salmiak duftenden<br/>Urinoir, sah ziemlich gelangweilt, die Frühluft schnup-<br/>pernd, über das Kaigeländer ins Wasser.<br/><br/>„Salü!“ grüsste Flametti, knapp und geschäftig an<br/>ihm vorüberstapfend, mit dem guten Gewissen des<br/>Bürgers, der seinen Angelschein wohl in der Tasche<br/>trägt und die Obrigkeit, ihre unteren Chargen in-<br/>sonders, nicht zu umgehen braucht. „Salü!“ rief er<br/>und fuhr mit der Hand gradaus vom Hutrand weg<br/>in die Luft.<br/><br/>Der Polizist brummte etwas zur Antwort, das etwa<br/>„Guten Morgen“ heissen sollte. Der Gruss war aber<br/>nicht eben freundlich. Auch nicht unfreundlich. Viel-<br/>mehr: verschlafen beherrscht. Man kann nicht leug-<br/>nen, dass sogar Sympathie darin lag, jedoch in wohl-<br/>dosierter Mischung mit einer Art Misstrauen, das auf<br/>der Hut ist. Die Gasse, aus der Flametti kam, stand<br/>nicht eben im besten ortspolizeilichen Ruf.<br/><br/>Der Morgen indessen war viel zu verheissend, als<br/>dass Flametti sich hätte die Laune verderben lassen.<br/>An der Fleischerhalle vorbei, die Kaitreppe hinunter,<br/>begab er sich, guter Beute gewiss, an den Steg.<br/><br/>Er prüfte die Angelschnur, machte den Köder zu-<br/>
11<br/><br/>recht, klappte den Rockkragen hoch — es war frisch<br/>— und blies sich die Hände.<br/><br/>Gleich der erste Fang war ein riesiger Barsch.<br/>Der Fisch flirrte und glänzte, flutschte und klatschte.<br/><br/>Das Wetter war grau. Blaugrauer Nebel blähte<br/>die Türme am Wasser, die Schifflände mit ihren grün-<br/>weiss gestrichenen, sechsstöckigen Häusern, den<br/>rasch vorüberstrudelnden Fluss und die jenseits hoch<br/>über die Häuser hängenden Stadtgartensträucher.<br/><br/>Flametti löste die Angel, Hess den Fisch in das<br/>Netz hineinschnellen, brachte den Köder in Ordnung<br/>und warf die Angel zum zweitenmal aus.<br/><br/>Er sah sich um nach dem Polizisten. Der war<br/>verschwunden.<br/><br/>„Ueberflüssiges Element!“ brummte er, zupfte am<br/>Köder, um die Aufmerksamkeit der Fische zu er-<br/>regen, machte die rechte Hand frei und schneuzte<br/>sich kräftig in ein derbes, rotbedrucktes Taschentuch.<br/>„Geschmeiss! Grössere Faulenzer gibt es nicht!“<br/><br/>Auf der Strasse Hess sich ein drohendes Brummen<br/>und Surren vernehmen, das ratternd und knatternd<br/>näherkam: ein frühester Autowagen der „Wasch-<br/>anstalt A.-G.“. Das Vehikel puffte, bollerte, walzte<br/>vorüber. Der ganze Kai vibrierte. Ein Ruck an der<br/>Angel: ein zweites Tier hatte angebissen. Diesmal<br/>ein Rotauge.<br/><br/>„Gut so,“ zwinkerte Flametti, „darf so weiter-<br/>gehen !“<br/><br/>Fabrikarbeiter kamen vorüber. Sie marschierten<br/>zur Bahn.<br/><br/>„Hoi,“ riefen sie hinunter, „gibt’s aus?“<br/>
12<br/><br/>„Salü!“ drehte sich Flametti um. Sie gestikulierten<br/>in Eile vor sich hin und verschwanden.<br/><br/>Das Wasser floss graugrün und undurchsichtig.<br/>Die Möwen strichen sehr niedrig und zischten über<br/>die Brücken hinweg. An der Häuserfront der Schiff-<br/>lände öffnete sich ein Fenster, und eine junge Frau<br/>sah nach dem Wetter.<br/><br/>„Salü!“ rief Flametti hinüber.<br/><br/>Sie lachte und schloss das Fenster.<br/><br/>Ein Kind schrie, und eine Turmuhr schlug. Die<br/>Glocken einer katholischen Kirche läuteten. Auch in<br/>der Fleischerhalle regte es sich. Auf der Gemüse-<br/>brücke fuhren die Händler Obst und Kartoffeln an.<br/><br/>Der dritte Fang war ein armslanger Aal. An der<br/>Grundangel kam er nach oben. Schwarz wie der<br/>Schlamm und die Planken, aus denen er kam, trug<br/>er deutliche Spuren von Rattenbiss.<br/><br/>Auf den Kaiquadern schlug ihn Flametti zu<br/>Schanden.<br/><br/>Schulkinder und ein von entmutigendem Beruf<br/>heimkehrendes Fräulein, die sich oben am Geländer<br/>versammelt hatten, schrien laut auf vor Entsetzen.<br/>Das Fräulein lächelte.<br/><br/>„Servus, Margot!“ rief Flametti hinauf aus der<br/>Kniebeuge, eifrigst mit seinen Geräten beschäftigt.<br/><br/>Sie lachte und hielt die ringbesäte Hand in Ver-<br/>legenheit vor ihre schlechten Zähne. Die Kinder sahen<br/>sie neugierig an und musterten ihren bunten Aufputz.<br/><br/>Uebers Geländer gebeugt, Hess sie ihr Täschchen<br/>schaukeln, die Hand am Munde, und rief, auf den<br/>heftig sich krümmenden Fisch hinzeigend:<br/><br/>„Noch so einen, für mich!“<br/>
13<br/><br/>„Was zahlst du?“ wischte Flametti sich die Hände<br/>ab, um weiterzufischen.<br/><br/>„Zahlen ?“ rief sie und schaute dabei unternehmend<br/>nach allen Seiten, „erst heraus damit!“; was der Dienst-<br/>mann im blauen Leinenkittel, der sich inzwischen mit<br/>seinem Karren an der Ecke der Fleischerhalle ver-<br/>sammelt hatte, als den besten Witz des bisherigen<br/>Morgens verständnisinnig zur Kenntnis nahm und<br/>lächelnd quittierte.<br/><br/>Flametti hatte Glück. Als die Uhr acht schlug,<br/>nahm er seine Büchsen, Angeln und Netze und be-<br/>gab sich nach Hause.<br/><br/>Auf zehn Kilo schätzte er, was er gefangen hatte. 1<br/>Damit liess sich leben.<br/><br/>Er stellte das Angelgerät an seinen Platz zurück,<br/>ging in die Küche und suchte der Wirtschafterin aus<br/>dem Netz die Rotaugen heraus für den Mittagstisch.<br/>Nahm dann mit einem kräftigen Ruck seine Last wieder<br/>auf und stapfte davon.<br/><br/>Schnurstracks begab er sich ins Hotel Beau Rivage,<br/>wo er bekannt war, verlangte den Küchenmeister zu<br/>sprechen und bot ihm die Fische an.<br/><br/>„Schau her,“ sagte er, „hast du so einen Aal ge-<br/>sehen?“ Er packte den schleimigen Aal, der sich zu<br/>unterst ins Netz verkrochen hatte, und liess das Tier,<br/>das sich heftig sträubte und ringelte, durch die ge-<br/>schlossene Faust in das Netz zurückgleiten.<br/><br/>„Schau den Barsch!“ sagte er und jonglierte den<br/>fettesten Barsch auf der flachen Hand. Dann wischte<br/>er sich mit dem Taschentuch seine Finger ab.<br/><br/>Man wurde handelseinig. Der Küchenmeister stellte<br/>einen Schein aus, und Flametti nahm bei der Büfett-<br/>
u<br/><br/>dame dreissig Franken in Empfang. Er hatte das leere<br/>Netz zusammengerollt, dankte verbindlichst und machte<br/>sich auf den Heimweg.<br/><br/>Das Wetter hatte sich aufgeklärt. Die herbstgelben<br/>Bäume der Seepromenade hoben sich scharf und klar<br/>gegen den hellblauen Himmel ab. Die Möwen strichen<br/>mit schwerem Flügelschlag langsam und mächtig den<br/>Fluss entlang, ballten sich kreischend zu einem wirren<br/>Schwarm und kreisten in schönem Bogen, eine leis<br/>auf die andre folgend, vor einem Spaziergänger, der<br/>ihnen Brösel zuwarf. Mit langen Schnäbeln haschten<br/>sie geschickt im Flug.<br/><br/>Flametti war bester Laune. Er schwenkte in eines<br/>der kleinen, am Kai liegenden Zigarrengeschäfte und<br/>erstand sich eine frische Schachtel ,Philos grün'.<br/><br/>Mit Gentlemanpose warf er ein Fünffrankenstück<br/>auf den Ladentisch. Er schob das Wechselgeld in die<br/>Hosentasche, ohne viel nachzuzählen, klimperte, fuhr<br/>mit der Hand an den Hut, sagte „Salü!" und mar-<br/>schierte weiter.<br/><br/>„Salü, Fritz!" rief er, die Hand am Hut, einem<br/>Bekannten zu, der aus einer kleinen Seitengasse bog.<br/><br/>„Was kosten die Kressen?" fragte er im Vorbei-<br/>gehen einen Gemüsehändler unter den Arkaden.<br/><br/>Und vor dem Fenster eines Bazars blieb er stehen,<br/>musterte mit Kennerblick die ausgestellten orientali-<br/>schen Waren, ging hinein und erstand einen hell-<br/>blauen Tschibuk mit Goldschnur, der ihm für seine<br/>Ausstattungsnummer ,1m Harem' fehlte zum Sultans-<br/>kostüm.<br/><br/>Er war sehr zufrieden mit seinem Kauf, stapfte den<br/>Kai entlang und begegnete Engel, dem Ausbrecher-<br/>
15<br/><br/>könig, Engel, seiner Kreatur, die vor kurzem noch<br/>Monteur gewesen, dann zum Variete übergegangen<br/>war.<br/><br/>„Salü Max!“ grüsste Engel familiär, doch in<br/>respektvoller Distanz. „Auch schon munter?“<br/><br/>Max machte Halt, ein wenig degoutiert, seinen<br/>Lieblingsgruss aus fremdem Mund zu vernehmen.<br/>Ziemlich nachlässig und nebenhin sagte er „Salü!“,<br/>nahm die Zigarette aus dem Mund und kniff das<br/>rechte Auge zu.<br/><br/>„Das war ein Gaudi heut nacht!“ legte Engel<br/>los, „hättest dabei sein müssen! Der Pips war<br/>mit und die Margot und die lange Mary und eine<br/>ganze Gesellschaft aus Chaux-de-Fonds. Unten bei<br/>Mutter Dudlinger. Fünf Schampusflaschen haben wir<br/>die Hälse gebrochen. Und ein Lärm! Da war Pinke-<br/>Pinke!“<br/><br/>Mit sportsmännischer Nachlässigkeit hielt er den<br/>Arm lang ausgestreckt und tippte die Zigarettenasche<br/>gegen die Gosse.<br/><br/>Max war sehr uninteressiert. Die Abenteuer seines<br/>schmächtigen, für Zusteckereien allzu empfänglichen<br/>Ausbrecherkönigs imponierten ihm nicht.<br/><br/>„Komm mit!“ sagte er unvermittelt und packte<br/>den Ausbrecherkönig beim Arm, „trinken wir im<br/>,Ochsen4 'ne Halbe!44<br/><br/>Und sie schwenkten hinüber über die Gemüse-<br/>brücke zum ,Roten Ochsen4.<br/><br/>„Du, Max,44 meinte Engel und versuchte, mit dem<br/>mächtig ausschreitenden Flametti gleichen Schritt zu<br/>halten, „sag’ mal aufrichtig: Hast du der Margot<br/>einen Aal versprochen? Sie sagt's nämlich.44<br/>
16<br/><br/>Flametti blieb stehen. „Jawohl, ich, einen Aal, der<br/>Margot! Hab’ die Aale grad zum Verschenken! So<br/>seh’ ich aus!“<br/><br/>„Na, also!“ beschwichtigte Engel. „Weisst du,<br/>Margot ist man ’n verrücktes Frauenzimmer. Hab’s<br/>ja gleich gesagt.“<br/><br/>Der Ochsenwirt war nicht zu Hause. Eigentlich<br/>war man hingegangen, um ein Geschäft auszumachen.<br/>Man nahm einige Glas Münchner, standesgemäss,<br/>Flametti zahlte, Engel nahm die Hüte vom Haken.<br/>Dann ging man zum Essen.<br/><br/>Mutter Dudlinger, die Dame, bei der sich Herr<br/>Engel mit der Gesellschaft aus Chaux-de-Fonds ein<br/>so lustiges und vornehmes Rendez-vous gegeben hatte,<br/>Eigentümerin des Hauses, in dem auch Flametti<br/>wohnte, lag ihrer Gewohnheit gemäss unterm Fenster,<br/>als die beiden Männer in die kleine Gasse bogen.<br/><br/>Sie sonnte den Busen und lächelte ihnen mit einem<br/>wohlwollenden Nicken des Kopfes Willkomm zu.<br/><br/>Dieser Busen! Er nahm die ganze Breite des Fen-<br/>sters ein und drängte dabei den wahrlich ungraziösen,<br/>fast könnte man sagen plumpen Körper zurück, der<br/>auch seinerseits aus dem grauen, schmuggeligen Hause<br/>heraus nach Licht und Sonne begehrte.<br/><br/>Diese Brüste! Sie blähten sich auf, quollen über,<br/>und nur mit Mühe hielt sie der speckige Rand der<br/>schwarzen, zusammengehaftelten Kammgarnbluse zu-<br/>rück, sich über die Fensterbank auf das holprige<br/>Pflaster zu stürzen. Die Sonnenstrahlen vom Giebel<br/>des Automatenrestaurants kamen der Bluse zu Hilfe.<br/>Steil stellten sie sich — es war Mittag — gegen be-<br/>sagte Fleischesfülle.<br/>
17<br/><br/>Mutter Dudlinger allein schien nichts zu bemerken<br/>vom Widerstreit ihrer Massen im Kampf ums Licht.<br/>Harmlos und freundlich lag ihre Seele gewissermassen<br/>zwischen Busen und Körper mitten inne und schaute,<br/>umhegt von sanft hängendem Speck, aus listigen Aeug-<br/>lein gutmütig heraus.<br/><br/>Flametti grüsste hinauf, den Kopf stark in den<br/>Nacken gebeugt. Die Gasse war eng. Und Herr Engel<br/>ebenfalls grüsste hinauf, rief wie Flametti „Salü!“ und<br/>griff an den Hut.<br/><br/>Mutter Dudlinger streckte den Kopf aus dem Fen-<br/>ster, schluckte den Speiserest, der sich vom Mittag-<br/>essen unversehens noch irgendwo zwischen den<br/>% Speicheldrüsen gefunden hatte, und verfolgte voll<br/>Sympathie den Eintritt der stattlichen Männer in ihr<br/>gastfreies Haus. Sie bemerkte dabei zu ihrer Ver-<br/>wunderung heute zum ersten Mal, dass unter dem<br/>Fenstersims eine ganze Anzahl höchst niedlicher<br/>Schmutzfähnchen flatterten, die sich aus langen, auf<br/>das Gesims gefallenen Regentropfen gebildet hatten<br/>und über die Hausfront hinunterwehten.<br/><br/>Die Männer stiegen indessen die steile Treppe<br/>hinauf, und Engel befand sich, immer hinter Flametti<br/>stapfend, von Stufe zu Stufe mit kindlicheren Gefühlen<br/>den rückwärtigen Massen seiner mütterlichen Pro-<br/>tektorin gegenüber, die mit gelüpftem Posterieur noch<br/>immer die Regenfähnchen der Hausfront bestaunte.<br/><br/>Es war eminent! Ein lächerlich kleiner Erker war<br/>der Unterbau dieser ganzen bedenklichen Last, die<br/>man Mutter Dudlinger nannte. Unterbau einer Fülle,<br/>von der man sich von der Strasse aus nicht einmal<br/>einen Begriff machen konnte.<br/><br/>Ftametti. 2<br/>
18<br/><br/>Ein Wunder, dass dieser Erker im nächsten Mo-<br/>ment nicht krachend zusammenbrach und samt der<br/>guten Mutter Dudlinger in eine mysteriöse Tiefe hin-<br/>unterstürzte. Erstaunlich, wenn man's bei Tag besah,<br/>dass man in diesem Erker sogar zu dreien sitzen<br/>konnte! Und Engel hatte mit Mutter Dudlinger und<br/>Mary zu dreien darin gesessen. Man hatte gesprochen<br/>vom Krieg, vom Konzert, von den schlechten Zeiten;<br/>im Zimmer nebenan hatten die Sektpfropfen geknallt,<br/>und Mary hatte gegähnt, weil ihr Kavalier aus Chaux-<br/>de-Fonds eine Anspielung machte auf ihre Gesundheit.<br/>Da hatte sie sich natürlich zurückgezogen und spielte<br/>die Beleidigte. Und Mutter Dudlinger hatte die Blätter<br/>der künstlichen Rebe zurechtgebogen und ein-<br/>gesprochen auf Mary. Aber es half nichts. Sie war<br/>beleidigt.<br/><br/>Als Flametti und Engel oben in die Stube traten,<br/>stand die Suppe bereits auf dem Tisch. Um den Tisch<br/>sassen: Herr und Frau Häsli nebst Tochter, das Jodler-<br/>terzett; Herr Arista, der Damenimitator; Fräulein<br/>Laura, die Soubrette, und Herr Meyer, der Pianist;<br/>Bobby, der Schlangenmensch, und das Lehrmädchen<br/>Rosa. Sämtlich mit Löffeln und Schlucken beschäftigt.<br/><br/>Herr Häsli hatte die Serviette vorgebunden, damit<br/>er sein gutes Hemd nicht beflecke. Bobby schlarpste.<br/>Jennymama, Flamettis Frau, sass malerisch auf der<br/>Sofakante bei der Schlafzimmertür, rosig wie eine<br/>Venus, im lachsfarbenen Schlafrock, den sie mit der<br/>rechten Hand sorgsam über die Hüften geschlossen<br/>hielt. Das offene Haar, mit Wasserstoffsuperoxyd<br/>gebeizt, war flüchtig zurückgestrichen. Die Suppen-<br/>schüssel dampfte. Und der Pianist benutzte den giin-<br/>
19<br/><br/>stigen Augenblick, um sich zum dritten Mal Suppe zu<br/>schöpfen.<br/><br/>„Mahlzeit!“ sagt2 Flametti breit.<br/><br/>„Mahlzeit!“ erwiderten sämtliche Mitglieder des<br/>Ensembles.<br/><br/>Flametti hängte seinen Hut an die Tür und begab<br/>sich, um den Tisch herum, an seinen frei gebliebenen<br/>Platz auf dem Sofa.<br/><br/>Fräulein Rosa stand sogleich auf und griff nach<br/>der Terrine, um Suppe nachzufüllen. Fräulein Theres,<br/>die Wirtschafterin, kam herein, um nach den Bedürf-<br/>nissen zu sehen. Durch den offenstehenden Bretter-<br/>verschlag aus dem Nebenzimmer grüsste das Krukru<br/>der kichernden Turteltauben, die Flametti für seine<br/>Zauberkunststücke pflegte.<br/><br/>„Setz dich, Engel!“ rief Flametti gütig dem zögern-<br/>den Ausbrecherkönig zu, der nicht zum Ensemble ge-<br/>hörte, aber darin nach Bedarf gastierte und für tausend<br/>wichtige Bühnenzwecke bestens verwendbar war.<br/><br/>„Merci, Max! Lass nur! Ich finde schon Platz!“<br/>Er nahm den Stuhl, den Rosa ihm aus dem Verschlag<br/>herbeiholte, und setzte sich zu dem Schlangenmen-<br/>schen. Die beiden mussten sich so in das obere Tisch-<br/>ende teilen; aber sie kamen zurecht miteinander, sie<br/>waren ja Freunde.<br/><br/>Schwieriger gestaltete sich die Platzfrage an der<br/>Längsseite des Tisches, wo der Damenimitator, das<br/>Jodlerterzett und die Soubrette sassen.<br/><br/>Fräulein Laura und Herr Arista waren verträglich.<br/>Sie fanden sich ab. Ganz unverträglich aber und bissig,<br/>sowohl untereinander wie den anderen gegenüber,<br/>
20<br/><br/>waren die Jodler, die Mutter insönders. Frau Lotte<br/>Häsli spie Gift und Galle, wenn man nur an sie tippte.<br/><br/>Nun sassen die drei eng aneinandergedrückt.<br/>Kaum konnten sie mit den Gabeln auslangen, um einen<br/>Fisch zu spiessen. Kaum mit den Ellbogen hervor-<br/>kommen, um eine Platte zu greifen.<br/><br/>Frau Häsli auf dem Mittelplatz, zwischen Herrn<br/>Häsli und seiner Tochter, warf wütende Blicke voller<br/>Verachtung und Hohn auf den Gatten, der lammfromm<br/>dasass und mit hochgezogenen Augenbrauen den<br/>Mund vollstopfte, statt sich zu beschweren. Sie fletschte<br/>die Zähne und trat ihm wohl fünfmal hintereinander<br/>in einem bestimmten, bösartigen Rhythmus auf den<br/><br/>Die Tochter, herausgefordert durch solche forcierte<br/>Unverträglichkeit der Mutter, puffte ihr mit dem linken<br/>Arm in die rechte Seite, anscheinlich, um sie auf die<br/>Blamage aufmerksam zu machen, in Wahrheit aber<br/>mit solch erbittertem Nachdruck, dass jeder Unbefan-<br/>gene merken musste, sie nütze nur die Gelegenheit<br/>aus, ihr eins zu versetzen.<br/><br/>Der Pianist, dem Ausbrecherkönig gegenüber,<br/>schmunzelte in seinen Teller hinein und erwiderte<br/>sehr belustigt die Zeichen des mit dem Kopf an-<br/>deutenden Schlangenmenschen, der seinerseits mit<br/>Messer und Gabel den Fisch zerhackte, dass sich<br/>die Gräten bogen.<br/><br/>Frau Häsli wurde aufmerksam und war rot vor<br/>Wut. Doch beherrschte sie sich, drängte den Aerger<br/>zurück und rief mit unglaublich gesüsster, doch etwas<br/>gewaltsam flott gemachter Zutraulichkeit:<br/>
21<br/><br/>„Na, Herr Direktor, wie geht’s, wie steht’s? Geld<br/>brauchen wir. Können wir dann auch die Gage<br/>kriegen ?“<br/><br/>Herr Häsli war konsterniert. Eben wollte er eine<br/>neue Fracht Fisch auf der Gabel zum Munde führen<br/>und hatte schon auf dem Messerrücken den Kartoffel-<br/>salat bereit, um ihn zum selben Zweck auf die Gabel<br/>zu wälzen. Da musste er dieses unglaublich taktlose<br/>Wort vernehmen, jetzt bei Tisch, wo man ass, wo<br/>Flametti gerade gekommen war und kaum sass.<br/><br/>Die schon erhobene Gabel senkte sich auf den<br/>Teller zurück. Herrn Häslis straffes Gesicht bekam<br/>Käsefarbe. Die Augen, eben noch versöhnlich und<br/>ungestört an der spitzen Nase vorbei auf das Messer<br/>gerichtet, schnellten mit einem hörbaren Ruck nach<br/>rechts gegen die biestige Ehehälfte, und es hätte nicht<br/>viel gefehlt, so wäre er aufgesprungen, ihr eine<br/>Watsche herunterzuhauen.<br/><br/>Aber dabei hätten Stühle Umfallen müssen, weil<br/>man so eingekeilt sass. Dabei wäre notwendig das<br/>Tischtuch heruntergezerrt worden. Also beherrschte er<br/>sich und blieb, zitternd vor Empörung, in drohendster<br/>Pose erstarrt, still sitzen.<br/><br/>Das war doch die Höhe! Herr Häsli kannte<br/>Flametti seit Jahren. Wusste, dass er die Gagen nie<br/>schuldig blieb. Wusste, dass die Verlegenheit, in der<br/>sich Flametti befand, nur momentan war und nichts<br/>besagte. Wusste auch, dass die vielen Fischgerichte,<br/>die Flametti da auftischen Hess, nur seinen guten<br/>Willen verrieten, durchzuhalten um jeden Preis. Da<br/>soll einem nun die Geduld nicht reissen, wenn solch<br/>obstinates Weibsstück in ihrer spitzigen Kribbeligkeit<br/>
22<br/><br/>kefne Raison annahm! Man hat doch Erziehung! Man<br/>ist doch kein Schubiack! Man hat doch, zum Teufel,<br/>die Welt gesehen!<br/><br/>Herr Häsli hatte indessen gut denken! Er war<br/>ein Faulenzer, ein Nichtstuer, er hatte sich immer<br/>nur den Magen gestopft und die Frau schuften lassen.<br/>Beim Norddeutschen Lloyd war er Steward gewesen.<br/>In unterschiedliche Phonographen hatte er gejodelt zu<br/>Berlin und Paris. War auch mal II. Klasse gefahren,<br/>von Potsdam nach Wien, eines Phonogramms wegen.<br/>Aber was schon! Das war vor Jahren, als er die<br/>Stimme noch hatte. Das war vorbei. Jetzt hatte sie,<br/>Lotte Häsli, ihn durchzuschleppen. Wie ein Lastvieh<br/>kuranzte er sie. Immer singen und singen. Bei zwanzig<br/>Grad Kälte in den eiskalten, verschmierten, kleinen<br/>Hotels. Tagaus, tagein. In Bern: dreissig Nummern<br/>an einem Sonntag, von nachmittags drei bis nachts<br/>elf. Sie hatte es durchgemacht. Sie hatte genug. Sie<br/>kannte die Herren Direktoren. Aus war’s. Sie wollte<br/>nichts mehr wissen davon. Wenn einer ihr nur in<br/>die Nähe kam — genügte schon, dass er ein Manns-<br/>kerl war — fuchtig wurde sie. Die Hand weg! Wenn<br/>man nicht einmal ordentlich zu essen kriegen sollte<br/>bei solchem Betrieb, ja geschuhriegelt wurde — im-<br/>mer nur singen und singen und etwa noch Schläge —<br/>lieber den Strick um den Hals!<br/><br/>Frau Häsli hatte zu essen nicht nachgelassen. Mit<br/>Messer und Gabel hantierte sie eifrig. Zwei schwarze<br/>Löckchen fielen ihr zier und adrett, schwarze Bocks-<br/>hörner, leicht in die Stirn. Diese Stirn, eigensinnig,<br/>gedrungen, von einer kurzen, nur schlecht verheilten<br/>Narbe gezeichnet, war nicht eben hässlich.<br/>
23<br/><br/>„Mach’ mal ’n bisschen Platz!“ rief sie der Tochter<br/>zu, um deren Fuss sich unter dem Tisch der Damen-<br/>imitator lebhaft und dringend bewarb.<br/><br/>Frau Häsli gelang es, durch Aufwärtsschieben der<br/>Ellbogen ihrem Brustkorb etwas mehr Luft zu ver-<br/>schaffen.<br/><br/>Toni, die Tochter aber, kam sich ganz persönlich<br/>verletzt und gepiesackt vor.<br/><br/>Was konnte sie dafür, dass dieser verfettete Damen-<br/>imitator so aufdringlich war! Sie hatte ihm ihren Fuss<br/>überlassen, weil sie sich doch vergewissern musste,<br/>ob er auch wirklich angelte. In diesem Moment war<br/>ihr das hässliche „Mach’ mal ’n bisschen Platz!“ ans<br/>Ohr gedrungen. Ueberhaupt: mit dem Damenimitator<br/>hatte sie nichts, wenn er auch Lackschuhe trug und<br/>einen gebügelten, kaffeebraunen Anzug. Wer weiss,<br/>ob er überhaupt bei einer Jungfrau schlafen konnte.<br/>Es war eine bekannte Sache, dass es Damenimitatoren<br/>an so manchem fehlte, was eine Toni Häsli reizen<br/>konnte.<br/><br/>Sie schob ihren Stuhl zurück, stand auf und sagte<br/>ziemlich schnippisch: „Ich kann ja auch in der Küche<br/>essen, wenn hier zu wenig Platz ist!“<br/><br/>Die Mutter hatte sich aber bereits zurechtgefunden,<br/>das Rotauge, auf das sie es abgesehen hatte, auf-<br/>gespiesst und auf den Teller herüberbefördert. Mit<br/>einem hörbaren Plumps Hess sie sich auf den Stuhl<br/>zurückfallen und sagte verwundert:<br/><br/>„Was willst du denn? Was passt dir denn nicht?<br/>Kannst du dich nicht ein bisschen schicken? Wenn<br/>der Platz knapp ist? Sei froh, dass du so gutes Essen<br/>bekommst. Schau mal diese Forelle an —“ dabei<br/>
24<br/><br/>zerrte sie den Fisch mit der Gabel auf ihrem Teller<br/>hin und her — „so was Feines verdienst du gar nicht!<br/>Dankbar solltest du sein, dass man dich durchschleppt.“<br/>Herr Häsli sass noch immer erstarrt in furchtbarer<br/>Pose, eine knödelessende Schiessbudenfigur. Von der<br/>Mutter weg wandte er seine Augen zur Tochter.<br/>Ohne viel Erfolg. Toni setzte sich zwar wieder hin,<br/>konnte sich aber nicht verkneifen, die Mutter darauf<br/>aufmerksam zu machen: „Es sind ja gar keine Fo-<br/>rellen. Es sind ja Rotaugen.“<br/><br/>„Na,“ beschwichtigte Jenny, „sie ist ja noch jung.<br/>Versöhnt euch! Morgen gibfs Paprikabraten mit<br/>Spaghetti und Tomatensauce. Kinder! Ein feiner<br/>Frass!“ Und sie hob den Zeigefinger hoch und liess<br/>einige fettgurgelnde, selige Laute hören.<br/><br/>Flametti hatte das Hemdbördchen geöffnet, um<br/>es bequemer zu haben. Mit den Oberarmen den Tisch<br/>festhaltend, lag er vor seinem Teller, den Kopf hart<br/>über dem Tellerrand, und schlarpste gierig die Suppe.<br/><br/>Das Plüschsofa hatte sich unter seinem Druck ge-<br/>senkt mit einem Knacken der Federn, das wie ein<br/>Magenknurren Flamettis fortdröhnte. Als er nun<br/>die baumwollenen Hemdärmel aufkrempelte, konnte<br/>man so recht sehen, was für ein Riese er war.<br/><br/>Die Muskeln der Oberarme stiegen in einer steilen<br/>Schwellung zum Schulterblatt. Teller, Arme und Kopf<br/>bildeten ein einziges, muskulöses Dreieck. Blutunter-<br/>laufen, vom Sitzen, schwollen seine Augen.<br/><br/>Ganz allein hielt er das Sofa und von dort aus<br/>den Tisch in Schach. Er sprach nicht viel. Für die<br/>Worte der Häsli wegen der Gage hatte er nur ein<br/>kurzes, brummiges „Ja, ja. Sowie das Essen vorbei<br/>
25<br/><br/>ist.“ Was ihn ein wenig wurmte, war die Aufdringlich-<br/>keit dieser Person, die immer etwas zu bestellen hatte,<br/>immer Stank mitbrachte.<br/><br/>Als Herr Häsli dann jene Schiessbudenpose an-<br/>nahm, konnte Flametti sogar ein heimliches Gaudium<br/>nicht verbergen. Er senkte den Kopf noch tiefer und<br/>blies die Backen auf, um nicht loszuprusten.<br/><br/>Ihm machte es einen Heidenspass, wenn das Ehe-<br/>paar sich „anblies“. Eine bösartige Rippe, diese Alte.<br/>Der kleine Häsli ein Schlappier, dass er sich das so<br/>gefallen liess. Aber ihr Gesang: alle Hochachtung!<br/>Das musste man ihnen lassen. Was Exaktheit, Klang-<br/>farbe und Schulung betraf: weit und breit keine<br/>Besseren.<br/><br/>Flametti war mit der Suppe fertig. Ein einziger<br/>Fisch lag noch auf der Platte, und Engel holte weit<br/>aus, um ihn an sich zu bringen.<br/><br/>Rosa beeilte sich, aufzufüllen. Jenny, gesättigt,<br/>nahm ihr .offenes Haar aus dem Nacken und flocht<br/>es zusammen.<br/><br/>„Na, kommt das Zeugs bald?“ rief Flametti zum<br/>Schalter, legte mit breiter Oberlippe den Esslöffel<br/>trocken, drehte ihn um und leckte auch die Kehrseite<br/>gründlich ab.<br/><br/>Bobby zerriss ein Stück Brot und stopfte es in<br/>den Mund. Die Häslis standen auf, sagten „Mahlzeit!“<br/>gingen aber noch nicht, denn es sollte ja Gage geben.<br/><br/>Auch der Pianist und die Soubrette standen jetzt<br/>auf. Der Damenimitator, aus Höflichkeit, blieb noch<br/>sitzen. ' ■ !<br/><br/>„Mahlzeit!“ rief Flametti. Aber für ihn begann die<br/>Sache jetzt erst. Und auch Herr Engel wurde loyal,<br/>
26<br/><br/>fasste Mut, und sie stocherten um die Wette nach den<br/>pauvren Fischleins.<br/><br/>Engeln drohte dabei die Hose zu rutschen. Aber<br/>er hielt sie fest mit der linken Hand und rief zu<br/>Flametti hinüber:<br/><br/>„Max, weisst du noch: ,Bratwurstglöckli'?<br/><br/>Dort muss vor Zeiten eine ungeheure Fresserei<br/>stattgefunden haben. Denn die beiden lachten ein-<br/>ander an, verständnisinnig, und verdoppelten ihre An-<br/>strengungen.<br/><br/>Flamettis Variete-Ensemble hatte einen Ruf und<br/>war beliebt. ,Bestrenommiert' stand auf den Plakaten.<br/>Und durch ,bestes Renomme', von dem nur die Neider<br/>behaupteten, es rühre von Flamettis Renommage her,<br/>unterschied sich das Ensemble von der Konkurrenz.<br/><br/>Ferreros ,Damen-Gesangs- und Possen-Ensemble'<br/>war ,geschätzt', ,glänzendst', ,weltbekannt'. Aber be-<br/>liebt? Nein. Bestrenommiert? Nein. Es war ,vor-<br/>nehmst', infolge der vereinten Eleganz und Reserviert-<br/>heit seiner Damen.<br/><br/>Auch Pfäffers ,Spatzen' konnten da nicht mit. Sie<br/>hatten weder jene geheimnisvolle Anziehungskraft, die<br/>Flamettis Ensemble eigen war, noch jene gewisse<br/>Eigenart und Popularität.<br/><br/>Pfäffers ,Spatzen' waren, wenn man ihren Wert<br/>auf einen Nenner bringen wollte, ,altbewährt', ,solid',<br/>.reichhaltig', ,anerkannt'. Ihre Force: ,dezentes Fa-<br/>milienprogramm', mit ausgeschnittenen Kleidern und<br/>Broschen, die, wie Flametti höhnte, am Bauchnabel<br/>sassen.<br/><br/>Nein! Auch von ihnen ging jene Wirkung nicht<br/>aus, die Wärme und Begeisterung verbreitete, Ein-<br/>
27<br/><br/>ladungen zu Bier, Wein und Sekt mit sich brachte;<br/>Wagenpartien, Abenteuer und Schicksale im Gefolge<br/>hatte.<br/><br/>Worin lag die geheimnisvolle Anziehungskraft der<br/>Flamettis?<br/><br/>Darüber zerbrach sich mancher den Kopf.<br/><br/>Flametti zahlte weder die besten Gagen, hatte in-<br/>folgedessen auch nicht die ersten Kräfte, wie Ferrero.<br/><br/>Noch hatte er die besten Schlager, wie ebenfalls<br/>Ferrero, der Jude war, raffiniert, geschickt, tüchtig, sf<br/>und der infolge seiner ,Vornehmheit* die besten Ver-<br/>bindungen hatte. Noch waren Flamettis Nummern<br/>mit soviel Fleiss, Sorgfalt und Interesse herausgebracht<br/>wie etwa die Gesangs-Ensembles von Pfäffers<br/>,Spatzen*. Auch deren farbenprächtige, teure Ma-<br/>trosen-, Schornsteinfeger- und Mausfallenhändler-<br/>Kostüme hatte er nicht, die Fabrikware waren und<br/>Gesprächsthema weit und breit.<br/><br/>Worin also bestand Flamettis Ueberlegenheit?<br/><br/>Er war ein Kerl sozusagen, ganz persönlich. Artist<br/>von reinstem Wasser. Er hatte ein Auge, verstand,<br/>seine Leute sich auszusuchen. Er war: eine Persön-<br/>lichkeit gewissermassen. Kein Ferrero, der früher mit<br/>Lumpen gehandelt hatte. Kein Pfäffer, der seinen<br/>Weibern zurief: „Kinder, macht’s euch bequem!** und<br/>dann im Hemd mit ihnen den ,Kleinen Kohn* ein-<br/>studierte.<br/><br/>Fleiss? Verachtete er. Der echte Artist schläft<br/>morgens bis gegen elf. Wenn man bis in die Nacht<br/>hinein gearbeitet hat, oft die schwierigsten Nummern,<br/>kann man nicht in aller Herrgottsfrühe wieder<br/>auf den Beinen sein.<br/>
28<br/><br/>Proben? Jawohl! Aber mit Mass und Ziel. Es<br/>hat keinen Sinn, den Leuten die Lust an der Arbeit<br/>zu nehmen, sie tot zu hetzen mit Proben. Auf die<br/>Eingebung kommt es an. Nicht auf den Drill. Wer<br/>es nicht in den Fingerspitzen hat, der wird es auch<br/>auf der zwanzigsten Probe nicht haben. Man ist doch<br/>nicht beim Kommiss! Artisten sind keine Studier-<br/>maschinen. Und wenn schon Proben, dann nicht zuviel<br/>Pünktlichkeit. Pünktlichkeit soll der Teufel holen. Es<br/>muss aus dem Handgelenk kommen, spontan.<br/><br/>Flamettis Proben waren unberechenbar. Wenn eine<br/>angesetzt war, fand sie sicher nicht statt. Wenn eine<br/>stattfand, war sie sicher nicht angesetzt. Das Ganze<br/>blieb mehr der Inspiration, dem persönlichen Einfall<br/>und Zufall belassen.<br/><br/>Extempores? Prachtvoll! Er selbst war ein Extem-<br/>pore von Kopf bis zu Fuss. Vielseitig, unberechenbar,<br/>auch in seinem Repertoire. Nur kein festes Programm!<br/>Nichts langweiliger als das. Bei Ferrero hing das<br/>Programm jeden Abend punkt acht beim Kapellmeister<br/>am Klavier. Bei Flametti gab’s überhaupt keines. Oft<br/>wusste er fünf Minuten vor seinem Auftritt noch nicht,<br/>solle er den ,Mann mit der Riesenschnautze' bringen<br/>oder die ,Feuernummer'. Sprudeln muss man: das war<br/>sein oberster Grundsatz.<br/><br/>Auch bei Engagements: Flametti hatte das renom-<br/>mierteste Ensemble. Und doch keineswegs die renom-<br/>miertesten Kräfte.<br/><br/>Im Gegenteil: darin gerade bestand sein Genie,<br/>dass er verstand, Kräfte zu entdecken, zu finden, ja<br/>aus dem Nichts zu stampfen.<br/>
29<br/><br/>Flamettis Personal war: interessant. Er hatte eine<br/>Nase für natürliche Begabung. Auf Agenten, Kritiken<br/>und Renommage gab er nichts. Selber sehen! Kerle<br/>brauchte er, Personnagen. Talent kam in zweiter<br/>Linie. Mochte das Talent einen Knacks haben, die<br/>Stimme einen Knacks, die Figur einen Knacks. Wenn<br/>nur der Kerl, der dahinterstand, etwas zu sagen hatte.<br/><br/>Flametti hatte einen Blick für die gebrochene Linie.<br/>Einen Blick für jenen Moment, in dem etwa eine<br/>Kabarettistin reif wurde fürs Variete. Da setzte er<br/>ein. Da bemühte er sich. Da lief er.<br/><br/>Und immer: das menschliche Interesse an seinem<br/>Mitglied stand im Vordergrund. Herr oder Dame:<br/>ihn interessierte zumeist, was sie erlebt und gesehen<br/>hatten. Gute Manieren. Kein Engagement ohne tage-<br/>lange vorherige Beobachtung. Schicksale muss jemand<br/>gehabt haben, um interessant zu sein für Flamettis<br/>Ensemble. Schicksal brachte Vielseitigkeit mit sich,<br/>Ueberraschungen, Anlagen, Geist. Seine Mitglieder<br/>mussten sich bewegen können. Welt mussten sie<br/>haben. Versiert mussten sie sein. Vornehmheit war<br/>nicht seine Sache. Dahinter steckte nicht viel. De-<br/>klassierte Menschen, gerempelte Personnagen sind die<br/>gebornen Artisten. Im Druck muss man gewesen sein,<br/>um Artist zu werden.<br/><br/>Unter fünfzig Mädels, die auf der Strasse das<br/>Täschchen schwenkten, waren zwanzig Soubretten. Es<br/>kam nur darauf an, sie davon zu überzeugen. Unter<br/>fünfzig Apachen, die keiner beachtete, zwanzig Aus-<br/>brecherkönige, Zauberkünstler, Jongleure. Es kam nur<br/>darauf an, sie zu finden und durchzusetzen. Und gerade<br/>
30<br/><br/>darin bestand Flamettis Genie, seine Popularität, seine<br/>Magie.<br/><br/>In seinem Ensemble wurden Sprachen gesprochen:<br/>englisch, französisch, dänisch, sogar malayisch. Man<br/>hatte die Welt gesehen. Man hatte sich redlich be-<br/>müht und kannte das Leben.<br/><br/>Gefängnis, Skandal, Freudenhaus, Fahnenflucht<br/>waren kein Einwand. Artisten kommen aus einer<br/>anderen Welt. Sind keine Bürger. Aus Unterdrückung<br/>werden Artisten. Wo keine Defekte sind, sind keine<br/>Menschen. Buntheit, Zauber, Exotik: nur aus Ver-<br/>zweiflung.<br/><br/>Dementsprechend war auch Flamettis Verhältnis<br/>zu seinen Artisten. Kameradschaft, nicht Abhängigkeit.<br/>Freiheit, nicht Zwang. Vertrauen, keine Verträge.<br/>Gage muss sein: sowieso. Aber was nützte der beste<br/>Vertrag, wenn der Direktor einmal nicht zahlen<br/>konnte?<br/><br/>Hier setzte Flamettis Verlässlichkeit ein. Er war<br/>dann imstande, mit Angeln sein ganzes Ensemble zu<br/>halten. Ein anderer Direktor stellte die Zahlungen ein.<br/><br/>Bei Flametti konnte man aus- und eingehen, auch<br/>wenn man nicht mehr auf seinen Brettern stand. Bei<br/>welch anderem Direktor noch? Was Flametti besass,<br/>gehörte auch seinem Ensemble. Es war nicht sein<br/>Ehrgeiz, Geld zu machen, Bankkonto und dergleichen.<br/>Sein Ehrgeiz war, eine Truppe zu haben.<br/><br/>Kostüme? Machte man selbst. Nummern? Erfand<br/>man sich. Er selbst, Flametti, hatte er nicht aus<br/>einer Robbe ein Seeweibchen gemacht, als Not am<br/>Mann war? Und aus Engel einen Ausbrecherkönig?<br/>Demselben Engel, der Speckschneider gewesen war<br/>
31<br/><br/>bei der Handelsmarine? Eine Kiste hatte er ihm ge-<br/>baut, woraus mittels einer im Innern angebrachten<br/>Mechanik selbst bei vernageltstem Zustand leicht zu<br/>entkommen war. Handfesseln hatte er ihm gearbeitet<br/>mit einem Raffinement, dass ,Henry* mit einem Ruck<br/>seiner zarten Gelenke innerhalb drei Minuten im<br/>Freien stand. ' : ! ‘<br/><br/>Freilich: Solche Gelenke aus gutem Hause ge-<br/>hörten dazu und ein wenig Geschick. Aber ,Henry*<br/>schaffte es. Kein Mensch hätte vorher daran geglaubt.<br/>Eine Berühmtheit war aus ihm geworden, über Nacht.<br/><br/>Welcher Direk*~ erlebte die Ueberraschung, dass<br/>seine Soubrette als Gamsbua auftrat und Schnadahüpfl<br/>sang, nur aus Jokus? Oder dass der Pianist die<br/>Klampfn nahm und der Jodler das Piston?<br/><br/>Flametti legte auch keineswegs Wert darauf, jeden<br/>Abend zu spielen. Besonders nicht in den kleinen<br/>Beiseln, wo man um sechs Uhr abends schon auf<br/>dem Posten sein musste, wo das Wasser von der Decke<br/>tropfte und die Klaviere jämmerliche Drahtkommoden<br/>waren, unmöglich, Töne darauf hervorzubringen.<br/><br/>Mochte Jenny recht haben: man solle auch die<br/>kleinen Geschäfte annehmen; man müsse ja auch die<br/>Gagen zahlen. Aber man war doch nicht in der Tret-<br/>mühle! Man war doch nicht auf der Welt, um sich<br/>abzustrapazieren!<br/><br/>Keine Ueberarbeitung: das war man seinem En-<br/>semble schuldig. Flametti verlangte dafür nur seiner-<br/>seits etwas Entgegenkommen: Anstand und guten<br/>Willen. Benehmen. Oder er wurde ,verrückt*, was<br/>besagte: schlug alles kurz und klein, rannte Köpfe<br/>an die Wand, ging mit dem Messer los auf die Bande.<br/>
32<br/><br/>„So, Kinder,“ rief Flametti, wischte sich den Mund<br/>ab und legte die Serviette hin, „jetzt kommt die Gage!“<br/><br/>Er nahm den Schlüssel aus der Hosentasche,<br/>schloss die Schieblade auf und rief, auf das Essgeschirr<br/>zeigend: „Weg mit dem Zeugs!“<br/><br/>Rosa beeilte sich, das Geschirr wegzutragen. Das<br/>Ensemble spitzte die Ohren. Auch Engel hörte nun<br/>auf zu essen. Und alle kamen näher.<br/><br/>„Monsieur Arista,“ begann Flametti, „sechzig Fran-<br/>ken. StimmFs? Quittieren Sie.“<br/><br/>„Stimmt,“ sagte Arista, „danke schön.“ Quittierte<br/>mit dem Tintenstift, den Flametti ihm hinschob und<br/>strich das Geld ein.<br/><br/>„Bobby — zwei Franken siebenundzwanzig — hier.<br/>Stimmt’s? A conto zweiten soundsoviel, ä conto vier-<br/>ten soundsoviel, ä conto fünften, ä conto achten.“<br/>Er zeigte auf die einzelnen auf der Quittung verrech-<br/>neten Posten.<br/><br/>„Stimmt, stimmt,“ sagte Bobby. „Danke!“<br/><br/>„Hier — quittieren!“<br/><br/>Bobby quittierte.<br/><br/>„Herr Meyer — zehn Franken. A conto vierten —<br/>fünf Franken. A conto achten — fünfzehn Franken.<br/>A conto zwölften — fünf Franken. StimmFs?“<br/><br/>„Ja, stimmt. Danke.“<br/><br/>„Laura — fünf Franken. A conto, ä conto, ä conto,<br/>ä conto.“ Flametti zeigte wieder die einzelnen Po-<br/>sten auf der Quittung.<br/><br/>„Ja, stimmt schon,“ zögerte die Soubrette, ein we-<br/>nig verwirrt und enttäuscht. Eigentlich hatte sie zehn<br/>Franken erwartet. Sie konnte sich aber auch irren.<br/><br/>. . .. _________________ .<br/>
33<br/><br/>„Immer dieselbe Sache,“ massregelte Flametti. Nie<br/>wusste sie, wieviel sie zu bekommen habe, und immer<br/>handelte es sich um etliche fünf Franken, die sie ver-<br/>gass. Aber die Sache klärte sich auf, und auch diese<br/>Auszahlung ging glatt vonstatten.<br/><br/>„Quittieren Sie,“ sagte Flametti und schob dem<br/>Pianisten-Soubrettenpaar die Formulare hin.<br/><br/>Herr Meyer wollte die fünfzehn Franken einstweilen<br/>zusammen an sich nehmen. Aber Laura war keines-<br/>wegs einverstanden.<br/><br/>„Nein, das gibt es nicht!“ erklärte sie ziemlich<br/>verliebt, „das ist mein Geld! Das habe ich verdient!“<br/>und suchte ihrem Freunde Meyer den Fünfliver zu<br/>entreissen. Und als ihr das nicht sofort glückte, ein<br/>wenig ärgerlich: „Was fällt dir denn ein? Wir haben<br/>doch keine Gütergemeinschaft,“ was Herr Meyer spöt-<br/>tisch zugab.<br/><br/>„Wie sie sich haben!“ flötete süss Frau Häsli.<br/>„Wie sie sich necken! Seht nur!“ Wo ein Krakeel<br/>in Aussicht stand, war sie stets voller Freundschaft<br/>und Sympathie.<br/><br/>„Na so nimm schon deinen Fünfliver!“ murrte der<br/>Pianist und schob sehr unwirsch der Soubrette das<br/>Geldstück hin.<br/><br/>„Grüatzi!“ sagte der Schlangenmensch, steckte sich<br/>eine Zigarette an und verschwand.<br/><br/>„Addio,“ sagte Herr Arista, machte der Jodeltochter<br/>insgeheim ein feuriges Zeichen und verschwand.<br/><br/>„Netter Mensch,“ bemerkte Frau Häsli zu seinem<br/>Abgang. „So bescheiden und lieb!“<br/><br/>„Mahlzeit!“ sagte Herr Engel, der hier nichts zu<br/>erwarten hatte, „komme später nochmal vorbei“ und<br/><br/>Flametu. 3<br/>
34<br/><br/>ging ebenfalls; was Fräulein Rosa sehr komisch fand,<br/>denn sie bückte sich blitzschnell nach Nettchen, dem<br/>Dackel, hob ihn hoch und drehte sich tanzend mit<br/>ihm auf dem Absatz.<br/><br/>„Wer kommt jetzt?“ fragte Flametti geschäftig,<br/>aber mit ein wenig verringerter Sicherheit. „Richtig:<br/>Häsli.“ Und beeilte sich, die Summe aufzuzählen.<br/>„Siebenundzwanzig Franken fünfzig.“<br/><br/>„Waaaas?“ rief Frau Häsli, wie von der Tarantel<br/>gestochen. Sie beugte den Oberkörper weit in den<br/>Hüften vor und blieb wie erstarrt so stehen.<br/><br/>„Siebenundzwanzig Franken fünfzig,“ wiederholte<br/>Flametti und setzte den Tintenstift überrascht mit dem<br/>stumpfen Teil auf den Tisch.<br/><br/>„Siebenundzwanzig Franken fünfzig? Häsli,<br/>komm!“ Sie packte den Gatten am Aermel. „Häsli,<br/>komm! Das ist nichts für uns.“<br/><br/>Häsli drehte sich auf dem Absatz und machte sich<br/>los. Er war unangenehm berührt.<br/><br/>„Marsch, marsch, fort, komm!“ drängte die Jod-<br/>lerin und packte ihn von neuem heftig am Aermel. Sie<br/>gab keinen Pardon.<br/><br/>„Na, mal langsam!“ brummte Flametti. Und ihre<br/>Tochter zog eine missmutige Schnute und stampfte<br/>hörbar ungehalten „Mutter!“<br/><br/>Aber Frau Häsli liess sich nicht beirren. „Nein,<br/>das ist nichts für uns!“ tobte sie und schüttelte ab-<br/>weisend die erhobene Hand. „Die Häslis sind nicht<br/>diejenigen, die sich drücken lassen. Ich kenne das<br/>schon! Ich weiss schon, worauf das hinausläuft. Häsli,<br/>komm!“<br/><br/>„Na was ist denn?“ interessierte sich Jenny, begü-<br/><br/>——<br/><br/>
35<br/><br/>tigend und phlegmatisch. Sie kam aus dem Schlaf-<br/>zimmer und steckte sich friedlich das Haar auf.<br/><br/>„Himmelherrgottsakrament!“ fluchte jetzt Flametti<br/>und schnellte vom Sofa auf. „Was gibt’s denn? Was<br/>passt euch denn nicht? Was wollt ihr denn? Macht<br/>doch den Schnabel auf, wenn euch etwas nicht passt!“<br/>Die Zornadern waren ihm angeschwollen. Er sah aus<br/>wie ein tanzender Fakir.<br/><br/>Häsli bekam’s mit der Angst, schüttelte die Frau<br/>ab und meinte kleinlaut: „Max, rechn’ ’s mal vor!“<br/><br/>„Da ist gar nichts vorzurechnen!“ schnitt ihm die<br/>Alte das Wort ab. „Gar nicht nötig. Wenn ich hör:<br/>siebenundzwanzig Franken fünfzig, dann hab’ ich schon<br/>genug. Dann braucht man mir gar nichts mehr vorzu-<br/>rechnen!“ Und nestelte zitternd an ihrer Bluse.<br/><br/>„Was wollt ihr denn?“ schrie Flametti noch lauter<br/>und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.<br/>„Fünfzig Franken Vorschuss bei Engagements-<br/>antritt ----“<br/><br/>Beide nickten, Frau Häsli so hastig, als ob sie nicht<br/>abwarten könne, weiter zu hören.<br/><br/>„Dreissig ä conto an Häsli nach Bern —“<br/><br/>„So? So?“ unterbrach Frau Häsli. „Dreissig ä<br/>conto nach Bern für die Lumpenmenscher, für die<br/>Reitschuldamen, für die Fetzen?“ Ihre Stimme<br/>schnappte über.<br/><br/>„Dreissig ä conto nach Bern,“ bestätigte Herr Häsli<br/>in aller Ruhe.<br/><br/>„Toni, komm!“ rief Frau Häsli und packte die<br/>Tochter am Arm. „Toni, komm! Spuck deinem Vater<br/>ins Gesicht! Sieh ihn an, wie er dasteht! Als wenn<br/>
36<br/><br/>er nicht auf drei zählen könnte! Dreissig ä conto nach<br/>Bern! Und wir hungern zuhaus!“<br/><br/>Jetzt wurde aber auch Herr Häsli fuchtig. „Soll ich<br/>vielleicht von der Luft leben? Hab* ich dir nicht zehn<br/>Franken davon geschickt und den Koffer ausgelöst?“<br/>„Was für einen Koffer ausgelöst? Die alte Schar-<br/>teke! Den Koffer hat er ausgelöst! Dreissig Franken<br/>braucht er dazu! Wasserrutschbahn fahren mit den<br/>Menschern! Mit den Kellnerinnen scharwenzeln! Herr<br/>Häsli hinten, Herr Häsli vorne! Schau mich nicht so<br/>an, Mensch!“ Mit ausgebreiteten Händen und vor-<br/>gereckter Stirn stand sie da, im Begriff, ihm an die<br/>Gurgel zu fahren.<br/><br/>„Mutter!“ suchte die Tochter zu beschwichtigen.<br/>„Dummes Weib!“ brachte Herr Häsli mit aller<br/>Ruhe und Verachtung auf, sah die Alte an, als zweifle<br/>er an ihrem Verstand, und sah wieder von ihr weg.<br/><br/>„Na, was wollt ihr also?“ schrie Flametti und<br/>wühlte krampfhaft und hitzig in seinen Papieren, um<br/>die Belege zu finden.<br/><br/>„Weiter!“ drängte die Alte, „nur weiter!“<br/>„Zwanzig ä conto an Toni am siebenten.“<br/>„Stimmt, stimmt!“ drängte die Alte, „nur weiter!“<br/>Die zwanzig Franken waren für eine Seidenbluse der<br/>Mutter.<br/><br/>Jetzt war aber Herr Häsli seinerseits erstaunt.<br/>„Zwanzig Franken? Für was?“ fragte er sprachlos.<br/><br/>„KümmeF dich nicht!“ rief Frau Häsli. „Lass dir<br/>lieber vorrechnen, was noch weiter kommt. Damit<br/>du siehst, was für ein Peter du bist!“<br/><br/>„Ja, dann freilich!“ verzichtete Herr Häsli. „Da<br/>hat ja alles keinen Zweck! Da kann man ja schuften<br/>
37<br/><br/>wie man will! Wenn es hier nur so zwanzigfrankenweise<br/>weggeht! Fünf Tage ist man fort, und zu Haus ver-<br/>brauchen sie zwanzig Franken für Kino, Schokolade,<br/>für Putz und Schnecken!“<br/><br/>„Kümmer’ dich um dich!“ schrie Frau Häsli. Der<br/>Geifer stand ihr in den Mundwinkeln. „Auf den Hund<br/>möcht’ er einen bringen, und einem nicht einmal die<br/>paar Fetzen gönnen, die man auf dem Leibe hat!<br/>Dich kenn’ ich, mein Lieber! Ich weiss ganz genau,<br/>was du vorhast mit uns!“<br/><br/>Nun muss man wissen, dass mit Frau Häsli nicht<br/>zu spassen war. In Antwerpen und St. Pauli hatte sie<br/>Matrosen bedient. Ein Gummiknüttel gehörte zu ihrer<br/>Ausrüstung, und die Kassiertasche war mit Eisenketten<br/>am Lederriemen befestigt. Kerle hatte sie nieder-<br/>geschlagen, baumslang, wenn es drauf ankam. Der<br/>Varieteberuf war ihr zu still. Mit der Hess sich<br/>nicht spassen.<br/><br/>Also gab auch Herr Häsli klein bei, und weiter<br/>ging’s mit der Abrechnung.<br/><br/>„Dann am zwölften zweiundzwanzig Franken fünf-<br/>zig vorgestreckt für Zimmer und Konsumation------“<br/><br/>Die Häslis bewohnten zusammen ein Zimmer in einem<br/>Gasthof, das sich die Damen selbst ausgesucht hatten,<br/>das aber Flametti bezahlte, weil er Verbindungen hatte<br/>mit dem Wirt.<br/><br/>„Schon gut, schon gut,“ winkte Frau Häsli ab,<br/>„ich weiss schon genug. Bleiben siebenundzwanzig<br/>Franken fünfzig. Stimmt schon. Ja, stimmt schon.<br/>Häsli, quittier! Wir gehen.“ Dabei schob sie die<br/>Tochter mit beiden Händen wie aus einer Verbrecher-<br/>kneipe vor sich zur Tür. „Wir verzichten. Kannst<br/>
38<br/><br/>alles selber nehmen. Ich für meinen Teil will nichts<br/>davon haben. Wir verdienen uns schon unser Brot.“<br/><br/>Und Frau Häsli nebst Tochter waren verschwunden.<br/><br/>Nettchen bellte. Jenny färbte sich rosenrot im Ge-<br/>sicht vor verhaltenem Aerger. Herr Häsli quittierte,<br/>und Flametti schob ihm das Geld hin.<br/><br/>„Mahlzeit, Max!“ sagte Herr Häsli geknickt und<br/>bedauernd. „Nichts für ungut!“ und reichte Flametti<br/>die Hand.<br/><br/>„Salü!“ sagte Flametti offiziös und packte sein«<br/>Sachen ein.<br/><br/>Auch Herr Meyer und Fräulein Laura gingen. Ei-<br/>gentlich hatten sie um Zulage bitten wollen. Die Ge-<br/>legenheit schien ihnen aber nicht günstig.<br/><br/>1<br/>
II.<br/><br/>„Siehst du die Anarchisten,“ sagte Jenny, als alte<br/>gegangen waren, „siehst du sie jetzt? Brauchst nur<br/>mal paar Tage kein Geschäft zu haben — gleich wer-<br/>den sie üppig. Nur in Verlegenheit braucht man zu<br/>kommen — schon laufen sie fort. Forellen müsst ich<br/>ihnen vorsetzen, das Kilo für acht Franken. Dann<br/>solltest du sehen! Diese Häsli — ach du mein<br/>Göttchen, wie sie hier ankam! Aus Gnade und Barm-<br/>herzigkeit hat man sie aufgenommen. Das ist der<br/>Dank. Ausgehungert waren sie, dass Gott erbarm.<br/>Jetzt sind sie auf einmal vornehm. — Was machen<br/>wir nur, Max? Du wirst sehen, sie laufen uns fort!“<br/><br/>Aber Max hatte keine Lust zu Meditationen. „Ah<br/>was!“ sagte er unwirsch und kramte verärgert in<br/>seiner Tischschublade.<br/><br/>Die Tür ging auf, und herein kam Fräulein Theres,<br/>lendenlahm und verdriesslich. Der Rheumatismus<br/>plagte sie heut ganz besonders. In der matt herunter-<br/>hängenden Hand hielt sie einen angerauchten Stum-<br/>pen und blies mit spitzem Munde den Rauch von sich.<br/>Unaufgefordert nahm sie Platz, knetete schmerzhaft<br/>ihren Gichtschenkel und drehte sich schnaufend auf<br/>dem Stuhl.<br/><br/>„Frau,“ sagte sie, „wird gebügelt?“<br/>
„Jawohl, Theres, mach’ die Eisen heiss.“<br/><br/>Und Theres erhob sich mühsam und trosste ab,<br/>um die Eisen heiss zu machen.<br/><br/>Und Fräulein Rosa legte den Bügelteppich auf den<br/>Tisch und holte den Wäschekorb aus dem Bretterver-<br/>schlag, um die Wäsche einzuspritzen.<br/><br/>Flametti aber hatte beim Abschliessen der Schieb-<br/>lade einen Schaden am Schloss gefunden, zückte den<br/>Hausschlüssel und hämmerte damit am Schlüsselloch.<br/><br/>Es klopfte.. Die Türe ging auf, und herein trat<br/>Fräulein Lena, vormals Pianistin bei Flametti.<br/><br/>„Grüatzi!“ sagte sie und schob sich in drei freund-<br/>lichen Wellen herein.<br/><br/>„Tag, Lena!“ nickte Jenny, „komm nur herein!“<br/><br/>„Wenns erlaubt ist!“ sagte Lena.<br/><br/>„Tag, Lena!“ bekräftigte Flametti, ohne aufzusehen;<br/>so versunken war er in seine Reparatur.<br/><br/>„Bügelt ihr?“ fragte Lena.<br/><br/>„Ja, wir bügeln,“ wischte Jenny sich die Schweiss-<br/>hände an den Busen.<br/><br/>Theres brachte das Bügeleisen, und Lena nahm<br/>ihren Stuhl.<br/><br/>„Schöne Sachen hört man!“ rückte sich Lena auf<br/>ihrem Stuhl zurecht.<br/><br/>„Um Gotteswillen, Lena, was gibt es denn?“<br/><br/>„Ja ja,“ seufzte Lena.<br/><br/>„Was denn, Lena? Sprich doch!“<br/><br/>Und zu Rosa: „Geh mal raus in die Küche! Ich<br/>ruf dich dann!“<br/><br/>Flametti hämmerte angelegentlich und beflissen<br/>am Schlüsselloch.<br/><br/>„Also hört zu,“ strich Lena ihren Rock zu den<br/>
41<br/><br/>Füssen, „sie machen euch aus, wo sie können. Sie<br/>erzählen, dass es rutschab geht: ihr zahlt keine Gagen<br/>mehr; es gibt nichts zu essen. Ihr bekommt keine Ge-<br/>schäfte mehr. Grad haß’ ich den Bollacker ge-<br/>troffen. Mit dem hat’s doch die Häsli. Von einem<br/>Türken haben sie erzählt und von Opium. Ich weiss<br/>ja nicht, was ihr da habt. Aber sie sagten, es sei<br/>ihnen zu brenzlich und sie sähen sich nach einem<br/>anderen Engagement um.“<br/><br/>„Was haben sie erzählt?“ duckte sich Jenny. „So<br/>eine Gemeinheit! So eine Niedertracht! Hörst du, Max,<br/>was sie ausstreuen ? Wie sie sich rächen ? Ihren Gadsch<br/>hat sie instruiert, dass er herumgeht und uns das Ge-<br/>schäft verdirbt! So eine Infamie! — Weisst du was,<br/>Max? Die wollen selbst anfangen. Die laufen uns fort.<br/>— Wir, keine Geschäfte mehr! Lena, man läuft sich<br/>die Füsse wund, dass wir spielen! An der Haustür<br/>fängt man uns ab! Wir brauchten nur rübergehen zum<br/>,Krokodil'! — Du kennst doch das ,Krokodil'! Eins A,<br/>dreihundert Franken Draufgeld! Aber wir wollen nicht,<br/>weil wir neu einstudieren. Weisst du: der Braten war<br/>bisschen angebrannt. Das hat diese Alte so verbiestert,<br/>dass sie jetzt überall ausschreit, sie hätte zu hungern<br/>bei uns. Du kennst doch unsere Kost! Warst drei Jahre<br/>bei uns. Hast du dich je zu beklagen gehabt? Ist<br/>dir je etwas abgegangen?"<br/><br/>Lena schüttelte den Kopf. Nein, sie hatte sich nie<br/>zu beklagen gehabt, noch war ihr je etwas abgegangen.<br/><br/>Max hämmerte gewaltsam mit seinem Hausschlüssel<br/>am Schiebladenschloss.<br/><br/>„Na, gut’ Nacht!" rief Jenny, „ich sollte der Direk-<br/>tor sein! Ich würde sie anders zwiebeln! Hier die<br/>
42<br/><br/>Gage, soundsoviel Abzug und den Schuh an den Hin-<br/>tern! Treppe hinunter.“<br/><br/>„Ja ja, ich hör’ schon!“ fuhr Flametti jetzt auf.<br/>„Ich hör' schon. Bin doch nicht schwerhörig! Dummes<br/>Geschwätz!“<br/><br/>Jenny war überrascht. Fräulein Lena ebenfalls.<br/>Er hatte doch gar nicht zugehört! Er hatte doch an<br/>dem Schloss laboriert!<br/><br/>Flametti stand auf, sehr rasch, krempelte seine<br/>Hemdärmel herunter, knöpfte das Halsbördchen zu und<br/>ging in die Küche, um sich die Hände zu waschen. Er<br/>kam zurück, nahm Joppe und Hut und ging.<br/><br/>„Da hast du es!“ klagte Jenny, „da geht er. Ach<br/>Lena, ich bin ganz verzweifelt! So macht er es immer.<br/>Seit er die Geschichte hat mit dem Türken ist er wie<br/>verdreht. Kaum den Löffel aus dem Mund — fort ist<br/>er. Alles mögliche hab* ich versucht. Er hört mich<br/>nicht einmal an. Wir gehen zu Grund. Ich seh’s ja.<br/>Was soll ich nur machen?“<br/><br/>„Tja,“ meinte Lena, „was ist da zu machen?“<br/><br/>Flametti war dieser ,Summs‘ zuwider.<br/><br/>Gewiss, er liebte seine Frau. Sie war ein wenig<br/>furchtsam von Gemüt und leicht zu Uebertreibungcn<br/>geneigt, wie alle furchtsamen und aufgeregten Ge-<br/>müter. Aber sie meinte es gut, war keine böse Natur<br/>und er hätte ihr gerne ein wenig Gehör schenken<br/>dürfen. Doch er schätzte es nicht, seine innersten<br/>Geschäfts- und Familiengeheimnisse coram publico ver-<br/>handelt zu sehen.<br/><br/>Gewiss, das Geschäft ging schlecht. Schlechte Zei-<br/>ten und keine Schlager.<br/><br/>Gewiss, ein Ensemble von zehn lebendigen Men-<br/>
43<br/><br/>sehen verlangt, sich standesgemäss zu nähren, zu klei-<br/>den und zu Triumphen geführt zu werden.<br/><br/>Obendrein: eine Konkubinatsstrafe von hundertacht-<br/>zig Franken war zu zahlen — der Beamte der Kriminal-<br/>abteilung hatte zweimal bereits die Quittung präsentiert<br/>— und von der Fischerei konnte man das nicht bestrei-<br/>ten. Das wusste Flametti selbst.<br/><br/>Aber Schlager fallen nicht vom Himmel. Er hatte<br/>schon seine Pläne. Man brauchte ihn nicht zu hetzen<br/>und die halbe Nachbarschaft dabei zuzuziehen.<br/><br/>Gar diese Lena: Ein schönes Stück Malheur! Die<br/>musste dann gerade noch kommen! Grausliches Weib!<br/>Keine galante Erinnerung aus seiner Direktorenzeit<br/>war Flametti unangenehmer als diese. Ein Vampir.<br/>Nicht von der Spur wich sie, wenn sie einmal Blut<br/>geleckt hatte.<br/><br/>Tüchtig war sie, als Pianistin. Russisch sprach sie<br/>auch, von Lodz her. Aber ein Mundwerk hatte sie wie<br/>ein Schwert. Eine böse Zunge. Und das nun verstand<br/>Flametti nicht, wie Jenny sich mit ihr einlassen konnte.<br/><br/>Man soll ihn in Ruhe lassen. Es wird es schon<br/>machen. 1— I ' ' _<br/><br/>Die Hände in beide Hosentaschen gesteckt, so<br/>dass der Rockschoss weit hinten abstand, den breit-<br/>krämpigen Filzhut tief in die Stirne gerückt, froh, sei-<br/>nem häuslichen Glück entronnen zu sein, schickte Fla-<br/>metti sich an, einen Gang zu unternehmen durch sein<br/>Revier.<br/><br/>Dieses Revier nannte sich „Fuchsweide“ und war<br/>der Konzert- und Vergnügungsrayon aller lebenslustig-<br/>abseitigen Kreise der Stadt. Treffpunkt der grossen<br/>Welt, Schlupfwinkel einiger unsicherer Elemente, zu-<br/>
44<br/><br/>gegeben. Aber alles in allem ein Monaco und Monte<br/>Carlo im kleinen.<br/><br/>Flametti fühlte sich frei wie ein Fürst. Aller Hader<br/>fiel von ihm ab. Aller Kleinmut verliess ihn. Hier<br/>kannte er jeden Weg, jeden Steg; jede Kneipe, jede<br/>Latrine. Hier war der Felsen, hier musste gesprungen<br/>werden. Hier fielen die Würfel, hier war man zu Hause.<br/><br/>Vorbei am Alteisengeschäft des Herrn Ruppel und<br/>an der ,Drachenburg'; vorbei an der Fischhandlung<br/>,Teut' mit ihren Riesenaquarien voll stumpfsinniger<br/>Hechte und Karpfen, vorbei an ,Hähnleins Kleider-<br/>bazar' und ,Lichtlis Frisiersalon'; vorbei am ,Oliven-<br/>baum' und an der ,Tulpenblüte', schwenkte Flametti<br/>in die Hauptverkehrsader der Fuchsweide, die buck-<br/>lige Quellenstrasse ein.<br/><br/>Er verlangsamte seine Schritte und klimperte, über-<br/>legend, mit dem Geld in der Tasche. Er schnupperte<br/>in der Luft, die nach Kaffee roch und zündete sich<br/>eine Zigarette an.<br/><br/>Hier war der Korso! Hier war der Betrieb! Es wei-<br/>tete sich seine Brust und er atmete auf. Kein Gesicht,<br/>das er nicht kannte. Kein Laden, mit dessen Jnhaber<br/>er nicht schon Tausch und Geschäfte hatte.<br/><br/>Auf dem ,Mönchsplatz' sassen die Katzen und putz-<br/>ten sich in der Sonne. Es war eine Unmenge Katzen,<br/>graue, schwarze und rote. Aber es war Platz genug<br/>für sie da. Nachts sangen sie hoch auf den Dächern.<br/><br/>Auf dem ,Mönchsplatz' lärmten die Kinder. Sie<br/>putzten einander die Nasen, banden einander die Hosen<br/>zu, säuberten sich die Köpfe. Aber um jeden Kopf<br/>legte die Sonne eine kleine Gloriole.<br/>
45<br/><br/>Ueber den ,Mönchsplatz' sprang Fräulein Frieda,<br/>die Kellnerin, dass die Röcke flogen.<br/><br/>„Servus Flametti!" rief sie. Es war eine Lust, zu<br/>leben.<br/><br/>Die Niedermeyers hatten Umzug heute. Auf ein<br/>Rollwägelchen hatten sie ihre Sachen gepackt; auch<br/>den Kanarienvogel. Der Mann schob. Die Frau half<br/>drücken. Die Kinder halfen auch drücken und der<br/>kleine Peter hob die Sachen auf, die vom Wagen her-<br/>unterfielen.<br/><br/>„Wo wohnt ihr jetzt?" rief Flametti.<br/><br/>Und Herr Niedermeyer rief: „Kuttelgasse 33, V.!"<br/><br/>„Angenehmer Flohbiss!" rief Flametti zurück. Er<br/>war ein grosser Mann und konnte sich’s leisten.<br/><br/>Die Hände in den Hosentaschen, breitspurig und<br/>schwer, den Schritt wuchtig aufs Pflaster gesetzt, ging<br/>er hinüber zur Postfiliale.<br/><br/>„Eine Fünferkarte!"<br/><br/>Der Beamte händigte ihm die Karte aus und Flametti<br/>schrieb an Herrn Fritz Schnepfe, Varietelokal, Basel:<br/><br/>„Werter Freund!<br/><br/>Teile mir, bitte, umgehendst mit, ob du geneigt bist,<br/>Flamettis Varieteensemble zu engagieren für die Zeit<br/>vom 1. bis 31. Dezember laufenden Jahres, sowie die<br/>Bedingungen. Wir haben lauter neue Nummern, erst-<br/>klassige Attraktionen, und es dürfte nur in deinem In-<br/>teresse sein, dir mein Ensemble für die allfällige Zeit<br/>zu sichern.<br/><br/>Hochachtungsvoll<br/><br/>Dein Flametti."<br/><br/>Kehrte dann zurück in die Quellenstrasse und lenkte,<br/>am Luftgässlein vorbei, vorbei an dem kleinen aber<br/>
46<br/><br/>seiner Weine wegen berühmten Gasthaus zu den ,Drei<br/>Sternen', vorbei am Mordloch mit den Gastwirtschaften<br/>,Hopfenzwilling' und ,Jerichobinde‘, vorbei an der Stu-<br/>tenreite, in die Obere Träufe.<br/><br/>Es war ein Gang voller angestrengter Gedanken-<br/>arbeit. Im Gehen pflegte Flametti zu denken. Bei<br/>scheinbarem Schlendern fand er die besten Entschlüsse.<br/><br/>Zwei Herren kamen die Strasse herunter, geraden-<br/>wegs auf ihn zu. Verflucht nochmal!<br/><br/>Der eine elegant, schwarzer Schnurrbart aufgekräu-<br/>selt, glattes, feistes Gesicht und glänzende Drehaugen.<br/>Der andere hager, fanatisch, nervös: „Peter und Paul".<br/>Ein Schäferhund, leichte Patten, tief wehender Hänge-<br/>schwanz, folgte ihnen wippend auf dem Fuss.<br/><br/>Flametti steckte die Hände noch tiefer in seine<br/>Taschen, festigte seinen Gang um ein Erhebliches und<br/>grüsste forciert: „Salü!"<br/><br/>Die beiden nahmen ihn scharf aufs Korn, musterten<br/>unauffällig mit einem kurzen Blick seinen Anzug und<br/>gingen vorüber.<br/><br/>Herr Abraham Cohn stand unter der Tür seines<br/>Magazins ,Zum Chnusperhüsli'. Er deutete mit dem<br/>Kopf nach den beiden sacht gehenden Beamten.<br/><br/>Flametti benutzte die Gelegenheit, stehen zu bleiben<br/>und meinte: „Die Apostel gehen um!"<br/><br/>„Was wolln se?" meinte Herr Cohn, „mer muss<br/>se hamm. Wär mer sonst sicher?"<br/><br/>Flametti trat ein und kaufte eine Düte Leckerli.<br/><br/>Er ging weiter und kehrte ein im Gasthaus ,Zum<br/>Vogel Strauss', wo die ausgestopfte Gebirgsgemse und<br/>der balzende Auerhahn standen, rechts und links vom<br/>Entree.<br/>
4?<br/><br/>Der Auerhahn trug die Fischkarte mit beigedruckten<br/>Preisen um den Hals gehängt. Die Gebirgsgemse flet-<br/>schte die Zähne, ganz unnötigerweise, und sah todes-<br/>mutig gen Himmel, ein Symbol ihrer Heimat. Auf dem<br/>Sockel aus Felsen und Moos lagen zerstreut die Haare,<br/>die sie gelassen hatte im Kampf mit der Scheuerbürste<br/>des Hausknechts.<br/><br/>Flametti trat ein und überflog mit einem Adlerblick<br/>die drei Gäste, die hier versammelt waren.<br/><br/>Verflucht nochmal! In der Ecke sass Kranemann!<br/>Kranemann, das Moskitogesicht; Kranemann, die ge-<br/>schniegelte Niedertracht und Korrektheit; Kranemann,<br/>Flamettis erbittertster Feind. Das war nicht vorauszu-<br/>sehen.<br/><br/>Einen Moment überlegte Flametti. Sollte er um-<br/>kehren? Sollte er tun, als habe er sich im Lokal geirrt?<br/>Sollte er an den Hut fassen und grüssen: „Salü!<br/>Komme später“?<br/><br/>Da stand aber Kranemann schon auf, kam auf ihn<br/>zu, wie von ungefähr, und sagte: „Ah, Flametti! —<br/>was ist mit der Quittung? Wann wird sie eingelöst?<br/>Höchster Termin!“<br/><br/>„Hoi, hoi, hoi!“ bockte der und trat einen Schritt<br/>zurück. „Nur langsam! Lass erst mal absitzen, dami-<br/>scher Kerl!“ Und beschloss jetzt, zu bleiben.<br/><br/>„Nix da!“ rief Kranemann und fasste ihn leicht<br/>beim Kragen, „heut ist der letzte Termin! Zahlen!“<br/>und warf ein Zwanzig-Centimes-Stück auf den Tisch.<br/><br/>Und wieder zu Flametti: „Den ,damischen KerF<br/>werden wir uns merken. Wir sprechen uns noch!“<br/>Schob seine Röllchen zurück und verschwand.<br/>
"<br/><br/>—<br/><br/>48<br/><br/>„Was hat’s denn?“ fragte der Wirt neugierig,<br/>drückte den schwarzen Kneifer fester auf die Nase und<br/>kam näher. Auch die Gäste am Kartentisch waren auf-<br/>merksam geworden.<br/><br/>„Na,“ sagte Flametti, „was hafs? Du kennst doch<br/>das damische Luder!“ ,<br/><br/>Der Wirt schien das ,damische Luder' durchaus<br/>nicht zu kennen.<br/><br/>„Ne Halbe?“ rief die Kellnerin. Und Flametti nahm<br/>Platz.<br/><br/>„Du musst nämlich wissen,“ vertraute er dem Wirt,<br/>„ich hab’ doch die Konkubinatsstrafe, weil wir nicht<br/>verheiratet waren. Nun hab’ ich doch inzwischen gehei-<br/>ratet und prozessiert. Und das haben sie abgelehnt.<br/>Nun machFs mit den Prozesskosten zusammen seine,<br/>hundertachtzig Stein. Und die wollen sie haben von<br/>mir. Und dieser Kerl war doch früher Latrinenbesitzer.<br/>Dann ist er zur Polizei übergegangen. Das ist dieser<br/>Kranemann. Und das dumme Luder meint nun, er<br/>kann mich schikanieren. — Siehst du, er tut mir ja<br/>leid. Aber es ist doch zu fad: wo man hinspuckt, stol-<br/>pern einem diese traurigen Kreaturen über die Füsse!“<br/>„Ah, so so so so!“ verstand jetzt der Wirt, „das<br/>ist der Kranemann. Ja, so zahl’ doch die paar Stein!<br/>Dann hast du doch Ruhe! Man immer berappen!“<br/>„Siehst du,“ kippte Flametti sein Bier, „jetzt erst<br/>recht nicht! Jetzt sollen sie sich mal die Beine in den<br/>Leib laufen!“ i<br/><br/>„Tja,“ meinte der Wirt bedenklich, „die verstehen<br/>keinen Spass. Da ist’s schon das Gescheitste, man gibt<br/>nach.“ Er lächelte schablonig und strich sich die<br/>Hände.<br/>
49<br/><br/>„Maidche, komm her!“ rief Flametti der Kellnerin<br/>und zog die Düte mit den Leckerli aus der Rocktasche.<br/>„Das ist für dich!“ Und Maidche nahm beschämt die<br/>Leckerli in Empfang.<br/><br/>„Ein Don Juan, dieser Flametti!“ versicherte der<br/>Wirt seinen schmunzelnd weitertrumpfenden Gästen.<br/><br/>„War der Mechmed da?“ fragte Flametti die Kell-<br/>nerin.<br/><br/>„Nein, bis jetzt nicht.“<br/><br/>Flametti sah nach der Uhr, geschäftsmässig, ohne<br/>indessen verabredet zu sein. Nach der dritten Halben,<br/>als er eben gehen wollte, öffnete sich die Tür und<br/>herein trat Mechmed.<br/><br/>Ali Mechmed Bei hiess der Türke. Er wohnte im<br/>Parkhotel und kam aus Aleppo. Und darin hatte Jenny<br/>wohl recht, dass Flametti ein wenig verdreht war im<br/>Kopf, seit er den Türken kannte.<br/><br/>Ali Mechmed Bei: schon der Name faszinierte Fla-<br/>metti. Eunuchen, Sklaven und Harem wirbelten vor<br/>seinen aufleuchtenden Augen, wenn er in heimlichen<br/>Stunden den Namen vor sich hinsprach.<br/><br/>Ali Mechmed Bei: enorme Gelder musste er haben.<br/>Man wusste nicht recht, was er eigentlich trieb. Aber<br/>er kam häufig in den ,Vogel Strauss* und dort hatte<br/>Flametti seine Bekanntschaft gemacht.<br/><br/>Ein grosses Tier musste er sein unter seinesgleichen.<br/>Denn er hatte noble Allüren an sich. Dämonisch zog<br/>er die dichten, weissen Augenbrauen hoch, wenn man<br/>ihn ansprach und pflegte mit den Fingern zu trommeln<br/>auf der Tischdecke. „Tja, mein lieber Freund!“ sagte<br/>er dann, nickte mit dem Kopfe in einer weltmännisch-<br/>gewitzigten Weise und sah nach der Decke, wo er jede<br/><br/>Flametti. 4<br/>
50<br/><br/>Fliege, jeden Schnörkel der Tüncherarbeit eingehend<br/>verfolgte.<br/><br/>Tiefe kaffeebraune Tränensäcke hingen ihm unter<br/>den Augen, und diese Augen selbst blickten in abgrün-<br/>diger Melancholie.<br/><br/>Horrente Trinkgelder gab er, besass einen Geld-<br/>beutel aus Affenhaut und roch, seiner orientalischen<br/>Herkunft gemäss, nach Zwiebel, Henna und Kokos-<br/>nuss.<br/><br/>Dieser Türke Mechmed trat jetzt ins Lokal und Fla-<br/>metti verfolgte jede seiner Bewegungen mit glühender,<br/>heisshungriger Sympathie.<br/><br/>Paletot und Regenschirm hing Herr Mechmed an<br/>den Kleiderhaken und es kann zugestanden werden,<br/>dass die kleine, untersetzte Gestalt, die jetzt, zerfallen<br/>und morbid, aber freundlich lächelnd auf Flametti zu-<br/>kam, den mysteriösen Gestus jener Leute hatte, die im<br/>Traum wiederkehren. Jener Leute, die sehr wohl die<br/>Macht besitzen, ein Varieteunternehmen zugrunde zu<br/>richten, dessen Direktor nicht Zurückhaltung zu wahren<br/>weiss.<br/><br/>Dieser Türke Mechmed nämlich, dessen Smoking<br/>ölig glänzte, dessen Aeusseres fadenscheinig war, be-<br/>sass ein Opiumlager, hier am Platz, auch Kokain und<br/>Haschich, im beiläufigen Werte von vierzigtausend<br/>Franken, nur prima reine, unverfälschte Ware, erste<br/>Qualität, das er — je nun! — geschmuggelt hatte, und<br/>das er — verstehen Sie! — ohne Profit, nur weil es<br/>ihn behinderte, bereit war, bei konvenierender Gelegen-<br/>heit abzustossen.<br/><br/>Und da Flametti sozusagen Fachmann war — er<br/>rauchte Opium in der Zigarette, nahm es wohl auch<br/>
51<br/><br/>im Bier —, den Rummel verstand, ein Kerl war, so<br/>sollte er, bei Gelegenheit, mal sehen, was sich tun Hess.<br/>Man hat Bekannte, einen Arzt, einen Advokaten, einen<br/>Geschäftsfreund. Ist ja 'ne Bagatelle, vierzig Mille,<br/>liegt ja auf der Strasse, ist ja gefunden, ist ja ein Dusel.<br/>So sollte er also mal sehen, ob man nicht, unter der<br/>Hand, vielleicht einen Interessenten fände.<br/><br/>Und Flametti hatte sich auch umgesehen, seit acht<br/>Tagen — Geschäft ist Geschäft! Spitzbuben gibt es hier<br/>wie dorM — und einen Interessenten gefunden. Aber<br/>jetzt wollte er auch wissen, wofür.<br/><br/>„Siehst du, Mechmed,“ begann Flametti, als Mech-<br/>med Platz genommen, die Nase geschneuzt und sich<br/>ein Helles hatte kommen lassen, das er mit den Händen<br/>wärmte, „ist ja alles schön und gut. Wir kennen uns<br/>jetzt seit vierzehn Tagen. Wir haben Brüderschaft ge-<br/>trunken. Aber wir müssen doch jetzt einmal weiter-<br/>kommen. Dein Pass ist abgelaufen — wann?“<br/><br/>„Zweiundzwanzigsten.“<br/><br/>„Zweiundzwanzigsten. Bis dahin musst du das<br/>Quantum los sein.“<br/><br/>Mechmed nickte, allem Anschein nach ganz ver-<br/>trottelt und schläfrig.<br/><br/>Flametti rückte seinen Stuhl näher ran und zündete<br/>sich eine neue Zigarette an.<br/><br/>„Hör' mal zu: ich bin doch kein dummes Luder,<br/>versteht sich.“<br/><br/>Mechmed nickte.<br/><br/>„Du brauchst also innerhalb vierzehn Tagen einen<br/>Käufer. — Zwanzig Prozent!“<br/><br/>Mechmed nahm die Zigarette aus dem Mund, hielt<br/>sie zwischen Zeige- und Mittelfinger weit von sich weg,<br/><br/>1<br/>
52<br/><br/>blies langsam den Rauch aus und überlegte einen Mo-<br/>ment.<br/><br/>„Zwanzig Prozent Provision ?“ sagte er dann und<br/>wiegte den Kopf, „gut! Abgemacht! Was heisst?“ und<br/>war sehr verwundert, wie man an seiner Courtoisie<br/>zweifeln konnte.<br/><br/>„Langsam!“ sagte Flametti. „Ich hab’ den Käufer.<br/>Drei Tage Bedenkzeit. Vierzig Mille bar auf den Tisch<br/>des Hauses.“<br/><br/>Mechmed wurde plötzlich sehr lebendig. Mit einem<br/>Ruck fuhr er auf seinem Stuhle herum. Sein Ellbogen<br/>auf der Stuhllehne stach spitz gegen die Kellnerin, die<br/>mit einem geschickten Seitwärtsschwenken der Hüften<br/>den Tisch passierte.<br/><br/>„Aber,“ sagte Flametti und kreuzte die Arme vor<br/>sich auf dem Tisch, „ich muss nochmal Proben haben<br/>und zwei Mille Vorschuss.“ Wenn man acht Mille<br/>Provision zu erwarten hatte, konnte man wohl zwei<br/>Mille Vorschuss verlangen.<br/><br/>„Nix Proben!“ lehnte Mechmed schwerfällig ab,<br/>die Hand am Ohr, um besser folgen zu können.<br/><br/>Flametti lächelte.<br/><br/>„Sei mal vernünftig, Mechmed,“ begann er von<br/>vorne, „mein Geschäft leidet. Seit acht Tagen bin ich<br/>nun unterwegs, dir einen Käufer zu suchen. Rechne<br/>die Spesen! Man trifft sich im Cafe, zahlt die Zeche<br/>standesgemäss. Verabredungen da und dort, hin und<br/>her. Du weisst selbst, wie das ist----“<br/><br/>„Wie heisst der Käufer?“ fragte Mechmed, ohne<br/>den Kopf zu drehen.<br/><br/>Flametti wich aus. „Wie heisst er? Tut nichts zur<br/>Sache. Prima prima. Kassa. Zahnarzt.“ Es handelte<br/>
53<br/><br/>sich um den Zahnarzt, der Jennys Goldkronen geliefert<br/>hatte, einen Herrn von unzweifelhafter Solvenz, gewiss,<br/>der aber bis dato weder von des Herrn Mechmed<br/>Opiumlager, noch von Flamettis Hoffnung und Agentur<br/>die leiseste Ahnung hatte.<br/><br/>„Tja, mein lieber Freund!“ trommelte Mechmed<br/>auf der Tischkante und sah zur Decke, „wird sich<br/>nicht machen lassen. Sieh mal her!“ und er entnahm<br/>seinem Portefeuille einen ganzen Pack fremdartig ku-<br/>vertierter Briefe, mit denen er eine Hausse aller orien-<br/>talischen Narkotika und die gierige Nachfrage nach<br/>diesen Artikeln spielend belegte.<br/><br/>„Was heisst das?“ stutzte Flametti, ein wenig rauh.<br/><br/>„Das heisst-------:“ — der Türke gähnte, schüttelte<br/><br/>den Kopf und bestellte einen Zwiebelsalat — „lässt<br/>sich nicht machen. Unter fünfzig Mille ausgeschlossen.<br/>Offerten: Papierkörbe voll.“ Und er zog die Briefe aus<br/>den Kuverts.<br/><br/>Flametti sah den Türken in blaue Fernen entschwin-<br/>den. Perdu. Futsch. Aus. Ihm schwindelte. Aber er<br/>versuchte, der Situation gewachsen zu sein.<br/><br/>„Mechmed,“ sagte er, räsonnabel genug, „du bist<br/>kein Filz und ich bin kein Ganef. Ich weiss: es kommt<br/>dir nicht darauf an, wenn du siehst, dass was läuft.<br/>Gut: ich verzichte auf die Proben. Macht fünfzig<br/>Franken. Weg damit! Aber die zwei Mille Vorschuss<br/>— man muss sich bewegen, auftreten können. Nimm<br/>doch Vernunft an! Das ist ja nicht so! Wir sind doch<br/>gut Freund! Du verstehst schon!“<br/><br/>Mechmed verstand. Er nickte. Aber dann schüttelte<br/>er ablehnend den Kopf — er schluckte dabei den<br/>Zwiebelsalat —: „nicht zu machen. Gefährliche Sache.“<br/>
54<br/><br/>Und musterte jenen mit einem profunden Blick. „Va-<br/>riete,“ meinte er, „Weiber, Feuer, Indianer: ja. Ja, ja.<br/>Aber Opium-------.“ Er schüttelte.<br/><br/>„Mein lieber Freund,“ sagte er väterlich, „schwie-<br/>rige Sache. Diffizile Sache. Nicht zu machen.“ Und<br/>dabei verblieb er. Den Daumen hatte er in den Hosen-<br/>bund eingehängt. Den linken Arm Hess er über die<br/>Stuhllehne herunterbaumeln. Er schien darüber nach-<br/>zudenken, wen er zum Nachfolger ernennen könnte.<br/><br/>„So?“ rief Flametti erbost, „das sagst du mir heut?<br/>Nach acht Tagen? Das hätfst du mir wohl auch acht<br/>Tage früher sagen können.“<br/><br/>„Nix Proben!“ schüttelte Mechmed versunken den<br/>Kopf und suchte den Zahnstocher in seiner Westen-<br/>tasche.<br/><br/>„Ah, ich pfeif dir auf deine Proben! Hier und hier<br/>und hier, wenn du sie wieder haben willst.“ Aus der<br/>inneren Rocktasche brachte Flametti dreimal je<br/>eine kleine Papierdüte, Haschich-, Opium- und Ko-<br/>kai'nprobe zum Vorschein, die er heftig in einer Reihe<br/>nebeneinander auf den Tisch schlug und dem Mechmed<br/>zuschob.<br/><br/>Aber Mechmed hatte die überlegene Oeste des pere<br/>noble. „Merci, mon eher ami, c’est pour bonhomie!“<br/>und schob Flametti, ohne einen Blick darauf zu werfen,<br/>die Pulverdüten wieder zu. „Zahlen!“ rief er und<br/>schlug den Geldbeutel aus Affenhaut, den er an einer<br/>Ecke gefasst hielt, grandenhaft auf den Tisch.<br/><br/>Flametti raffte die Proben zusammen, steckte sie ein<br/>und sprang auf.<br/><br/>„Wieso Merci? Wieso Proben? Weisst du, Mech-<br/>med, das ist-----das ist---------“ Seine Augen fun-<br/>
55<br/><br/>y<br/><br/>kelten. Er schien zu Tätlichkeiten geneigt. „ Also<br/>weiss du-----------“<br/><br/>Aber Mechmed hatte sich, etwas schwach auf den<br/>Waden, schon zum Kleiderhaken begeben, nahm Pale-<br/>tot, Hut und Regenschirm herunter; sagte, mit einer<br/>einzigen, grossen, zauberhaften Handbewegung über<br/>den Tisch und Flametti wegsegnend zur Kellnerin:<br/>„Deux francs, Paddition. Bonjour die Herrn!“ und<br/>wandte sich wackelnd zum Ausgang.<br/><br/>Flametti stand gebannt und entwaffnet. Und da er<br/>die Blicke der Gäste auf sich gerichtet sah, liess er<br/>seinen Aerger in ein entschuldigendes Lächeln über-<br/>gehen, setzte sich wieder hin und drehte an seinen<br/>Ringen.<br/><br/>Zu dumm, diese ganze Affäre! Was würde Jenny<br/>dazu sagen? Was war nun das Resultat von vitrzehn<br/>Tagen? Drei Düten Niespulver.<br/><br/>Er musste lächeln, wenn er an den alten Knacker<br/>dachte, der es verstanden hatte, ihn hinzuhalten. Aber<br/>es war ein Lächeln, das saurer wurde, je länger es<br/>währte.<br/><br/>Eigentlich hatte er gehofft, der Türke würde ihm<br/>aus der Klemme helfen. Und mehr:<br/><br/>Beim brasilianischen Konsulat hatte er vorgespro-<br/>chen zwecks Auskünften. Auszuwandern gedachte er,<br/>wenn die acht Mille vom Türken erst flüssig würden.<br/><br/>Sich in der Schweiz mit den Lölis placken? Man ist<br/>doch kein Narr. Die brasilianische Regierung stellt<br/>Land zur Verfügung, soviel man haben will. Baut<br/>einen Rancho. Zwanzig Jahre Kredit. Jenny wird<br/>Kaffee pflanzen. Max Sumpfhühner schiessen. Ein<br/>Pferd kostet dreissig Franken. Eine Kuh zwanzig. Ein<br/><br/>IRHHMMMji<br/>
56<br/><br/>Kalb zehn. Und man atmet in freier Luft; Brust an<br/>Brust mit den Bodokuten.<br/><br/>„Das machen Sie gut!“ unterbrach sich Flametti<br/>mit einer Floskel aus seinem Varietejargon, „freie Luft !“<br/><br/>Ihm fiel die Konkubinatsstrafe ein. Was wird nun<br/>damit geschehen? Nachdem der Türke versagt hat?<br/>Kranemann wird keinen Pardon mehr geben. In die<br/>Wohnung wird er kommen mit dem Arrestbefehl. Mit<br/>dem Loch wird er drohen.<br/><br/>Er, Kranemann, ihn, Flametti arretieren! Flametti<br/>lachte. Zur Treppe wird er ihn spedieren, den Herrn<br/>Kranemann. Vors Fenster wird er ihn hängen, wie<br/>er die Möbel seiner ersten Frau, dieser Xanthippe, vors<br/>Fenster gehängt hat: den Nachtstuhl, den Schrank, die<br/>Kommode, alles hinaus vors Fenster, an langen Stricken.<br/>Da hol* dir’s!<br/><br/>Das war ein Auflauf auf der Strasse! Mit Fingern<br/>zeigten sie auf die Hausfront.<br/><br/>Nun, man soll erst mal sehen, wenn die Detektivs<br/>draussen hängen! Jeder am Rockkragen säuberlich zum<br/>Lüften aufgehängt. Ist's ein Wunder? Geld hat man<br/>keins. Fürs Loch hat man keine Zeit. Und doch wird<br/>man aufs Blut kuranzt...<br/><br/>Wenn man’s bei Licht besieht: die sind doch die<br/>eigentlichen Apachen. Mit diesem Beruf! Warum be-<br/>treiben sie ihn? Aus Rechtlichkeit? Ganz gewiss nicht.<br/>Aus Ordnungsliebe? Keine Spur. Raufbrüder sind es,<br/>verkappte. Herausfordernde Protzen. Leisetreter. Droh-<br/>nen der Gesellschaft.<br/><br/>Auch diese Schäferhunde: das sind schon die rech-<br/>ten! So ein Vieh, ansehen muss man’s: entartete Be-<br/>stien. Wirf ihnen einen Brocken hin: sie schnuppern<br/>
57<br/><br/>nicht einmal dran. Hochverräter an ihrer ganzen Rasse.<br/>Leisetreter wie ihre Herrn.<br/><br/>In seinem, Flamettis Fall: wowohl, er hatte in Kon-<br/>kubinat gelebt. Die Scheidung von seiner ersten Frau<br/>war noch nicht durchgeführt. Wer beklagte sich drü-<br/>ber? Niemand. Macht hundertfünfzig Franken Busse.<br/>Inklusive Prozesskosten: hundertachtzig Franken.<br/><br/>Sah man von diesem Geld je etwas wieder? Wurde<br/>dafür die Fuchsweide verschönert? Ein neuer Bahnhof<br/>gebaut? Flametti reiste wenig. Ihn interessierte es<br/>nicht. Aber die hundertachtzig Franken, die interes-<br/>sierten ihn.<br/><br/>„Zahlen!“ rief er laut und patzig.<br/><br/>Als er auf die Strasse trat, fielen ihm Jenny und<br/>das Geschäft wieder ein.<br/><br/>Hinüber lenkte er sjur Filiale des ,Tagblatt‘ und<br/>gab eine Annonce auf:<br/><br/>„Lehrmädchen gesucht.<br/><br/>Kostenlose Aufnahme und Ausbildung.<br/><br/>Flamettis Variete-Ensemble.“<br/><br/>Kostete drei Franken achtzig. Er nahm die Quittung<br/>und seinen Ausweis in Empfang und kehrte um. Seine<br/>Stimmung, so sehr er auch grübelte, klärte sich auf.<br/><br/>Auf dem Brunnplatz hielt ein kleines Gerümpelauto.<br/>Ein Mechaniker in blauem Arbeitsanzug flickte am<br/>Reifen. Eine Anzahl Kinder um ihn herum. Die Ver-<br/>wegensten drückten verstohlen auf die Gummiblase<br/>der Huppe, was einige grunzende, missfarbige Laute<br/>zur Folge hatte.<br/><br/>Flametti stoppte und sah sich den Karren an.<br/><br/>„Panne?“ fragte er den Chauffeur.<br/><br/>„Panne,“ erwiderte dieser, eifrig beschäftigt.<br/>
58<br/><br/>Der Schaden war rasch repariert. Die Kinder des<br/>Autobesitzers stiegen auf. Der Chauffeur ebenfalls.<br/>Einige grunzende Laute der Huppe und der Kraft-<br/>wagen setzte sich unter dem lauten Johlen der schmut-<br/>zigen Kinderschar, die sich aus allen Löchern und<br/>Winkeln eingefunden hatte, in Bewegung. Die Kinder<br/>des Besitzers spuckten dabei von ihrem Sitz aus in<br/>weitem Bogen und mit aller Anstrengung auf die Prole-<br/>tarierkinder, die sich hinten angehängt hatten und mit<br/>geknickten Beinen, trompetend, nachschleppen Hessen.<br/>Ein Auto in der Fuchsweide, so früh am Abend, war<br/>ein Ereignis.<br/><br/>Die Quellenstrasse wieder hinunter schritt Flametti,<br/>vorbei an Ismaels ,Holländerstübli', vorbei an ,Musel-<br/>manns Zigarettengeschäft', wo im Schaufenster der<br/>Philipp sass, den roten Fes auf dem Kopf, Zigaretten<br/>fabrizierend; vorbei am ,Schlankeren Jacob' und an<br/>den Geschäftslokalitäten der Heilsarmee, hinein ins<br/>,Krokodil'.<br/><br/>„Salü!" grüsste er, setzte sich, kramte in seinen<br/>Taschen und brachte zum Vorschein: ein altes Tram-<br/>bahnbillet und den in der Frühe gekauften hellblauen<br/>Tschibuk.<br/><br/>„Ist der Beizer da?“ Beizer nannte man in der<br/>Fuchsweide den Wirt.<br/><br/>„Jawohl, kommt gleich!“ sagte die Kellnerin. Die<br/>hiess Anna.<br/><br/>„Gut!“ sagte Flametti und nahm einen kräftigen<br/>Schluck aus der frischen Halben.<br/><br/>Der delikatere Teil seiner Aufgabe stand ihm bevor.<br/><br/>So leicht, wie Jenny sich vorstellte, war es nicht,<br/>im ,Krokodil' engagiert zu werden. Herr Schnabel,<br/>
59<br/><br/>der Krokodilwirt, kannte die Vorzüge seines Lokals<br/>zu gut, als dass er für jeden Schnorrer wäre zu haben<br/>gewesen. ,Centrale Lage' stand auf den Empfehlungs-<br/>karten seines Hotels. Und dem Krokodil, das über<br/>dem Eingang prangte, sagte man nach, dass es vor-<br/>zeiten wirklich am Nil sein Unwesen getrieben, allwo<br/>es, etliche Heiden und Christen im Magen, dem Büch-<br/>senschuss eines Verwandten des Herrn Schnabel er-<br/>legen war, um gegerbt und entkröst als Emblem dem Ruf<br/>des Herrn Schnabel zu mehrerem Glanz zu verhelfen.<br/><br/>Nein, es war gar nicht leicht, im ,Krokodil' anzu-<br/>kommen. Denn es war eine Ehre.<br/><br/>Wer bei Herrn Schnabel spielte, war ein gemachter<br/>Mann. Wen Herr Schnabel auftreten Hess, war ein<br/>Ehrenmann. Ein von Herrn Schnabel vollzogener Kon-<br/>trakt war ein Ausweis und Leumundszeugnis. Herr<br/>Schnabel, mit Annahme und Ablehnung, teilte Zensuren<br/>aus.<br/><br/>Aber Flametti würde es schaffen. Er hatte sich’s<br/>vorgenommen. Und hier ist es am Platz, zu sagen,<br/>dass Flametti keineswegs unvorbereitet um eine Kon-<br/>ferenz mit Herrn Schnabel nachsuchte. Er hatte die<br/>spielfreien Abende benützt: er hatte sich umgesehen.<br/>Mit Jenny im ,Germania-Cabaret': Stanislaus Rotter,<br/>Schnelldichter und Konferenzier — man hatte ihn seine<br/>Schmonzes vortragen hören; seinen redegewandten Im-<br/>provisationen nicht ohne Gewinn gelauscht. Er war<br/>es, von dem Flametti das Heil erwartete.<br/><br/>Angenommen der Rotter, alter Bekannter von Max,<br/>Stadtgrösse, würde sich, nur für ein einziges Mal, be-<br/>stimmen lassen, Flametti ein Ensemble zu schreiben,<br/>ein unerhörtes, ein buntes, nie dagewesenes Gesangs-<br/><br/>
60<br/><br/>tableau: es würde die Kassen füllen, die Konkurrenz<br/>totschlagen, und wäre ein voller Ersatz für den Türken.<br/><br/>Freilich: hingehen musste man, zu ihm, in seine<br/>Wohnung; ihn bitten, devotest, um soviel Güte. Aber<br/>wer weiss: vielleicht würde er's tun. Ein gutes En-<br/>semble von ihm, exotisch, wild, mit der Streitaxt, bru-<br/>tal — und alles wäre in Ordnung. Herr Schnabel<br/>würde nicht Nein sagen können: schon wegen der<br/>Konkurrenz. Die Konkubinatsstrafe könnte beglichen<br/>werden. Die Schwierigkeit wäre behoben.<br/><br/>Flajnetti hatte, wie gesagt, den Tschibuk aus der<br/>Tasche genommen und was war natürlicher, als dass<br/>er dabei an Ersatz für den Türken dachte?<br/><br/>„Lauf, hol' mir ein Paket Goldshag!** sagte er zur<br/>Kellnerin, die neugierig den Tschibuk bewunderte, und<br/>gab ihr Geld. Steckte das Rohr des Tschibuks in den<br/>Mund, blies hindurch, probierte den Zug und besah<br/>die Arbeit. Es war die erste stille Minute seit früh um<br/>halb sechs.<br/><br/>„Ah, Flametti!** trat der Herr Wirt freundlich näher,<br/>„wie geht's, wie steht's? Pfeife rauchen ?**<br/><br/>„Mein neuer Tschibuk,** renommierte Flametti, „fürs<br/>,Harem*.“<br/><br/>„Neue Ausstattung?** meinte Herr Schnabel. Und<br/>mit Bezug auf den Tschibuk: „Schönes Stück. — Echtes<br/>Stück?**<br/><br/>„Jawohl,** bestätigte Flametti prompt und zuvor-<br/>kommend. „Tschibuk aus Aleppo. Echte Arbeit.**<br/><br/>„Ah, von dem Mechmed,** riet Herr Schnabel aufs<br/>Gratewohl. Flamettis Beziehungen zum Türken waren<br/>ihm nicht unbekannt.<br/><br/>„Nix Mechmed!** beeilte Flametti sich, mit gesun-<br/>
61<br/><br/>deter Selbstironie hausbacken zurückzuweisen. „Orient-<br/>bazar. Sieben Franken fünfzig.“<br/><br/>„Ist auch besser so,“ meinte Herr Schnabel leicht-<br/>hin und nur halb bei der Sache. Er drehte die Hand<br/>in der Hosentasche, verfolgte mit wachsamen Augen<br/>den Hausknecht, der zapfte; die Kellnerinnen, die sich<br/>anschickten, den Saal fürs Konzert herzurichten, und<br/>entschwand zum Büfett. Er hatte offenbar viel zu tun.<br/><br/>Flametti war in Verlegenheit. Was sollte er tun?<br/><br/>Die Kellnerin brachte den Ooldshag und Flametti<br/>stopfte die Pfeife. Ein glücklicher Umstand kam ihm<br/>zu statten: Frau Schnabel erschien im Lokal, freund-<br/>lich lächelnd nach allen Seiten, eine aufgehende Sonne.<br/><br/>„Sie, Herr Schnabel!“ rief Flametti vertraulich,<br/>winkte mit dem Kopfe und griff in die Brusttasche:<br/>„Was sagen Sie dazu? Kennen Sie den?“ Und lächelte<br/>Madame Schnabel ein ,Guten Abend4 zu.<br/><br/>Herr Schnabel, abgelöst am Büfett, trat wieder näher.<br/>Aus Flamettis Hand, zeremoniös umschlossen, stieg<br/>eine Photographie in Postkartenformat, darstellend<br/>einen Herrn in den mittleren Jahren, mit englisch gestuz-<br/>tem Schnurrbart, Schillerkragen und Künstlerkrawatte.<br/><br/>„Das ist doch der — Rotter?“ riet der Wirt. „Jerum,<br/>der Rotter!“ rief er erstaunt seiner Frau zu und beugte<br/>sich näher, um über Flamettis Schulter hinweg die Pho-<br/>tographie zu betrachten. Auch Frau Schnabel trat näher.<br/><br/>„Ja, der Rotter/4 bestätigte Flametti und stand auf um<br/>die Photographie auch Madame zugänglich zu machen.<br/>„Wissen Sie, wo der jetzt auftritt?“ Er war ein wenig<br/>verwirrt, eine Supplikantenrolle zu spielen, wurde ver-<br/>legen und lächelte. „Als Schnelldichter im Germania-<br/>Cabaret.44<br/>
62<br/><br/>„So so!“ meinte Frau Schnabel skeptisch und dünn,<br/>als habe sie den Pips an der Zunge. Sie neigte den<br/>Kopf zur Schulter, drehte die Hand in der Schürzen-<br/>tasche und sah mit hochgezogenen Augenbrauen hin-<br/>unter auf ihren Spangenschuh.<br/><br/>„Konferenzier und Improvisator — Berühmtheit!“<br/>versicherte Flametti. „Fünfhundert Franken Gage.<br/>Karrieremacher. Feiner Kerl!“<br/><br/>„Waren ja Freunde, ich und der Rotter,“ wandte<br/>er sich an Madame. „Je Gott! Dort drüben“ —<br/>er zeigte nach einer Nische — „nebeneinander sind wir<br/>gesessen und haben Asti gezecht!“<br/><br/>Und wieder zu Herrn Schnabel: „Erinnern Sie sich?<br/>Und im ,Bratwurstglöckli‘ z’Basel: Sie kennen doch<br/>den Rotter, was der für ’nen Appetit hat! — Als der<br/>Kaiser nach Bern kam: wer hat das Begrüssungsge-<br/>dicht verfasst? Erinnern Sie sich?“<br/><br/>Herr Schnabel hatte die Hand in Zangenform an<br/>die Stirne gelegt. „Richtig!“ fuhr er in grossem Bogen<br/>von der Stirn weg in die Luft.<br/><br/>„Macht ja Karriere!“ rühmte Flametti und schob<br/>klotzig den Unterkiefer vor, um die brutal vordrängende<br/>Energie des Herrn Rotter respektvoll zu charakteri-<br/>sieren. „Verdient ja ein Heidengeld! Stadtgespräch!“<br/>„Na und jetzt?“ interessierte sich Herr Schnabel.<br/>„Unnahbar. Nichts zu machen. Keiner kommt an<br/>ihn ran. Wie abgeschnitten.“<br/><br/>Und wieder mit unwiderstehlicher Grossartigkeit<br/>zu Madame Schnabel: „Ein Talent! Der Kerl schüttelt<br/>die Verse nur so aus dem Aermel. Stundenlang. Phä-<br/>nomenal.“<br/><br/>„So so!“ lächelte Frau Schnabel wie oben, mit<br/>
63<br/><br/>einem so liebenswürdig knappen Misstrauen, dass es<br/>Flametti die Glieder lähmte.<br/><br/>„Elegant!“ schwang Herr Schnabel sich -auf und<br/>versuchte, mit einem ermunternden Blick auch seine<br/>zurückhaltende Ehehälfte zu gewinnen.<br/><br/>„Tipp topp!“ überbot Flametti. „Man muss ihn<br/>abends sehen, bei Beleuchtung. Im Frack. ,Elegant4!<br/>Da ist das Wort zu viel!44 und etwas wie Ironie und<br/>leise Verachtung mischte sich in Flamettis unendlich<br/>überlegenes Interesse. Er war sich bewusst, seinen<br/>letzten Trumpf auszuspielen. Jetzt oder nie.<br/><br/>„Siehst du, Flametti,“ sagte Herr Schnabel unver-<br/>mittelt und setzte sich an den Tisch, „so etwas müss-<br/>test du engagieren! Mich geht’s ja nichts an: aber lass<br/>doch den Kram mit dem Türken und such’ dir ’nen<br/>Schlager!44<br/><br/>Flametti klopfte gerade den Tschibuk aus. Er be-<br/>kam Oberwasser. Das alte, vertrauliche ,Du4 des Herrn<br/>Schnabel ehrte ihn. Er steckte die Photographie ein.<br/>„Jawohl! Und wieviel Draufgeld zahlst du mir?“<br/><br/>„Was Draufgeld! Je nachdem! Zweihundert Fran-<br/>ken, dreihundert Franken. Haben schon vierhundert<br/>gezahlt im Monat.44<br/><br/>„ ,Je nachdem4!“ lächelte Flametti gerissen und nahm<br/>sein Bierglas zwischen die Hände. „Ist ja Stuss. Aber<br/>ich will dir was sagen: Was zahlst du, wenn er mir<br/>ein Ensemble schreibt?44<br/><br/>„Was zahl' ich?44 gigampfete Herr Schnabel. „Kommt<br/>drauf an!44 Und er stieg mit der Stimme. Er stand auf,<br/>drehte sich auf dem Absatz und strich sich den Schnauz-<br/>bart.<br/>
64<br/><br/>Frau Schnabel kannte das Gehaben ihres Gatten.<br/>Sie wusste: jetzt kam’s zum Geschäft. Sie zeigte ein<br/>Lächeln, das schon im voraus ihre Zustimmung zu<br/>allen etwaigen Massnahmen des Gatten zum Ausdruck<br/>brachte. Ein Lächeln, das, drüber hinaus, Ermutigung<br/>zu bedeuten schien für den glücklichen Kontrahenten,<br/>dem es gelungen war, das Interesse ihres Gemahls, des<br/>Herrn Schnabel vom ,Krokodil' zu erregen.<br/><br/>„Minimum!" rief Flametti, der nun einmal den<br/>Schnabel gefasst hielt und nicht gewillt war, ihn wie-<br/>der loszulassen.<br/><br/>„Kommt darauf an, was ihr bringt!" schaukelte<br/>Herr Schnabel sich von den Absätzen auf die Zehen-<br/>spitzen und von den Zehenspitzen wieder auf die Ab-<br/>sätze.<br/><br/>Flametti zählte an den Fingern seine Mitglieder her:<br/>„Zehn Personen. Drei Lehrmädel."<br/><br/>„Gut," sagte Schnabel, „wenn du was bringst von<br/>dem Rotter, und alles anständig, dezent —: dreihundert<br/>Franken und am fünfzehnten könnt ihr kommen."<br/><br/>„Abgemacht!" schwitzte Flametti und streckte Herrn<br/>Schnabel die Hand zu über den Tisch. „Anna, ’ne<br/>Halbe!"<br/><br/>Jenny lag schon zu Bett, als Flametti von diesem<br/>an Aufregungen reichen Tage nach Hause kam.<br/><br/>„Na, Max, was ist? Was hast du erreicht?" Sie war<br/>sehr besorgt.<br/><br/>„Engagement im ,Krokodil'. Fünfzehnten fangen<br/><br/>wir an."<br/><br/>Jenny setzte sich im Bett auf und strich sich das<br/>Haar aus der Stirn. „Aber was spielen wir denn?"<br/><br/>„Morgen geh’ ich zum Rotter."<br/>
III.<br/><br/>Seltsame Dinge begaben sich im Hause Flamettis.<br/>Ein Brief kam an von Mechmed. Darin stand:<br/><br/>,Mein lieber Freund!<br/><br/>Ein schamloser Verdacht! Ich sitze hier in den<br/>Händen der Polizei und kann nicht heraus. Mein<br/>ganzer Besitz, einige Kilo Haschich, konfisziert.<br/>Was wollen sie von mir? Ich habe keine Schuld<br/>an dem Anlass. Hilf, Bruderherz! Im Namen der<br/>Freundschaft. Mechmed sitzt in den Händen der<br/>Polizei. Die Hände der Polizei geben, schlechtes!<br/>Essen und kein Luft. Und die Seele schreit mit<br/>dem Dichter:<br/><br/>Eilende Wolken, Segler der Lüfte,<br/><br/>Wer mit euch wanderte, wer mit euch schiffte!<br/><br/>Dein Freund<br/><br/>* ' Mechmed/<br/><br/>Und da der Brief keinen Stempel der Bezirksanwalt-<br/>schaft trug, wusste Flamel^i, dass Mechmed seinem<br/>Handwerk treu geblieben war, würgte ein schaden-<br/>frohes Gelächter und beeilte sich, seine Probedüten<br/>zu Mutter Dudlinger beiseite zu schaffen.<br/><br/>Und ein zweiter Brief kam an; für Frau Häsli; den<br/>sie vorlas mittags bei Tisch. Darin stand:<br/><br/>,Mein heissgeliebtes Herz!1<br/><br/>Ilametti. f><br/>
66<br/><br/>„Hört ihr?“ rief sie, heissgeliebtes Herz' schreibt<br/>der Narr!“<br/><br/>,Mein heissgeliebtes Herz!<br/><br/>Sie haben mich genommen, .. .'<br/><br/>„Mein Militär,“ erklärte sie.<br/><br/>,... und es geht mir hier sehr gut. Ich habe<br/>acht Tage Dienst zu machen. Dann werde ich<br/>beurlaubt. Nichts ist’s mit dem Jodeln. Ich blase<br/>die Trompete, trotz meiner Zahnlücke...'<br/><br/>„Er blost, er blost,“ schrie Frau Häsli und ver-<br/>suchte, den durch die Zahnlücke blasenden Gatten mit<br/>schief gezogener Schnauze zu vergegenwärtigen.<br/><br/>,Ich blase die Trompete und der Hauptmann<br/>ist sehr zufrieden mit mir. Strenger Dienst, und<br/>ich denke Dein in Liebe. Bleibt mir treu...'<br/><br/>„Toni, bleib’ ihm treu!“ schwadronierte die Alte.<br/><br/>,Bleibt mir treu und ehret mein Angedenken.'<br/>Frau Häsli machte eine verdutzte Pause. „,Ehret<br/>mein Angedenken'?“, wiederholte sie befremdet. Dann<br/>auf jedes seiner Worte deutend:<br/><br/>,Meine Blicke ruhen auf euch und verfolgen<br/>jeden euerer Schritte.' 1<br/><br/>„Jawohl,“ bemerkte Frau Häsli, „da kannst du<br/>lange verfolgen, mein Lieber! Hähä! Seine Blicke<br/>verfolgen uns! Ja, übermorgen! Bios du die Trompet’\<br/>Er blost die Trompet’! Der Häsli blost und seine Schritte<br/>verfolgen uns !“<br/><br/>,Süsse, geliebte Lotte,'<br/>fuhr sie fort,<br/><br/>,schick’ mir ein Paar warme Unterhosen und<br/>schreibe mir .ausführlich! Ich sehne mich nach<br/>euch und zähle die Tage bis zu meiner Rückkehr.'<br/>
67<br/><br/>„Gott sei Dank!“ sagte Frau Häsli und schob den<br/>Brief in ihren Brustlatz, „jetzt ham sie ihn. Sollen<br/>ihn nur recht zwiebeln. Ich werd’ dem Hauptmann<br/>schon schreiben, dass er ihn sobald nicht wieder los-<br/>lässt. Wie gesund der ist, wenns ans Prügeln geht!<br/>,Heissgeliebtes Herz1/ Ja, Scheibenhonig!“<br/><br/>Und ein dritter Brief kam an, für Flametti, aus<br/>Basel. Darin stand:<br/><br/>,Werter Freund und Kupferstecher! Flametti!<br/><br/>Indem uns Deine Karte sehr gefreut hat, hätt’st<br/>auch einen Brief schreiben können. Damit man<br/>weiss, was ihr bringt en detail. Ich bin bereit,<br/>Dich zu akzeptieren für die fragliche Zeit und wenn’<br/>ihr gefällt, dann noch länger. Die Alte kommt<br/>zu euch hinübergerutscht für einen Tag, weil sie<br/>noch andere Affären hat, und dann könnt ihr einig<br/>werden. Die Alte lässt grüssen. Grüss auch Jenny<br/>und bringt was rechtes mit.<br/><br/>Sacre nom du dieu!<br/><br/>Dein Fritz Schnepfe und Frau,<br/>Varietelokal, Basel/<br/><br/>Und Flametti nahm den Ausbrecherkönig beiseite<br/>und sagte: „Komm’ mit!“ Und sie gingen zum Ein-<br/>kauf und brachten zurück: Fünf Bettvorleger aus ge-<br/>tigertem Fell und eine Negerlanze von den Sunda-<br/>Inseln, die sie erstanden hatten bei Herrn C. Tipfel,<br/>Antiquariat, wo Briefmarken, Seesterne und Smaragd-<br/>kristalle in schillernder Auswahl das Schaufenster zier-<br/>ten. '<br/><br/>Und überhaupt: eine gesteigerte Tätigkeit bemäch-<br/>tigte sich Flamettis. Leben kam in die Bude.<br/>
68<br/><br/>Niemand ausser Jenny und Engel wusste, was die<br/>fünf Bettvorleger sollten. Aber sie waren da und jeder-<br/>mann, der zum Ensemble gehörte, musste mit den<br/>Händen drübergestrichen und sie für gut befunden<br/>haben.<br/><br/>Sie blieben zunächst im Esszimmer liegen. Sechs<br/>Franken neunzig das Stück. Fünfunddreissig Franken<br/>die Partie.<br/><br/>Und Flametti richtete sein Schreibzeug her und<br/>nahm den Kapellmeister beiseite und sagte: „Herr<br/>Meyer, morgen nachmittag fünf Uhr: Soloprobe. C-<br/>Dur.“ Und machte mit zappelnden Wurstelfingern die<br/>Bewegung heftigen Klavierspielens.<br/><br/>Und kaufte sich einen neuen Schlipps, ein Franken<br/>fünfundsiebzig, schwarz, beim ,Globus*.<br/><br/>Und der Herr Coiffeur Voegeli kam zu Besuch,<br/>eines Nachmittags, und man servierte ihm im Schlaf-<br/>zimmer Wein, und Fräulein Rosa musste ihn unter-<br/>halten, weil Jennymama keine Zeit hatte, sondern roten<br/>Biber einkaufen gehen musste, um aus den Bettvor-<br/>legern durch Aufnähen der Felle auf den roten Biber<br/>Kostüme zu fertigen von wilder, unerhörter Farben-<br/>pracht. !<br/><br/>Und Herr Voegeli revanchierte sich für den liebens-<br/>würdigen Empfang so brillant, dass Jennymama in der<br/>Lage war, sich einen totschicken Abendmantel zu kau-<br/>fen, den sie zu tragen gedachte zur Premiere.<br/><br/>Und siehe da: zwei junge Damen kamen, aus Bern,<br/>zu Fuss, eine schöner als die andre. Das waren Fräu-<br/>lein Güssy und Fräulein Traute.<br/>
69<br/><br/>Fräulein Güssy lang, überlang, so was Langes haben<br/>Sie hoch nicht gesehen. Vorne platt wie ein Nudelbrett.<br/>Mit langen Zugstiefeln, grossen dunklen Kuhaugen und<br/>langen, wehenden Armen: zwanzig Jahre. Fräulein<br/>Traute kräftig, rosenrot, Hakennase. Stets kichernd<br/>und schamrot über den eigenen Busen, der prall und<br/>anbötig vorn abstand, und den sie stets eifrig bedacht<br/>war, mit beiden Händen über die Hüften hinunterzu-<br/>glätten: achtzehn Jahre.<br/><br/>Und Flametti sah sie an mit einem Auge voll Wohl-<br/>gefallen beide. Und all dies Weiberfleisch wurde ein-<br/>quartiert zu Fräulein Rosa, hinter den Bretterverschlag,<br/>zu den Turteltauben; wurde als Lehrkraft dabehalten,<br/>und suchte sogleich mit Eifer sich nützlich zu zeigen.<br/><br/>Und Besuch kam nachmittags: Fräulein Raffaela,<br/>Tänzerin, und Fräulein Lydia, Tänzerin; beide vom<br/>Zirkus. Mit ihrer gemeinschaftlichen Mutter Donna<br/>Maria Josefa.<br/><br/>Donna Maria Josefa war eine sehr preziöse Dame.<br/>Sie setzte beide Hände trommelnd auf die Tischplatte<br/>und liess ihre Augen schweifen, ohne den Kopf zu<br/>bewegen.<br/><br/>Ihre Nase war etwas gerötet von Frost. Ihr Ge-<br/>sicht beherrscht. Ihre schmalen, behaarten Lippen ver-<br/>bargen ein Gebiss, das mit wahren Haifischzähnen be-<br/>setzt war.<br/><br/>Man stellte vorsichtig Kaffee vor sie hin und die<br/>beiden Töchter setzten sich zu ihrer Seite, je rechts<br/>und je links, und sagten:<br/><br/>„Mama, ach Mama! Mama, nimmst du Zucker?<br/>Mama, nimmst du Milch? Mama, nimmst du Zwieback?<br/>Mama, nimmst dü Honig oder Gelee ?“<br/>
70<br/><br/>Und Flametti sagte: „Jaja, Frau Scheideisen!“ So<br/>hiess Donna Maria Josefa mit ihrem Privatnamen.<br/><br/>Und Jenny schob ihr in einem fort Zwieback hin<br/>und sagte zu den Töchtern:<br/><br/>„Greif zu, Raffaela! Greif zu, Lydia!“ wie zu alten<br/>Bekannten.<br/><br/>Und Donna Maria Josefa trommelte mit den Fingern,<br/>als sässe sie bei einer Eröffnungs-Gala-Festvorstellung<br/>an der Kasse. Und lächelte gemessen, wenn man höf-<br/>lich war.<br/><br/>Das Ganze aber hatte Flametti, wahrlich nicht übel,<br/>arrangiert und eingefädelt, um die alte Häsli ein wenig<br/>in Schach zu halten, die üppiger wurde von Tag zu<br/>Tag.<br/><br/>Die sass jetzt auch am Kaffeetisch und platzte vor<br/>anerkennender Bewunderung beim Anblick der Gold-<br/>knöpfe von Donna Maria Josefas Blusenbusen.<br/><br/>Es begab sich aber, dass auch zwei Detektivs er-<br/>schienen, eines Nachmittags — schon wieder, Kreuz-<br/>donnerkeil!—, an die Türe klopften, ganz sachte, und<br/>Flametti zu sprechen wünschten, zwecks einer Aus-<br/>kunft.<br/><br/>Und er ging hinaus vor die Tür, nahm die Detek-<br/>tivs in die Küche und verhandelte mit ihnen.<br/><br/>Und eine innere Stimme sagte Flametti: Verdirb dir’s<br/>nicht! Häng’ sie nicht vors Fenster, sondern mach’<br/>Ihnen Vorschläge zur Güte!<br/><br/>Und das tat er auch. Aber es nützte nicht viel.<br/>Noch immer wegen der Quittung.<br/><br/>Und er stiess die Tür auf und kam hereingestürzt<br/>in die Stube, schloss seine Hauptkasse auf, stürzte den<br/>
71<br/><br/>Inhalt auf den Esstisch und schrie sehr erregt zu den<br/>skeptisch nachfolgenden beiden Beamten:<br/><br/>„Was wollt ihr denn? Seid doch vernünftig! Kann<br/>ich denn zahlen? Seht selbst! Habt doch in Teufels-<br/>namen ein wenig Geduld! Da ist mein Ensemble...“<br/><br/>„Jenny, Rosa, Güss'y, Traute!“ rief er, und die kamen<br/>von rechts und links, im Unterrock, mit offenen Haaren,<br/>mit LoCkenschere, Schuhknöpfer und Seifenhänden ...<br/><br/>„Da ist mein Ensemble,“ rief er, und zerrte die<br/>Damen mit langen Armen zu sich heran, „man arbeitet<br/>doch! Man rackert sich ab! Man studiert, simuliert!<br/>Man 'zahlt seine Steuern, man tut sein Möglichstes...“<br/><br/>Aber die Beamten blieben trotz allem skeptisch.<br/>Und es ist nicht einmal unwahrscheinlich, dass der<br/>Anblick so unterschiedlicher Frauenspersonen, in Halb-<br/>toilette um einen einzigen Mann gruppiert, ihr Miss-<br/>trauen noch bestärkte.<br/><br/>Sie notierten sich etwas und man begab sich zum<br/>zweitenmal in die Küche. Jetzt handelte sich’s um den<br/>Mechmed.<br/><br/>„Haben Sie einen Türken gekannt: Ali Mechmed<br/>Bei?“<br/><br/>„Ja.“ ' : :<br/><br/>„Haben Sie mit ihm in Geschäftsverbindung ge-<br/>standen?“<br/><br/>„Nein.“<br/><br/>„War Ihnen bekannt, dass er mit Kokain, Opium<br/>und Haschich handelte?“<br/><br/>„Ja.“<br/><br/>„Nehmen Sie selbst Opium?“<br/><br/>„Nein,“<br/>
„Haben Sie Kommissionsdienste für ihn übernom-<br/>men ?“<br/><br/>„Nein,“<br/><br/>„War Ihnen bekannt oder mutmassten Sie, dass<br/>seine Waren geschmuggelt waren?“<br/><br/>„Nein.“<br/><br/>„Wann haben Sie ihn zuletzt gesehen?“ etc.<br/><br/>Flametti gab Antwort auf all* diese Fragen nach<br/>bestem Wissen und Gewissen. Denn er hatte nichts<br/>zu verbergen. Aufgeplustert vor Wut und verlegen<br/>wie ein Schuljunge.<br/><br/>Und sie nahmen ihn nicht in Haft. Und wegen der<br/>Quittung würde er eine Vorladung bekommen zwecks<br/>Auseinandersetzung seiner Vermögenslage.<br/><br/>Flametti wurde furchtbar nervös im Lauf dieser<br/>Tage. Offenbar: grosse Dinge standen bevor. Wich-<br/>tige Dinge. Geheimnis tut not, wo Schicksale schweben.<br/>Störung ist fernzuhalten.<br/><br/>Noch kannte Flametti von dem neuen Ensemble,<br/>das Herr Rotter ihm zugesagt und bestimmtest verspro-<br/>chen hatte, nicht viel mehr, als dass die Musik in C-<br/>Dur ging; dass es voraussichtlich ,Die Delawaren'<br/>hiess, und dass er selbst, Flametti, den Häuptling<br/>Feuerschein vorstellen würde, mit Lanze, Pfeilen und<br/>Tomahawk.<br/><br/>Aber gerade die letztere Aussicht, die Rolle des<br/>Häuptlings Feuerschein, die Flametti bevorstand in<br/>den Prachtworten, die Herr Rotter sicherlich für ihn<br/>finden würde; im exotischen Aufputz voller Glut,<br/>Farbenpracht und Majestät; — Adlerfedern über den<br/>Rücken hinunter; Sandalen unten, Hakennase oben —<br/>
73<br/><br/>veränderte gewissermassen Flamettis Gesichtskreis und<br/>seine Lebensnuance. ,<br/><br/>Jetzt erst verstand er, weshalb ihm zuletzt das ganze<br/>Ensemble, 'Auftreten und Spielen verleidet gewesen;<br/>weishalb ihm all’ Seine letzten Tableaus so seicht, geist-<br/>los und platt erschienen. Schon diese Titel: ,Die<br/>Modeweiber*, ,Die Nixen*, ,Die Nachtfalter*! Was konn-<br/>ten sie einem geben? Weiberzeug, süsslicher Schnack.<br/>Kitsch, Bruch.<br/><br/>Widerwillig hatte Flametti sie Abend für Abend<br/>im Repertoir geführt. Löckchen, Gefältel, Plissees, Frou-<br/>Frou —: er konnte nicht mehr. Er empfand einen<br/>Brechreiz.<br/><br/>Und die Weiber waren dabei immer aufdringlicher<br/>geworden. Was Wunder! Sie standen im Mittelpunkt.<br/><br/>Dagegen: ,Die Delawaren*! Wie das klang! Stierig,<br/>männlich, farusch, imposant! Das war eine Sache. Das<br/>schuf Respekt. Da Hess sich was ahnen!<br/><br/>Flamettis Benehmen wurde, schon jetzt* simpler, be-<br/>ruhigter, breiter. Seine Energie zäher, verbissen. Sein<br/>Selbstgefühl mächtig. Die Löwenbrust wölbte sich.<br/><br/>Wenn er die Hand auf den Tisch legte, zitterte<br/>dieser. Früher hatte er nicht gezittert. Wo Flametti<br/>hingriff, wuchs jetzt kein Gras mehr. Wen Flametti<br/>ansah, zuckte zusammen, erbleichte.<br/><br/>Er liess, im Geist, seine Freunde Revue passieren<br/>und beschloss, zu lieben und hassen nur noch tötlich.<br/>Früher hatte er mit sich reden lassen.<br/><br/>Er beschloss, alle minderen Qualitäten aus seiner<br/>Gepflogenheit auszumerzen. Beschloss, seine Gast-<br/>freundschaft auszudehnen und selbstverständlicher zu<br/>
74<br/><br/>gestalten. Beschloss, mehr zu sitzen, zu liegen. We-<br/>niger Aufregung, mehr Schwere und Weihe.<br/><br/>Seine Leidenschaft für Narkotika und für Alkohol<br/>solle befestigt werden. Opium: sehr gut. Feuerfressen:<br/>sehr gut. Das passte. Und er beschloss, die Feuer-<br/>nummer von nun an wieder öfter und mit mehr Finster-<br/>nis in der Geste zum Vortrag zu bringen.<br/><br/>Nicht soviel Anpassung. Mehr Würde. Magie. Nicht<br/>soviel Worte. Mehr lautlose Tat. Im ganzen: Verein-<br/>fachung. Wucht.<br/><br/>Und eines Morgens, als Flametti, in Träume ver-<br/>sunken, vor die Tür seines Wigwams trat, im vollen<br/>Waffenschmuck, mit vergifteten Pfeilen; den Rauch<br/>seiner Pfeife blasend nach den vier Windrichtungen:<br/>erhob sich ein solches Gekreische, Gelächter und Gir-<br/>ren im Lattenverschlag bei den Tauben, dass Flametti<br/>beschloss, ein Exempel zu statuieren.<br/><br/>Heraus sprang Feuerschein aus dem Bett, im Hemd,<br/>mit Bravour, und hinüber zum Lattenverschlag.<br/><br/>Das Weiberfleisch balgte sich in den Betten.<br/><br/>Drein fuhr Flametti mit derber Hand und lüpfte<br/>die Decke.<br/><br/>Es leuchtet der Mond in der Gondelnacht<br/>Blank, blänker, am blänksten.<br/><br/>Und Flametti griff zu und es klatschte.<br/><br/>Und die Lange flüchtete aus dem Bett. Und die<br/>Dralle mit dem geschämigen Busen schrie. Und die,<br/>die es traf, Rosa, die Sklavin, rang die gefalteten Hände,<br/>und flehte und sträubte sich fruchtlos gegen die seh-<br/>nigen Häuptlingsarme.<br/><br/>Stolz kehrte Flametti zurück, die Brust geschwellt<br/>von männlichem Furor, die Augen gerollt vor strahlen-<br/>
75<br/><br/>der Lust, und sagte zu Jenny, die neben ihm lag: „Die<br/>sollen mich kennen lernen!“<br/><br/>Neueinstudierungen wurden angeordnet unter Jen-<br/>nys Leitung, weil Max anderweitig beschäftigt war.<br/>Alte Kostüme wurden, unter Beteiligung der Lehrkräfte,<br/>repariert und aufgebügelt. Die neuen Kostüme probiert.<br/><br/>Und auch die Damen Jenny und Laura bekamen<br/>jetzt Lanzen, aus Besenstielen, rundum bemalt, gelb,<br/>grün und blau. Oben eine Spitze aus Goldblech.<br/><br/>Und damit auch das übrige Ensemble nicht müssig<br/>ging, hatten Engel und Bobby Beleuchtungsproben mit<br/>bengalischem Kot, wozu sie die Pfanne und Pulver<br/>besorgen mussten.<br/><br/>Herr Arista studierte ein neues Lied:<br/><br/>,Nur immer raus damit, nur immer raus damit!<br/><br/>Wozu haben wir’s denn? Na ja!‘,<br/>was sich auf seinen Busen bezog.<br/><br/>Auch die Häslis hatte für neues Programm zu sor-<br/>gen und studierten mit dem Pianisten das interessante<br/>Terzett ,Schackerl, Schackerl, trau di net!‘, das Frau<br/>Häsli ausgesucht hatte, an dem sich aber nach seiner<br/>Rückkehr vom Dienst auch Herr Häsli beteiligen sollte.<br/><br/>Es war offensichtlich Flamettis Ehrgeiz, aus der<br/>Premiere dieser ,Indianer* einen Festzug zu machen,<br/>ein Ruhm- und Gedenkblatt für sich und das ganze<br/>Ensemble.<br/><br/>Wer weiss, was für Intentionen mehr er damit<br/>verband, was für Erbauungen und Hintergedanken! So-<br/>viel Sorgfalt wie auf dieses Ensemble hatte er noch<br/>auf keines verwandt. Soviel Aufwand und Wichtigkeit<br/>waren kaum zu erklären.<br/><br/>Ein Plakat Hess Flametti entwerfen von einem<br/>
76<br/><br/>ersten Maler der Fuchsweide. Darauf stand in Ma-<br/>juskeln:<br/><br/>« DIE INDIANER.»<br/><br/>Abgebildet war Flametti als Häuptling Feuerschein<br/>in vollem Federnaufputz, Rothaut über und über, mit<br/>Ohrringen, Funkelaugen und einer Kette aus Bären-<br/>zähnen.<br/><br/>Darunter aber stand:<br/><br/>,Alleiniges Aufführungsrecht:<br/><br/>Flamettis Variete-Ensemble/<br/><br/>Hinging Max zu Herrn Fournier, dem Vorstand der<br/>Eisenbahner-Kapelle und fragte ihn, ob er bereit sei,<br/>mit fünfzig Mann Blasorchester zur Stelle zu sein.<br/>Und welche Konditionen.<br/><br/>Vorsprach Flametti beim Beizer und legte ihm den<br/>Gedanken nahe, um Freinacht und Tanz einzugeben<br/>bei der Polizei, was Herr Schnabel zwar überrascht,<br/>aber bereitwillig versprach. Er hatte ja keine Ahnung.<br/><br/>Und zur festgesetzten Stunde traf Flametti Herrn<br/>Rotter im Terrassencafe.<br/><br/>Der Rotter war elegant wie immer. Er las gerade<br/>die ,Daily Mail* — ob er das konnte? Ob das nicht Ge-<br/>tue war? —, lud Flametti mit einer raschen, geschick-<br/>ten Handbewegung ein, Platz zu nehmen, setzte den<br/>Kneifer Vor seine lidlosen, entzündeten Augen, rieb sich<br/>die Nase und zückte das Manuskript aus der Mappe.<br/><br/>Flametti bestellte ein Pilsner und dann befummelten<br/>sie die Affäre.<br/><br/>„Also sieh her, Flametti!“ sagte Herr Rotter, „das<br/>ist der Dreck.“ Dabei wog er das Manuskript auf<br/>der Hand.<br/>
77<br/><br/>Flametti beugte den Oberkörper herunter aufs Knie<br/>und rauchte Zigarre.<br/><br/>„Also es ist so: ,Die Delawaren*. Du machst den<br/>Feuerschein. Die andern, die .Weiber, fünf Stück,<br/>machen die Bande. Ausstattung: Fellkostüme, wie ge-<br/>sagt, Lanze, Tomahawk, Kopfaufputz. Musik: C-Öur.<br/>Beleuchtung: Rot. Einstudieren musst du’s selbst.<br/><br/>Hier ist der Text.“<br/><br/>Flametti bemerkte sofort, dass Herr Rotter Eile hatte<br/>und beeilte sich seinerseits, aus der Brusttasche einen<br/>Fünfzigfrankenschein in Bewegung zu setzen, der als<br/>Honorar vereinbart und von Mutter Dudlinger mit ris-<br/>kierender Teilnahme vorgestreckt worden war.<br/><br/>„Hier,“ sagte Flametti, indem er den Schein ausein-<br/>anderfaltete, „jeder Arbeiter ist seines Lohnes wert.“<br/><br/>„Ah was, Bagatelle!“ sagte Herr Rotter und steckte<br/>den Schein nachlässig in die Rocktasche.<br/><br/>Flametti hatte sofort das Gefühl: „der ist das Ein-<br/>heimsen gewohnt!“ und erinnerte sich jener erstaun-<br/>lichen Fertigkeit, mit der Herr Rotter im Germania-<br/>Cabaret die Pausen füllte durch Selbstverkauf seiner<br/>,Gesammelten Werke*. ><br/><br/>Flametti nahm das Ensemble jetzt an sich mit beiden<br/>Händen und begann zu lesen.<br/><br/>„Na, kannst es zuhaus in Ruhe studieren!** meinte<br/>Herr Rotter, „es klappt. Sei versichert!**, und intonierte<br/>probeweise die erste Strophe.<br/><br/>Flametti gingen die Augen über vor Bewunderung.<br/>,Die Letzten von dem Stamm der Delawaren,<br/><br/>Die Kriegerscharen - !<br/><br/>Der Delawaren — — —*. Ausschritten die<br/>Rythmen in gravitätischer Folge.<br/>
Flametti fühlte, wie seine Nase schärfer wurde,<br/>energischer: eine Adlernase. Seine Augen kühner, ver-<br/>wegener, sprühend. Er fühlte die Lanze in seiner Faust.<br/>Die Federbüschel liefen im kalt über den Rücken hin-<br/>unter. Sein Unterkiefer schob sich vor in bestialischer<br/>Vehemenz.<br/><br/>Der Ober, beladen mit einem Pack Zeitungen und<br/>einem Cafecreme, schlängelte sich zwischen den<br/>Tischen hindurch und stiess an den Stuhl. Flametti<br/>wäre ihm knapp an die Gurgel gefahren. So schreckte<br/>es ihn aus der Illusion.<br/><br/>„Klappt alles. Unbesorgt!“ versicherte Rotter.<br/>„Hören Sie zu,“ sagte Flametti, „ich hab' ein Plakat<br/>machen lassen: ,Die Indianer*. Grossartig, imposant.<br/>Dreissig Franken. Beim Lemmerle. Kennst ihn doch!“<br/>„Schon gut! Mach' was du willst mit dem Dreck!“<br/>sagte Herr Rotter und drückte den Klemmer fest. „Ist<br/>ja nicht mein Beruf. Macht man so nebenbei.“<br/>„Schau,“ meinte Flametti treuherzig und verlegen,<br/>„mich packt’s. Musst nicht so sprechen. Mir tut’s weh.<br/>Mich freuFs halt. Akkurat weil du mir die ,Indianer*<br/>gemacht hast. Siehst du, ich hätte dir auch einen Hun-<br/>derter gegeben, wenn du’s verlangt hätFst.“<br/><br/>Rotter kraulte sich mit dem Taschentuchzipfel im<br/>Nasenloch und sah über den Kneifer weg Flametti<br/>an, als traue er seinen Ohren nicht.<br/><br/>„Wirst mal sehen,** meinte der, „wenn die Beleuch-<br/>tung dazu kommt, Musik, Reklame, der ganze Klim-<br/>bim!** Und er versuchte, durch gleichzeitige Anspan-<br/>nung aller Gesichtsmuskeln, Wackeln der Ohren, vor-<br/>geschobenen Unterkiefer, Hochziehen der Brauen,.einen<br/>
79<br/><br/>Begriff zu geben von der Schlagkraft der Dinge, die<br/>dann kommen würden.<br/><br/>„Apropos,“ behielt Rotter sich vor, „bei der Haupt-<br/>probe will ich dabei sein. Damit ich auch sehe, was<br/>ihr draus macht.“<br/><br/>„Sowieso,“ beruhigte Flametti. Und um zuver-<br/>lässig zu beweisen, dass das Ensemble in guten Händen<br/>sei: „Fünfzig Mann Blasorchester!“ Und nahm einen<br/>tiefen Schluck Pilsner.<br/><br/>„Das ist alles nichts,“ meinte Rotter, „wenn ihr<br/>den Schick nicht trefft. Wenn das gewisse Etwas<br/>fehlt.“<br/><br/>„Es kommt,“ versicherte Flametti, „da ist das Wort<br/>zuviel.“<br/><br/>„Na, wollen mal sehen,“ schloss Rotter und griff<br/>nach der ,Daily Mail*.<br/><br/>Flametti fühlte sich unbehaglich.<br/><br/>„Zahlen!“ rief er, „hab's pressant!“ und der Kell-<br/>ner kam, und Flametti reichte Herrn Rotter indianisch<br/>die Hand, sagte „Salü!“ und „Merci!“ und ging. Ein<br/>unerhört despektierliches Wort unterdrückte er, als<br/>er das Lokal verliess.<br/><br/>Zu Hause aber warf er sich aufs Sofa und las. Las<br/>mit immer wilderem Entzücken, immer hellerer Be-<br/>geisterung. Las das Ensemble von A bis Z, ertrank<br/>darin; ritt, galoppierte, rasselte, tobte; donnerte, blitzte<br/>und fluchte; strahlte und weinteK lachte und staunte.<br/><br/>Setzte sich hin und schrieb mit kalligraphischen<br/>Lettern, Silbe klar an Silbe reihend — er war ja der<br/>Sohn eines Lehrers — die Rollen heraus.<br/><br/>Sprechproben wurden angesetzt; Ensembleproben.<br/>
80<br/><br/>Die Rollen wurden verteilt. Persönlich probte Flametti<br/>vor dem Spiegel.<br/><br/>Probierte mit den Mädels, teilte Ohrfeigen aus,<br/>rannte Köpfe an die Wand; schrie, brüllte und fluchte.<br/><br/>Konnte gar nicht Worte genug finden, sein Erstau-<br/>nen über die Borniertheit dieser Weiber, Jenny und<br/>die Soubrette mit eingeschlossen, kundzugeben.<br/><br/>Es ging denn auch rapid vorwärts. Nach drei<br/>Tagen sass schon der Text. Nach weiteren drei Tagen<br/>sassen auch die Bewegungen, Auf- und Umzug des<br/>Ensembles auf der Bühne.<br/><br/>Was hatten die armen Weiber alles für Vorstufen<br/>durchzumachen, bis sie wirkliche, richtige, echte In-<br/>dianer waren! Kalb, Ochs, Esel, säbelbeiniges Frauen-<br/>zimmer, Sdhmerbauch, Mistvieh, Bauer! Was alles<br/>mussten sie anhören in hartem Ringen um die Kunst!<br/><br/>Und erst die Bewegungen! Bis die sassen! „Links!<br/>Links! Links herum, Stoffel!!!“... „Vor, die Lanzen!<br/>Hoch den Tomahawk! Runter aufs Knie!“... „Um<br/>mich herum! Vor mich hin! Ich beschütze euch!“ ...<br/>„Apotheose! Verklärung! Verklärte Augen sollst du<br/>machen, Mistvieh damisches!“ —<br/><br/>Und die Musik, bis die sass! „Hörst du denn nicht??<br/>Sperr’ deine Löffel auf! Wozu hast du denn deine Wind-<br/>fänger! Die Nasenlöcher kannst du doch auch aufsper-<br/>ren !“ ... „Den Allerwertesten werd’ ich dir treffen,<br/>wenn du nicht aufpassen willst. Himmelherrgottsakra-<br/>ment, sperr’ deine Ohren auf!!!!“<br/><br/>Aber dann ging’s auch wie am Schnürchen, nach<br/>sechs Tagen, und alle waren des Lobes voll und be-<br/>kamen allmählich Geschmack an der Sache und machten<br/>die Bewegungen von selbst; auch bei Tisch, beim Zu-<br/>
81<br/><br/>bettgehen, beim Morgenkaffee; im Hemd und in, Unter-<br/>kleidern. Sangen, pfiffen und trällerten die Musik vor<br/>sich hin, die Herr Meyer feinsinnig aufgefasst hatte<br/>und kongenial wiedergab.<br/><br/>Und Flametti studierte solo mit Meyer ein: den Auf-<br/>tritt des Häuptlings.<br/><br/>Unten in der Musik muss es donnern und blitzen:<br/>Brwrr, brwrrrr, worgeln und tremulieren. Dann muss<br/>die rechte Hand höher laufen. Feuerschein kommt von<br/>links, späht durch das Kulissenfenster der Bauernstube,<br/>drohend, erschrecklich, in hohem, dämonischem Fe-<br/>dernschmuck, mit der Lanze. Kommt dann heraus auf<br/>die Bühne, vorsichtig, schleichend, verfolgt, den Kopf<br/>spähend vorgestreckt, die Halsmuskeln gespannt, den<br/>Tomahawk mordbereit. Verschwindet unter Donner<br/>und Blitz der Musik in der Kulisse rechts. Es beginnt<br/>das eigentliche Ensemble. C-Dur. Andante. Mächtig<br/>und breit: Auf dem Kriegspfad:<br/><br/>,Die Letzten von dem Stamm der Delawaren,<br/>Die Kriegerscharen<br/>Der Delawaren .. /<br/><br/>Dann haben zu singen die Weiber, mit vorstehen-<br/>der Handbewegung zu Flametti gewandt:<br/><br/>,Der tapfre Häuptling Feuerschein .. .*<br/><br/>Und Flametti antwortet mit stolz erhobenem Haupt<br/>und gestrafften Zügen:<br/><br/>,Mit seinen wilden Mägdelein .. .*<br/><br/>Dann futti, zum Publikum gewandt mit dargebote-<br/>ner Rechten:<br/><br/>,Entbieten euch die Freundeshand<br/>Zum Gruss. Schlagt einF<br/>An den Türken dachte Flametti nicht mehr, seit<br/><br/>Flametti 6<br/>
82<br/><br/>er Indianer geworden war. Aus dem Opiumhandel<br/>war nichts geworden. Desto besser. ,Wenn nicht,<br/>dann nicht!‘ hiess es in einem Couplet der Soubrette.<br/><br/>Dafür hatte Flametti jetzt selbst ein Harem, und<br/>gewissenhaft war er darauf bedacht, seiner Illusion<br/>Greifbarkeit zu verleihen. Einteilte er seinen Wigwam<br/>in drei Gemächer.<br/><br/>In der Mitte die- Stubte, wurde das Häuptlingszelt,<br/>wo man Beratung pflog, Botschaften empfing, Mahl-<br/>zeiten einnahm, Siesta hielt. Das Schlafzimmer rechts<br/>davon ward zum Gemach der obersten Lieblings- und<br/>Hauptfrau. Der Bretterverschlag links Kemenate der<br/>Favoritinnen und Nebenfrauen.<br/><br/>Das ideal in der Mitte gelegene ,Hauptgemach4<br/>erregte zwar den heftigen und unverhohlenen Wider-<br/>spruch der Lieblings- und Hauptfrau, aber Flametti<br/>liess sich nicht beirren, und bald hatte er es denn<br/>auch dahin gebracht, den Begriff seiner männlichen<br/>Würde und Ueberlegenheit von den Kebsweibern<br/>akzeptiert zu sehen. Und es war ein zwar unge-<br/>wöhnlicher, aber in seiner Totalität strammer An-<br/>blick für Mutter Dudlinger, eines Tags den Häuptling<br/>in vollem Kriegsschmuck zu finden beim Anprobieren<br/>der fertigen Fransenhosen, um ihn herum die Haupt-<br/>und die Nebenfrauen, hockend mit Herstellung kleiner<br/>roter Lämpchen beschäftigt, die dazu bestimmt waren,<br/>von den Delawaren auf dem Kriegspfad an langen<br/>^Schnüren als Beleuchtungskörper geschwungen zu wer-<br/>den. Herr Schnabel, der Wirt, hatte sich nämlich das<br/>bengalische Pulver verbeten, des unbändigen Gestanks<br/>wegen, den die beiden Feuerwerker schon auf der<br/>Probe damit hervorgebracht hatten.<br/>
83<br/><br/>Solcherlei Zurüstungen konnten der Konkurrenz<br/>nicht verborgen bleiben.<br/><br/>Der Neid war grenzenlos. Die Versuche, Flametti<br/>das Wasser abzugraben, gingen ins Lächerliche.<br/>Pfäffer zeigte an:<br/><br/>,Die exzentrische Schwiegermutter oder eine Nacht<br/>am Orinoko. Posse in drei Akten!*<br/><br/>Einen, absonderlichen alten Onkel mit Botanisier-<br/>büchse und rotem Regenschirm sollte Fräulein Mary<br/>singen, eine zwar nicht mehr jugendliche aber sym-<br/>pathische Darstellerin, von der Jenny beruhigt voraus-<br/>sah, dass sie mit ihren Beinen eines alten Kaleschen-<br/>gauls, abgewetzt, knollig und dürr, notwendig müsse<br/>Fiasko machen.<br/><br/>Ein andrer Direktor begann ebenfalls ,Indianer* ein-<br/>zustudieren, die er ,Komantschen* nannte. So dass<br/>Flametti Sich genötigt sah, unter das Plakat des Herrn<br/>Lemmerle noch setzen zu lassen:<br/><br/>Jede Nachahmung verboten!<br/><br/>Wer die Indianer nachmacht, wird gerichtlich verfolgt!*<br/>Den Vogel aber schoss Ferrero ab. Unter Zuhilfe-<br/>nahme massloser Reklame zeigte er an:<br/><br/>,Lullu Cruck<br/>König aller Bauchredner!<br/><br/>Man lacht, lacht, lacht!* ■<br/><br/>„Krampf!** lachte Flametti, „Macht er ja selbst.**<br/>Flamettis Selbstgefühl erreichte den Gipfel. Und<br/>als eines Tages die Zusage des Herrn Fournier ein-<br/>traf wegen der fünfzig Mann Blechmusik; als Herr<br/>Schnabel die Erlaubnis vorzeigte für Freinacht und<br/>Tanz; als endlich die Hauptprobe angesetzt werden<br/>konnte, da fand er sogar den Mut, dem Rotter die<br/>
84<br/><br/>Spitze zu bieten. Und das war gut, denn um ein Haar<br/>wäre durch Rotters provozierendes Benehmen noch<br/>auf der Hauptprobe alles gescheitert.<br/><br/>Haltlos ironisch, wie es seiner Gemütsart entsprach,<br/>kam Herr Rotter am Tage der Hauptprobe an in Lack-<br/>stiefeletten und Streifenhosen, den Koks keck auf den<br/>Kopfwirbel geschoben: Dandy, Geniesser und Zyniker.<br/><br/>„Nu man los!“ rief er, indem er sich vorn an die<br/>Bühne placierte, Arme und Beine verschränkt, an den<br/>Wirtstisch gelehnt.<br/><br/>„Hoch mit die Röcke!“ rief er dem vorhangbedie-<br/>nenden Engel zu.<br/><br/>„Wa?“ schnodderte er die Kellnerin an, die ihn<br/>nach seinen Belieben fragte.<br/><br/>Flametti verstand nicht, wie sich ein Mensch seinem<br/>eigenen Geistesprodukt gegenüber so heillos frivol be-<br/>nehmen könne. Ihn schauderte. Doch er versuchte,<br/>gute Miene zum bösen Spiel zu machen und schwieg.<br/><br/>Als aber der Auftritt kam:<br/><br/>,Die Letzten von dem Stamm der Delawaren*<br/><br/>— die selbstverfasste Häuptlingsouvertüre unterdrückte<br/>Flametti in einer Anwandlung von Unsicherheit —,<br/>als1 also der Auftritt kam und Herr Rotter in ein pru-<br/>stendes Gelächter ausbrach, und als infolge der höch-<br/>lichen Laune des Herrn Autors auch die fellgegürteten<br/>Weiber auf der Bühne anfingen, die Sache lustig zu<br/>finden, da riss Flametti die Geduld.<br/><br/>Auf den Hacken drehte er sich vor Wut wie ein<br/>kirrender Hahn. Die Lanze stiess er auf den Boden,<br/>dass das Bauernhaus rechts und die Renaissanceland-<br/>schaft im Hintergrund ins Wackeln gerieten. Hoch-<br/>rot wurde er im Gesicht wie ein Puter. Und er schrie<br/>
85<br/><br/>mit drosselnd erhobenen Händen im Dialekt seiner<br/>Heimat über die Rampe hinunter:<br/><br/>Wellet Se sich nit einen Augenblick auf Ihre vier<br/>Buchstaben setzen, Herr Dichter? Nur einen Augen-<br/>blick, wenn es gefällig ist! Sie seh’n doch, dass hier<br/>gearbeitet wird.“ ,<br/><br/>Der Rotter war ganz überrascht. Das war ja eine<br/>unglaubliche Frechheit von diesem Flametti! Was fiel<br/>dem eigentlich ein! Das war doch die Höhe!<br/><br/>Hoch hob er sein Stückchen, fitzte es durch die<br/>Luft und rief auf die Bühne hinauf:<br/><br/>„Sie, hören Sie mal: Hab’ ich mit Ihnen vielleicht<br/>mal die Schweine gehütet oder hab’ ich Ihnen das En-<br/>semble geschrieben? Das Frauenzimmer dort mit der<br/>Gurkennase ist doch unmöglich!“<br/><br/>Das Frauenzimmer mit der Gurkennase war Fräu-<br/>lein Rosa. Und Flametti sah hin und stand einen Mo-<br/>ment lang betroffen.<br/><br/>ich hab’ das Ensemble doch, Gott verdamm’ mich,<br/>für Hakennasen und nicht für Himmelfahrtsnasen ge-<br/>macht!“<br/><br/>Er schlug mit dem Stückchen C-Dur an und rief:<br/><br/>„Na, mal weiter!“<br/><br/>Aber Flametti war jetzt die Lust vergangen.<br/><br/>„Lassen Sie das Klavier in Ruh!“ schrie er herunter<br/>und fuchtelte mit der Lanze. „Was fällt Ihnen eigent-<br/>lich ein? Sind Sie hier Direktor oder ich?“<br/><br/>Herr Rotter jedoch wurde auffallend ruhig, nahm<br/>sachte sein Stöckchen von den Tasten, rückte die Mütze<br/>zurecht und sagte:<br/><br/>„Hören Sie mal! Wenn Sie glauben, Sie Botokude,<br/>
86<br/><br/>mich für Ihre fünfzig Franken hier anschreien zu kön-<br/>nen, dann sind Sie im Irrtum.“ 1 ' j<br/><br/>„Und Sie,“ rief Flametti, stellte die Lanze hin und<br/>sprang, in vollem Häuptlingsschmuck, über die Bühne<br/>herunter, „machen Sie, dass Sie rauskommen. Raus!<br/>Ich habe genug von Ihnen.“<br/><br/>Und da Herr Rotter als Antwort hierfür nur ein<br/>spöttisches Grinsen hatte, die Stirnhaut hochzog, die<br/>Ohren bewegte und den Blöden spielte, packte Fla-<br/>metti den Patron am Aermel und spedierte ihn höchst<br/>persönlich durch das Lokal zum Büfett, wo Herr<br/>Schnabel automatisch und ohne zu fragen sich seiner<br/>annahm und ihn im Hinblick auf seine moralische<br/>Zweideutigkeit vor die Türe setzte.<br/><br/>Nachdem der Dichter entfernt war, ging alles glatt.<br/>Von vorne, von vorne, und nochmal von vorne, bis<br/>dass es sass.<br/>
IV.<br/><br/>Am siebzehnten fand die Premiere statt. Schon<br/>am frühen Morgen herrschte im Hause Flametti be-<br/>trächtliche Aufregung.<br/><br/>Es war noch nicht sieben Uhr früh, als sich die<br/>Frauen aus dem Favoritinnengemach schon stritten<br/>um das Vorrecht, für diesen Ehrentag Flametti-Feuer-<br/>scheins Stiefel putzen zu dürfen.<br/><br/>Fräulein Traute hatte sich im Lauf der letzten Tage<br/>das Reinigen der Häuptlingsstiefel zu ihrer ganz be-<br/>sonderen Domäne gemacht. Kaum regte sich in der<br/>Frühe das erste Gurren und Flattern der Turteltauben,<br/>so sprang sie schon aus dem Bett, hin zum Gemach<br/>der Hauptfrau, vor dessen Türe die Knöpfelschuhe<br/>der Frau und die Zugstiefel Flamettis in trunken über-<br/>nächtiger Kameradschaft beisammenstanden, nahm die<br/>Häuptlingsstiefel weg, Hess die Hauptfraustiefel stehen<br/>und rannte in die Küche nach dem Putzzeug, um<br/>den beiden anderen Favoritinnen zuvorzukommen.<br/><br/>Heute aber hatte sie sich verrechnet. Denn wäh-<br/>rend sie in fliegendem Neglige zu der Schlafzimmer-<br/>tür rannte, rutschte auch Fräulein Rosa über die Bett-<br/>kannte herunter und eilte hinaus in die Küche, um<br/>Bürste und Putzzeug an sich zu nehmen.<br/>
<br/><br/><br/><br/>88<br/><br/>Güssy aber, die im Nu, zurückbleibend, die Chancen<br/>des kommenden Streits berechnet hatte, langte sich<br/>ihre Beinkleider und zog sieh an, fieberhaft. Ihr Tem-<br/>perament war stiller, phlegmatischer, heiss. Aber so-<br/>viel wusste sie: Angekleidet würde sie bei einem Streit<br/>vor ihren im Hemd stehenden Rivalinnen im Vorteil<br/>sein.<br/><br/>Der Streit liess nicht auf sich warten. Unter der<br/>Türe zwischen Esszimmer und Küche begegneten sich<br/>Traute und Rosa. Die eine mit den Stiefeln, die andere<br/>mit Bürste und Creme. Güssy knöpfte sich gerade die<br/>Spangenschuhe zu.<br/><br/>„Gib die Stiefel her!“ rief Rosa, „sie gehen dich<br/>nichts an! Ich bin länger im Hause als ihr!“ Sie wollte<br/>sich gerade heute ein Vorrecht nicht nehmen lassen,<br/>auf das sie früher gerne verzichtete.<br/><br/>Aber Traute dachte nicht dran, die Stiefel aus der<br/>Hand zu geben.<br/><br/>„Hast du sie gestern gewichst? Hast du sie vor-<br/>gestern gewichst? Verstehst du überhaupt was davon?<br/>Fütter’ deine Tauben!“<br/><br/>Güssy lachte. Aber Rosa hatte keine Lust zu weit-<br/>schweifigen Auseinandersetzungen.<br/><br/>„Gib sie her!“ rief sie entrüstet und klopfte der<br/>Traute die Wichsbürste auf die Nase.<br/><br/>Güssy kam näher aus dem Lattcnverschlag, lachend.<br/>Die Stiefel fielen zu Boden. Die Wichsbürste ebenfalls.<br/>Die Creme rollte unter den Schrank. Traute und Rosa<br/>kriegten sich bei den Haaren.<br/><br/>In diesem Moment aber klopfte es und herein trat:<br/>Frau Schnepfe aus Basel. Sie war mit dem Frühzug her-<br/>
89<br/><br/>übergefahren, um ihre Visite zu machen, ihre ,Affären*<br/>zu erledigen und abends zur Premiere zu kommen.<br/><br/>„Guten Morgen!** sagte sie freundlich und stand<br/>unter der Türe. „Bin ich hier recht bei Flametti?**<br/>„Ah, die Frau Schnepfe!** rief Rosa, freundlich über-<br/>rascht und liess ihre Partnerin los. „Ja ja, natürlich<br/>sind Sie hier recht! Setzen Sie sich, Frau Schnepfe!**<br/>und lachte sich tot.<br/><br/>Güssy hahm die Stiefel und das Putzzeug an sich.<br/>Traute war in den Verschlag geflüchtet. Auch Rosa,<br/>kichernd hinter dem Spalt der Lattentüre, beeilte sich,<br/>einen Rock anzuziehen.<br/><br/>Frau Schnepfe war etwas befremdet von solch halb-<br/>nackter Tummelei der Künstlerinnen. Musternd sah sie<br/>sich im Esszimmer um. Hier also wohnte Flametti!<br/><br/>„Er schläft noch,** entschuldigte Rosa und kam,<br/>die Druckknöpfe schliessend, wieder zum Vorschein.<br/>Dann vorstellend: „Das ist Fräulein Güssy. Das ist<br/>Fräulein Traute!** Die rieb sich mit dem Handtuch-<br/>zipfel die Schuhcreme aus dem Gesicht. „Noch ein<br/>bisschen früh. Er 'steht immer erst auf gegen elf. Heute<br/>steht er wohl früher auf, weil wir heut’ abend die In-<br/>dianer* haben. Aber ich darf ihn nicht wecken.**<br/>„Gut, gut!** sägte Frau Schnepfe und stand auf,<br/>den Schirm in der Hand. „Ich komme später vorbei.<br/>Grüssen Sie ihn! Die Frau Schnepfe war da.**<br/><br/>„Es ist recht,** verbeugte sich Rosa graziös, ihres<br/>stellvertretenden Amtes bewusst. „Idi werd’ es be-<br/>stellen. Adieu, Frau Schnepfe!**<br/><br/>„Adieu!** dehnte Frau Schnepfe und ging, nicht<br/>ohne >im Vorbeigehen einen Blick auch in die russige<br/>
90<br/><br/>Küche geworfen zu haben, wo inzwischen Fräulein<br/>Theres hantierte, verdriesslich und Stumpen rauchend.<br/><br/>Dann kam Engel, um acht.<br/><br/>„Schläft er noch?“<br/><br/>„Ja, er schläft noch.“<br/><br/>„Wo hast du das Plakat?“<br/><br/>„Hier,“ Sagte Rosa und holte das schöne Plakat<br/>des Herrn Lemmerle aus der Ecke beim Spiegelschrank,<br/>blieb bei Herrn Engel stehen und lachte ihn an.<br/><br/>Auch die beiden andern kamen näher und lachten.<br/><br/>Engels milde Augen waren Wolfsaugen geworden.<br/><br/>„Das ist ein Plakat! Was?“ sah er sich nach den<br/>Weibern um, als hätte er das Plakat selbst gemacht.<br/><br/>Rosa lachte. Güssy kicherte verschämt. Sie kann-<br/>ten doch Flametti! Und wenn man das Bild ansah,<br/>wo er so feierlich aussah, als Indianer, — wie sollte<br/>man da nicht lachen!<br/><br/>Aber Traute lachte nicht. Sie fand es dumm, da<br/>zu lachen. Was gab es da zu lachen? Gar nichts gab<br/>es zu lachen.<br/><br/>Sie ärgerte sich über diese Gänse. Diese Rosa, die<br/>Trulle, was die schon davon verstand! Das ist doch<br/>nur für die Reklame! Er hat ein Geschäft, der Flametti.<br/>Das ist das Indianerspielen. Das macht ihm Spass.<br/>Und wenn er ein Plakat madhen lässt, ist’s schade,<br/>dass es (nur ein Brustbild iist; dass nicht auch die<br/>Beine drauf sind mit den Fransenhosen, und die Stiefel.<br/>Und man muss froh sein, wenn man ihm die Stiefel<br/>putzen darf, damit er sich freut. Und wenn er manch-<br/>mal ,verrückt' wird und toll zuschlägt, dann ist das<br/>auch nicht so schlimm! Weiber brauchen das, sonst<br/>werden sie frech. Man sieht’s ja. Und wenn er einen<br/>
91<br/><br/>anfasst, dann isfs, als ob einem Hören und Sehen ver-<br/>geht und man möchte am liebsten Zurückschlagen,<br/>weil er sich gar nicht geniert und sich nichts draus<br/>macht. Das ist schon ein Aas, dieser Flametti.<br/><br/>Und sie sagte es ganz laut, ein wenig schmollend<br/>und sehr verliebt: „Das ist schon ein Aas, dieser<br/>Flametti !**<br/><br/>Rosa krähte vor Uebermut und sah die unglücklich<br/>im Fensterwinkel sitzende Traute förderlich an. Die<br/>hatte es mächtig!<br/><br/>Güssy aber, still und heiss, hatte ein Geschäker mit<br/>dem Engel angebahnt. Sie hatten ihre Hände zum<br/>Tric-Trac ineinandergesteckt und Güssy, lang wie sie<br/>war, versuchte, den schmächtigen Ausbrecherkönig un-<br/>terzukriegen.<br/><br/>Rosa hielt, versunken, das Plakat vor sich hin.<br/><br/>Und Traute kam üäher und warf dem ,tapfren<br/>Häuptling Feuerschein* singend einen Handkuss zu,<br/>indem sie Theater machte aus ihrer Verliebtheit.<br/><br/>Und Rosa fiel ihr um den Hals und tanzte mit ihr<br/>im Zimmer herum.<br/><br/>„Lass los, Güssy!** meinte Engel ernsthaft, „hab’<br/>keine Zeit. Muss weiter. Das Plakat aushängen.**<br/><br/>„Frau Schnepfe war da!“ rief Rosa.<br/><br/>„Aus Basel?**<br/><br/>„Ja, aus Basel!**<br/><br/>„Fein 'wird,s! heut’ abend: ,Die Letzten von dem<br/>Stamm der Delawaren*,** sang Traute mit übertrie-<br/>benen Gesten, die ihr im Ernstfall gewiss nicht so<br/>leicht gefallen wären.<br/><br/>„Ja, Frau Schnepfe war da,** quittierte Engel, „und<br/>das ist auch eine Neuigkeit: dass die Häsli nicht singen.<br/>
92<br/><br/>wollen. Herr Häsli will den Schackerl nicht machen.<br/>Weil’s ihm nicht passt.“<br/><br/>„ACh, der!“ maulte Rosa gegen Engel, „was der<br/>nicht alles weiss!“ Und sie intonierte:<br/><br/>,Schackerl, Schackerl, trau di net!‘,<br/>waö sie auf der Probe gehört hatte, und kopierte da-<br/>bei Frau Häslis neckische Vortragsart.<br/><br/>Ueberhaupt: die Weiber waren ausser Rand und<br/>Band, schon so früh am Morgen und Engel warnte:<br/><br/>„Wenn ihr mal nicht andre Augen macht, eh* es<br/>Abend wird!“<br/><br/>Und Engel schickte sich an, zu gehen, das Plakat<br/>unterm Arm nebst den beiden Bildertafeln, die er<br/>sich selber langte, und auf denen die Mitglieder des<br/>Flametti-Ensembles in ihren entbötigsten Privat- und<br/>Theaterposen photographisch zugegen waren.<br/><br/>„Engel!“ rief Flametti, dessen nackter Kopf an der<br/>Schlafzimmertür erschien, und die Mädels fuhren aus-<br/>einander.<br/><br/>„Ja, Max?“ drehte Engel, schon bei der Treppe,<br/>noch einmal um.<br/><br/>„Komm mal her!“<br/><br/>Rosa nahm Güssy die Stiefel ab und stellte sie<br/>schleunigst an die Tür. Traute rief durch den Schalter:<br/><br/>„Theres, den Kaffee!“<br/><br/>Güssy nahm schleunigst die Tischdecke weg und<br/>deckte den Kaffeetisch. Engel folgte Flametti ins Aller-<br/>heiligste.<br/><br/>„Was gibts?“ fragte Flametti.<br/><br/>„Plakate holen,“ berichtete Engel.<br/><br/>„Sonst was?“ Flametti war wieder ins Bett ge-<br/>stiegen.<br/>
§3<br/><br/>„Guten Morgen, Jenny!“ machte Engel seine Re-<br/>verenz. „Nein, sonst nichts. Ja doch: Die Häsli machen<br/>solchene Zicken. Er ist ganz blutig gekratzt und er<br/>will nicht singen, sagt er.“<br/><br/>Engel bebberte heftig, wie immer, wenn er solchene<br/>Hiobsposten zu bringen hatte.<br/><br/>„Was will er?“ setzte Flametti sich auf.<br/><br/>„Na, weisst du,“ begütigte Engel, „es passt ihm<br/>nicht. Er ist doch gestern zurückgekommen vom Mili-<br/>tär. Und es passt ihm nicht, dass die Alte das Lied<br/>ausgesucht hat mit dem Schackerl.“<br/><br/>„Was ist das?“ setzte sich nun auch Jenny auf, in-<br/>dem sie das Hemd über der schönen vollen Brust<br/>zusammenzog.<br/><br/>„Na, du weisst doch, Jenny,“ erklärte Engel, „sie<br/>katzen sich doch immer. Und nun ist mir der Häsli<br/>schon früh um sieben, wie ich von der Annie kam,<br/>auf der Strasse begegnet, ganz zerkratzt um die<br/>Schnorre herum, und hat mir gesagt, dass er nicht<br/>singen will wegen dem ,trau mi net*. Und er will<br/>nicht das Kalb machen.**<br/><br/>„Gut!** sagte Flametti, „häng’ die Plakate aus! Er<br/>wird schon singen. Ich werde schon sorgen dafür,<br/>dass er singt!**<br/><br/>Und Jenny rief: „Max-, geh’ rüber zu ihnen! Setz’<br/>sie vor die Tür! HoF dir Ersatz! Hab’ ich dir’s nicht<br/>gesagt, dass sie uns aufsitzen lassen? Hab’ ich’s nicht<br/>immer gesagt? Da hast du’s! Aus der Nachtruhe stören<br/>sie einen auf, die Anarchisten!“<br/><br/>Und Max sprang aus dem Bett, zog die Hosen<br/>an, schnackelte die Hosennaht zurecht und trat ins<br/>Esszimmer, unwirsch. Der Kaffee stand auf dem Tisch.<br/>
94<br/><br/>„Wer hat die Stiefel geputzt?“ rief er.<br/><br/>„Ich!“ riefen Traute, Rosa und Güssy zugleich.<br/><br/>„Gut!“ sagte Flametti, zog die Stiefel an, setzte<br/>den Hut auf und stapfte davon.<br/><br/>Er ging aber nicht zu den Häslis, sondern begab<br/>sich schnurstracks zu Fräulein Mabel Magorah, der<br/>indischen Traumtänzerin, Rübengasse 16.IV, die er als<br/>Ersatz benötigte.<br/><br/>Auch Jenny stand jetzt auf, gar nicht guter Laune,<br/>zog den blauen Schlafrock über, der wie ein Bügel-<br/>teppich aussah, band ihn über dem Leib zusammen<br/>und kam zum Vorschein.<br/><br/>Das erste war, dass sie ihre ungeputzten Knöpfel-<br/>schuhe bemerkte. Sie tat, als merke sie gar nichts,<br/>und fragte harmlos, indem sie sich zum Kaffeetisch<br/>setzte:<br/><br/>„Wer hat meinem Mann die Stiefel geputzt?“<br/><br/>Schweigen.<br/><br/>„Na, werd’ ich’s erfahren, wer meinem Mann die<br/>Stiefel geputzt hat?“<br/><br/>Güssy frech und phlegmatisch:<br/><br/>„Ich. Warum?“ (<br/><br/>„Weil du auch meine zu putzen hast, wenn sie<br/>dabeistehen.“ Und Jenny nahm die Knöpfelschuhe<br/>und warf sie der Güssy vor die Füsse.<br/><br/>„Na!“ maulte Güssy, „ich bin doch keine Dienst-<br/>magd hier im Hause! Soll doch die Rosa die Stiefel<br/>putzen! Ich bin hier als Sängerin engagiert!“<br/><br/>„Was bist du?“ rief Jenny erbost, „Sängerin? Was<br/>sagst du? Einsperren werd’ ich euch! Nichts zu essen<br/>werd’ ich euch geben! Ich werd’ euch Mores1 lehren!<br/>Für die Kerls habt ihr Augen. Für’s Arbeiten nicht!“<br/>
95<br/><br/>Traute stand irgendwo beim Fenster, abgewandt,<br/>und kidierte in sich hinein. Rosa war hinterrücks<br/>in die Küdie verschwunden.<br/><br/>„Rosa!“ rief Jenny hinaus, „hast du dein Kleid aus-<br/>gebügelt?“<br/><br/>„Nein, noch nicht!“ antwortete es von draussen.<br/><br/>„Du bügelst dann dein Kleid aus! Theres soll die<br/>Eisen einlegen. Und dann tragt ihr die Kostüme rüber<br/>in die Garderobe!“<br/><br/>Traute bekam einen Einfall. Sie ging hinaus in<br/>die Küche und kam zurück mit einer Teekanne.<br/><br/>„Na, was hast denn du da?“ fragte Jenny.<br/><br/>„Teewasser!“ sagte Traute.<br/><br/>„Teewasser?“ fragte Jenny, „wozu Teewasser?“<br/><br/>„Ich will meine Locken wickeln.“<br/><br/>Jenny schlug mit der Hand auf den Tisch und fuhr<br/>auf. „Na, da hört doch die Weltgeschichte auf! Du<br/>bist wohl ganz und gar übergeschnappt? Locken jetzt<br/>um neun Uhr vormittags? Und aus meiner Teekanne?<br/>Deine Dreckfinger willst du in meine Teekanne stecken,<br/>aus der ich Tee trinke?“<br/><br/>Aber Traute fand das gar nicht absonderlich. We-<br/>der dass sie sich Locken wickeln wollte, noch dass<br/>sie Flamettis Teekanne dazu nahm. Sie ging deshalb<br/>ruhig weiter mit der Teekanne, nacn dem Verschlag,<br/>um ihre Lockenwickler aus der Schieblade zu nehmen.<br/><br/>Jenny hatte sie aber auch schon eingeholt.<br/><br/>„Her mit der Kanne!“ schrie sie, „raus damit in<br/>die Küche!“ ,<br/><br/>Traute hielt fest.<br/><br/>„Gibst du die Teekanne her, du Mensch?“ schrie<br/>Jenny.<br/>
96<br/><br/>Sie zerrten sich hin und her, bis die Hand der kräf-<br/>tigeren Jenny mit der Teekanne hoch in die Luft fuhr,<br/>dass das Wasser spritzte.<br/><br/>„Ich will dir Locken geben! Du gehst mir nicht aus<br/>dem Haus heut, und kommst mir mittags nicht an<br/>den Tisch.“<br/><br/>„Pah!“ rief Traute, „was ich mir draus mache!<br/>Herr Flametti hat drüber zu bestimmen. Er wird<br/>mich schon rufen.“<br/><br/>„Hier drinnen bleibst du!“ schrie Jenny ausser<br/>sich, versetzte ihr einen Stoss, schlug die Türe zu und<br/>schloss ab. „Theres!“ rief sie zum Schalter, „die be-<br/>kommt heute nichts mehr zu essen!“<br/><br/>„Und wehe euch!“ rief sie den beiden andern zu,<br/>„wenn ihr ihr was zusteckt! Ich will euch zeigen, wer<br/>hier Meister ist!“<br/><br/>Vom Verschlag her hörte man Traute trommeln<br/>und dazu singen:<br/><br/>,Der tapfre Häuptling Feuerschein<br/><br/>Mit seinen wilden Mägdelein __________‘ in einem<br/><br/>eigensinnig verliebten Rythmus.<br/><br/>„Ah, Iso!“ sagte Jenny. „Na, wart’s nur ab!“<br/><br/>Güssy hatte mittlerweile das Handtuch aufgehoben,<br/>mit dem Traute sich die Schuhcreme aus dem Gesicht<br/>gewischt hatte, und versuchte in einer Anwandlung<br/>von Solidarität, es verschwinden zu lassen.<br/><br/>Aber Jenny bemerkte gerade, dass das Handtuch<br/>hinter die Gardine fiel und rief:<br/><br/>„Gib nur her, was du dort verschwinden lassen<br/>willst! Was ist denn das?“<br/><br/>Güssy zögerte.<br/>
97<br/><br/>„Her damit!“ schrie Jenny und riss es ihr aus der<br/>Hand. „Wo kommt dieser Fleck her?“<br/><br/>„Theres!“ jammerte sie, „diese Schlampen haben<br/>mir das ganze Handtuch eingeschmiert!“<br/><br/>Jetzt kam auch Fräulein Theres herein. „Mein<br/>Gott,“ verwunderte sie sich, „was ist denn jetzt das?<br/>Aber nein, das ist doch zuviel!“ und ihr Gesicht wurde<br/>lang wie ein Laib Brot.<br/><br/>„Theres, die bringen mich ganz herunter! Die<br/>ärgern mir die Schwindsucht an den Hals!“<br/><br/>„Rosa, jetzt sag mal du,“ wandte Jenny sich an<br/>die auf das Jammergeschrei hin ebenfalls wieder her-<br/>eingekommene Rosa.<br/><br/>„Ich kann nichts dafür!“ versicherte die. „Ich hab*<br/>der Traute die Bürste auf die Nase geklopft und sie<br/>hat sich die Nase ins Handtuch gewischt.“<br/><br/>„So? Und warum das?“<br/><br/>„Weil sie mich aufzieht. Weil sie mich hänselt.<br/>Sie sagt, ich hätte was mit Ihrem Mann gehabt in<br/>der Garderobe. Und das lass ich mir nicht gefallen.<br/>Ich hab’ hie was mit Ihrem Mann gehabt. Aber sie hat<br/>sich knutschen lassen. Hab’ ich selbst gesehen. Sie ist<br/>ja jganz verschossen in ihn! Und die Güssy hat’s auch<br/>gesehen.“<br/><br/>„Hast du das gesehen?“<br/><br/>„Ich habe nichts gesehen,“ meinte Güssy apathisch,<br/>„was geht es mich an?“<br/><br/>„Jawohl hast du’s gesehen!“ fuhr Rosa sie an,<br/>„bist ja selbst eifersüchtig auf ihn! Bist du’s vielleicht<br/>nicht ?“<br/><br/>„Pah!“ warf Güssy weit weg, „eifersüchtig!“<br/><br/>„Raus in die Küche!“ schrie Jenny und packte<br/><br/>Flametti. 7<br/>
08<br/><br/>eine nach der andern beim Aermel, „ihr sollt mich<br/>kennen lernen!“<br/><br/>Da ging auch Fräulein Theres wieder hinaus, Stum-<br/>pen rauchend, und schloss die Türe hinter sich.<br/><br/>Und Schritte Hessen sich vernehmen auf der Treppe<br/>und Raffaela kam, die Tänzerin, Tochter von Donna<br/>Maria Josefa, mit ihrem Kind, der kleinen Lotte, die<br/>bamsig und fett an der Hand ihrer Mutter wackelte.<br/><br/>„Duden Morgen!“ dehnte Raffaela bamsig und fett<br/>im Ton ihres Kindes, „sag* schön ,Duden Morgen !',<br/>Lotte!“ ... ,„wir haben unsern Sirm stehen lassen<br/>neulich, und wollen ihn wieder holen____“<br/><br/>„Dida holen,“ echote die kleine Lotte.<br/><br/>„Dieder 'holen,“ wiederholte Raffaela phlegmatisch.<br/><br/>„Ach, Raffaela!“ klagte Jenny, „ich bin ganz un-<br/>glücklich! Gut, dass du kommst. Setz’ dich, trink’ ’ne<br/>Tasse Kaffee!“<br/><br/>„Tasse Taffee!“ wiederholte Lotte.<br/><br/>„Denk’ dir,“ fuhr Jenny fort, „diese Menscher!<br/>Sie stellen mir das ganze Haus auf den Kopf! Heut’<br/>abend haben wir doch die ,Indianer'. Und zu Haus<br/>geht alles drunter und drüber. Locken brennen sie<br/>sich am hellen Vormittag. Der einen hab’ ich Ohrfeigen<br/>gegeben. Die heult draussen. Die andere hab’ ich ein-<br/>gesperrt. Hinter meinem Mann sind sie her. Seit<br/>diese ,Indianer' ins Haus kamen, hab’ ich keine ruhige<br/>Minute mehr. Er ist der Häuptling Feuerschein, ver-<br/>stehst du, und sie sind seine ,Mägdelein', sein Harem.<br/>Er hat sie in der Kur, alle drei, und sie trumpfen auf.<br/>Sie lassen sich nichts mehr bieten von mir. Sie werden<br/>frech. Was mach’ ich nur?“<br/>
Raffaela war sprachlos; fand aber soviel Be-><br/>sinnung, Lotte Kaffee einzugiessen und Brote zu strei-<br/>chen.<br/><br/>„Nein,“ tat sie verblüfft, „so was! Geh’, Jenny, 's ist<br/>nicht möglich!“ — „Seine Mägdelein!“ krähte sie,<br/>„nein, so was!“ Sie schien für Flamettis Romantik noch<br/>weniger Sinn zu haben als Jenny.<br/><br/>„Geh', lach' nicht!“ sagte die. „Er hat sie in der<br/>Kur. Ich weiss es ganz genau. Und sie trumpfen auf.<br/>,Das werden wir schon sehen/ sagte dieser Fetzen,<br/>die Traute. Sie weiss, dass er ihr die Stange hält.<br/>Mit der Teekanne kommt sie an, gerade vorhin, und<br/>will sich Locken wickeln. Meine Handtücher schmie-<br/>ren sie mir ein. Die Betten zerschneiden sie mir.<br/>Die IVorhänge reissen sie mir herunter!“<br/><br/>„Na, (das ist doch die Höhe!“ war Raffaela paff<br/>vor Erstaunen, und setzte die Geleeschnitte ab, die<br/>'sie gerade in den geöffneten Mund schieben wollte.<br/>„Ja, lässt du dir das gefallen?“<br/><br/>„Was soll ich denn tun? Er kommt mir ja nicht<br/>mehr (nach Haus! Er lässt sich ja nicht mehr blicken!<br/>Er verspielt ja das ganze Geld! Sechshundert Franken<br/>hatten wir auf der Kasse. Alles ist fort. Auto fährt<br/>er mit ihnen. Ins Kino führt er sie. Er ist der Häupt-<br/>ling Feuerschein und sie sind seine Trullen. — Mit der<br/>Soubrette hat er auch was. Vor zwei Stunden ist er<br/>weggegangen. Heut nachmittag kommt er zurück. Und<br/>hier geht alles drunter und drüber. Der Engel hat die<br/>Plakate (noch nicht abgeholt und jetzt ist es zehn.<br/>Die Häsli wollen nicht singen heut abend und wir<br/>haben doch niemanden. Kein Geld lässt er mir für<br/>die Haushaltung und mutet den Leuten zu, sechsmal<br/>
100<br/><br/>Fisch zu essen in der Woche. Natürlich laufen sie<br/>weg______“<br/><br/>Raffaela schüttelte den Kopf ob solcher Unglaub-<br/>lichkeiten: „Ja, Jenny, ist das denn möglich?“<br/><br/>„Ah, du hast ’ne Ahnung!“ seufzte die, wirklich<br/>mitleiderregend, ganz zersprengtes Gesicht, „ich weiss<br/>mir ja nicht mehr zu helfen!“<br/><br/>„Ja, Jenny!“ rief Raffaela, „ich bin ja starr!“<br/>Und Jenny bemerkte wohl den Erfolg der Affäre<br/>und ihrer Person und begann, sich selber zu trösten:<br/><br/>„Aber lass nur gut sein,“ sagte sie, „ich hab’ ja<br/>auch Imeine Leute an der Hand! Ich hab’ ja meinen<br/>Freund aus Baden! Heut abend kommt er in die Vor-<br/>stellung. Ich hab’ ja Kavaliere. Ich brauche ja hur<br/>ein Wort zu sagen. Brauche ja nur einen Wink zu<br/><br/>geben____ Ich lass ihn ins Irrenhaus stecken________“<br/><br/>„Jenny!“<br/><br/>Aber 'Jenny, unbeirrt: „Ich lass ihn ins Irrenhaus<br/>stecken, meiner Seel. Ich schaffe mir Geld beiseite<br/>und geh’ mit meinem Freund auf und davon.“<br/><br/>Das schien Raffaela ein wenig zu abenteuer-<br/>lich. „Ach, Jenny!“ lächelte sie beschwichtigend, und<br/>patschte liebreich nach Jennys Hand. „Lottely, schau,<br/>wie sie eifersüchtig ist!“ Und mästete sich weiter.<br/><br/>„Eifersüchtig?“ schepperte Jenny und zog den<br/>blauen Schlafrock mit einem Rückfall in frühere chicke<br/>Allüren um den Leib, „nichts zu machen! Wir ver-<br/>kehren nicht miteinander. Ich bin nicht eifersüchtig.<br/>Ich hab* ihn genommen, weil er ein solcher Bauer war.<br/>Weil er mir meine Pakete trug.“<br/><br/>„Raffaela,“ sägte sie in plötzlichem Einfall, „du musst<br/>mir helfen. Wir stecken ihn ins Irrenhaus. Dann ma-<br/>
101<br/><br/>Chen wir zusammen ein Ensemble. Ich hab’ die Ko-<br/>stüme. Du und Lydia, ihr tanzt. Leporello (das war<br/>Lydias Partner) wird Direktor.“<br/><br/>„Je, Jenny!“ meinte Raffaela, „du phantasierst ja!<br/>Beruhig’ dich doch!“ Und ass weiter, als müsse sie<br/>selbst sich beruhigen.<br/><br/>Schritte auf der Treppe Hessen sich vernehmen.<br/>Flametti kam zurück.<br/><br/>Er hing den Hut an den Nagel. „So!“ sagte er,<br/>„das ist erledigt. Wenn die Häsli nicht singen wol-<br/>len ____“ „dann tanzt die Mabel,“ wollte er sagen.<br/><br/>Aber er bemerkte noch rechtzeitig Raffaela und sagte:<br/>„Dann hab’ ich Ersatz. Tag, Raffaela!“<br/><br/>Es sei hier angefügt, dass Traute über das Mittag-<br/>essen nicht eingesperrt blieb.<br/><br/>„Dummes Zeug!“ sagte Flametti, „das gibt es bei<br/>mir nicht. Bei mir wird niemand eingesperrt.“<br/><br/>Und Fräulein Traute wurde befreit aus dem Karzer<br/>und kam zum Vorschein, den Kopf über und über voll<br/>Locken, die sie mit Hilfe von Jennys Himbeersyrup,<br/>der im TaubenversChlag auf dem Schrank stand, sehr<br/>kunstvoll ge- und entwickelt hatte.<br/><br/>Jenny war keine böse Frau von Natur. Sie war<br/>edel, hilfreich und gut. Sie schenkte den Armen und<br/>liebte ihre Feinde. Aber sie wusste, was sie sich<br/>schuldig war als Flamettis Weib. Einem solchen Manne<br/>entsprach eine solche Frau.<br/><br/>Wenn feie in engerem Kreise versicherte, diese<br/>Person, diese Traute, sei nicht die erste, die sie ins<br/>Arbeitshaus bringe, so brauchte man das nicht wört-<br/>lich zu nehmen. Es war ein Symbol gewissermassen<br/>für ihre Anschauung, dass ein Manh von der Kühnheit<br/>
102<br/><br/>Flamettis einer Frau gewiss zu sein habe, die ge-<br/>fährlich, herzlos, zum Handeln bereit, auch Kanaille<br/>sein könne, entschlossen, eiskalt und zu jedem Mittel<br/>bereit, wenn es drauf ankam, sich Achtung und Furcht<br/>zu verschaffen.<br/><br/>Zu Mittag kamen auch Herr und Frau Häsli; beide<br/>ein wenig zerkratzt und zerbeult, aber beide voll Liebe<br/>und Güte. Und daran war nidit zu denken, dass sie<br/>das ,SchackerF nicht singen wollten. Im Gegenteil.<br/><br/>Und die Fuchsweide dämmerte. Bucklig und win-<br/>kelig sank sie mit ihrem Halbhundert Gassen ver-<br/>schmutzt und im Rauch ihrer Herdfeuer grau in den<br/>Abend.<br/><br/>Die Giebel zerschnitten sich hoch in der Luft.<br/><br/>Die Häuser barsten von Feuer und Licht. Die Osra-<br/>und Tristankerzen, die Gasglühlichter und Bogenlampen<br/>leuchteten auf. Die Metzgereien und Magazine und<br/>Handwerksstätten glühten wie Einkaufsbuden des<br/>Teufels.<br/><br/>Man legte die Arbeitsschürzen jetzt ab in den Kel-<br/>lern. Im Hinterhaus, in den Stuben und Giebeln fri-<br/>sierte man sich und machte Toilette.<br/><br/>Los gingen die Grammophone, OrChestrione und das<br/>Elektroklavier. Auftauchten verwegne Gestalten beider-<br/>lei Geschlechts vor beleuchteten Spiegeln, unter dem<br/>Haustor und auf der Strasse.<br/><br/>Auf ging der Mond und in den Konzertlokalen tum-<br/>melten freundliche Sängerinnen und früheste Zauber-<br/>künstler bereits ihre Stimmen.<br/><br/>Schlächtergesellen führten den Wolfshund spazieren.<br/>Soldaten riefen sich zu. Ausbündige Eleganz grüsste<br/>
103<br/><br/>„Salü!** Hoch aus dem fünften Stockwerk, wie von<br/>der Sternwarte weg, probierte Herr Bonifaz Käsbohrer<br/>in überschnappenden Tönen sein B-Klarinett, das er<br/>mit Hilfe des ,Tagblatts* nachmittags eingetauscht hatte<br/>gegen ein abgenütztes Veloziped.<br/><br/>Dann aufdringlich und bunt: Die Rumänische Da-<br/>menkapelle begab sich zum ,Blauen Himmel*. Ein<br/>Fräulein knüpfte Bekanntschaften an. Tirolerjodler<br/>gingen mit grünen Hüten und Zitherkästen. Ein Ko-<br/>miker kam im Zylinderhut. Drei schäbig gekleidete<br/>Herren !mit Jokeymützen, wollenen Schal um den Hals,<br/>gaben, beim Gehen leicht ihre Schultern drehend, ei-<br/>ner pompaduresk hoch aufgeprotzten Dame unerbet-<br/>nes Geleit.<br/><br/>Und höllenhaft, magisch, radauend und zeternd;<br/>die Lichtreklame des ,Krokodil* entfaltete ihre chine-<br/>sisch untereinander geordnete Buchstabenreihe, die<br/>vom Dach bis zum Boden reichte. Der ganze<br/>,Mönchsplatz* war rot überstrahlt. Die benachbarten<br/>Häuserfronten schienen von rotem Licht halb aufge-<br/>fressen. Die Bummler, Passanten und zeitunglesen-<br/>den Gruppen der Arbeiter taumelten in einer Flut von<br/>Licht.<br/><br/>Im Nebengebäude negerten los: die Pauke und das<br/>Tschinell. Ueber der Strasse drüben rupften zwei riva-<br/>lisierende Damen einander die Federn aus.<br/><br/>,Ich nehme meinen Zauberstab zum zweitenmal<br/>in die Hand!* schrie es aus der ,Tulpenblüte*.<br/><br/>,Hei, wie das prasselt und wie das herrlich zischt!<br/><br/>Das Sieht nur einer, der in der Hölle ist!*<br/>stampfte und klatschte es aus dem ,Vaterland*. Dort<br/>schwangen Ferreros ,Lustige Teufel* die Zackenspiesse.<br/>
104<br/><br/>,Welch wunderschöner Klang<br/>Tönt Idurdh die Strass' entlang!<br/><br/>Jetzt kommt auf Ehr<br/>Das Militär<br/><br/>In Reih' und Glied daher!'<br/><br/>wetterte es, weniger diabolisch, dafür preussischer, aus<br/>der weiter unten gelegenen ,Wasserjungfer', wo auch<br/>Fräulein Kunigunde, die Schlangendame, zugegen war.<br/><br/>Weiterobenaber, jenseits des Platzes, übertönte den<br/>Lärm die wie eine Weckuhr losrasselnde französische<br/>Soubrette des ,Cafe Neptun':<br/><br/>,Einrich, lass die Ösen runter,<br/><br/>Tu mir den Gefallen!<br/><br/>Lass Sie bitte gance erunter<br/>Auf die Srümpfe fallen.'<br/><br/>Unschlüssig schwankte das Publikum zwischen<br/>,Grosse Trommel', ,Infernalische Leidenschaft',,Kaiser<br/>Wilhelm' Und ,Pariser Eleganz'.<br/><br/>Hier war was geboten! Hier kam man auf seine<br/>Rechnung! Und was ein richtiger Dandy war, der<br/>von Ider Welt etwas verstand, entschloss sich überhaupt<br/>nicht, hineinzugehen, sondern die Sache mehr pla-<br/>tonisch zu gemessen, als Schauspiel gewissermassen,<br/>von aussen, als Zusammenklang, mit der überlegenen<br/>Intelligenz dessen, den die Realität nur als Widerspruch<br/>nicht mehr enttäuschen kann.<br/><br/>Noch aber hatte die FuchsWeide ihre letzte Ver-<br/>führung hicht ausgespielt: die Echtheit inmitten einer<br/>Welt des Scheins; das Wunder als Resultat unerhörter<br/>Perversitäten. Von wem aber konnte man solche Lei-<br/>stung erwarten? Nur von Flametti.<br/><br/>Man staute sich vor den breiten Reklamefenstern<br/>
105<br/><br/>des Krokodilen'. Da stand vor (dem grossen Aquarium<br/>voll blaugrauer Karpfen das Plakat der ,Indianer':<br/>Flametti als Häuptling Feuerschein.<br/><br/>So sah er aus! So leibte und lebte er! Das war<br/>die Synthese seiner inneren Eigenschaften!<br/><br/>Wer hatte ihn nicht gesehen, 'mittags um zwölf,<br/>wenn man von der Arbeit kam, vor der Haustüre,<br/>in Hemdärmeln, gutartig und freundlich? Wer hatte ihn<br/>nicht gesehen früh morgens, wenn er mit Jenny vom<br/>Markte kam und die Markttasche trug mit den Ka-<br/>rotten? Er war nicht immer der Furchtbare, Blutige.<br/>Zahm und umgänglich war er privatim, ein friedlicher<br/>Bürger viel mehr als ein Menschenfresser.<br/><br/>Unter dem Plakat aber stand:<br/><br/>,Alleiniges Aufführungsrecht:<br/><br/>Flamettis Variete-Ensemble/<br/>ein Hieb für die Herren Direktoren. Und der Satz:<br/><br/>,Wer die ,Indianer' nachmacht,<br/>wird gerichtlich verfolgt.'<br/><br/>Das Publikum stiess sich und drängte sich; auch<br/>vor dem zweiten Reklamefenster. Dort standen die<br/>Bildertafeln und ein zweites1 Plakat:<br/><br/>,50 Mann Blasorchester!<br/><br/>1 Beginn : acht Uhr.<br/><br/>Grossartiges, allerneustes Programm!<br/><br/>Tanz! Tanz! Tanz!<br/><br/>Lauter Schlager! Es wird kassiert!'<br/><br/>Las es und strömte hinein ins ,Krokodil'.<br/><br/>Es kam, sah und strömte: Herr Friedrich Naumann,<br/>kurzweg der ,Krematoriumfritze' genannt, einer von<br/>Jennys scharfen Verehrern.<br/><br/>Es kamen, sahen und strömten: Fräulein Annie<br/>
nebst Herrn Engel, welch letzterer seinen schwarzen<br/>Gehrock angezogen hatte. „Annie!“ sagte er, „es<br/>wird grossartig! Verlass dich drauf!“<br/><br/>Es kamen und strömten: Raffaela und ihre<br/><br/>Schwester Lydia, sowie deren gemeinschaftliche Mutter<br/>Donna Maria Josefa, nebst einer ganzen Anzahl männ-<br/>licher Zirkusmitglieder, die alle nicht zahlten, weil sie<br/>Artisten waren.<br/><br/>Es kam, sah und strömte: Frau Schnepfe, in Be-<br/>gleitung Flamettis und der Hauptfrau im Abendmantel<br/>des Herrn Coiffeurs Voegeli. Das Publikum wich ehr-<br/>erbietig zurück.<br/><br/>Es kamen, sahen und strömten: zwei israelitische<br/>Handlungskommis, rote Nelken im Knopfloch; der ob-<br/>genannte Coiffeur Herr Voegeli, der seinen Regen-<br/>schirm ausschüttelte; denn es regnete inzwischen. Und<br/>späterhin eine ganze Reihe Mannschaften des Fuss-<br/>ballklubs ,Hermes'.<br/><br/>' Drinnen aber herrschten Fieber und Spannung. Der<br/>ganze Raum war verwandelt in ein Gehänge blühender<br/>Rosenranken. Künstliche Lauben aus Birkenruten zo-<br/>gen sich an der Wand lang. Festtagscharakter trug<br/>das Lokal.<br/><br/>Die Tische waren sämtlich mit rotgewürfelten<br/>Decken belegt. Saftige Kuchen- und Tortenstücke<br/>strahlten auf blinkenden Nickeltellern. Die Platt-<br/>menagen mit Oel, Pfeffer und Salz warfen gescheuert<br/>das elektrische Licht unzähliger kleiner blutroter Bir-<br/>nen zurück. Verschwunden war der getrocknete Rand<br/>am Senfnapf. Und so man den Löffel bewegte, der<br/>darin steckte: heut war er nicht angeklebt. Er Hess<br/>sich bewegen,<br/>
107<br/><br/>Versammelt waren bereits sämtliche Damen<br/>von Ruf. Vorne am Künstlertisch, wo sie heute<br/>nicht gerne gesehen war, sass Fräulein Amalie in<br/>braunem Samtkostüm mit Bolerohut, schon iseit halb<br/>acht. Den Zwergpintscher hatte sie auf den hohen<br/>Busen gesetzt. Das gab ihr viel Air. Ihre Beine, elast-<br/>ische Sägmehlbeine, baumelten unter den Tisch, und<br/>sie spielte mit einer der Hängrosenranken. Eine Zi-<br/>garette rauchte sie. Ihr Verhältnis war Eisenbahner;<br/>heute hatte er Nachtdienst. Brillanten blitzten an ihren<br/>Fingern. Die spitzigen Halbschuhe aus feinstem Rinds-<br/>leder reichten nicht ganz auf den Boden. Auch schien<br/>das1 Strumpfband gerissen: die braunen .Wollstrümpfe<br/>knäulten Sich unter den Waden. Das Hündchen aber<br/>auf seiner exponierten Stelle drehte den knappen Popo<br/>und konnte sich gar nicht genugtun vor Freude, dabei-<br/>zusein.<br/><br/>Weiter drüben, auf den besten Mittelplätzen, sassen<br/>der runzliche ,Totenkopf' und seine Schwester. Der<br/>,Totenkopf' war die berufenste Dame\der Fuchsweide.<br/>Allabendlich Gast des Flametti-Ensembles. Weiss ge-<br/>schminkt, die Augenhöhlen gerötet, sass ihr Gesicht<br/>auf dem kropfigen Hals. Unruhig schob sie das Hinter-<br/>quartier auf dem Stuhl hin mnd her, blickte sich um<br/>nach den eintretenden Gästen, band sich das Strumpf-<br/>band fester und schob währenddessen den sechsten<br/>Kuchen zwischen das goldne Gebiss. Sie konnte sich’s<br/>leisten. Die Schwester des ,Totenkopf' hatte das Leder-<br/>täschchen über die Stuhllehne gehängt, tupfte die rote<br/>Nase ein wenig mit Puder und Taschentuch, und juckte<br/>sich mit dem linken Fuss an der abgewetzten Innenseite<br/>des rechten Knies.<br/><br/>-4.<br/>
108<br/><br/>An Öer Wand gegenüber, bescheiden in Rückendek-<br/>kung, hatte sich Fräulein Annie, die Freundin Engels,<br/>ein helles Bier bestellt, ihren Fuchspelz loser gehängt;<br/>besah sich die Fingernägel, aus denen sie mittels eines<br/>zerknickten Streichholzes die Erdkrumen zu verdrängen<br/>suchte, und war sehr besorgt, mit der Manicure nicht<br/>fertig zu werden, bevor sich ein Herr mit schottischem<br/>Schäferhund, der jetzt eintrat, allenfalls' zu ihr setzte,<br/>um ihr Gesellschaft zu leisten.<br/><br/>Sie lächelte kopfschüttelnd, als sei sie erstaunt,<br/>zu lächeln, konnte jedoch ihren Hals nicht recht drehen,<br/>weil ein Furunkel dransass.<br/><br/>Dieser Furunkel: ein Unglück! Er wanderte über<br/>den ganzen Körper. Bald da, bald dort tauchte er auf,<br/>gesellte sich andern Furunkeln zu und konnte schon<br/>bald den Eindruck erwecken, als sei er ein ganz be-<br/>stondrer Furunkel. Annies fixe Idee war, er möchte<br/>von heute auf morgen am Hals verschwinden und<br/>zwischen den Zähnen auftauchen.- Drum zog sie die<br/>Oberlippe stets hoch und die Unterlippe hing ihr vom<br/>Munde weg. Doch jener Furunkel tat das nicht.<br/>Der Herr trat näher und sägte verbindlich:<br/>„Wenn Sie gestatten, Fräulein!“<br/><br/>„Oh, bitte!“ sagte Annie und nahm zugleich mit<br/>dem Stuhl ihre Röcke zusammen, um Platz zu machen.<br/>Und in ihr silbernes Etui greifend:<br/><br/>„Rauchen *Sie eine Zigarette?“<br/><br/>„Sehr liebenswürdig!“ sagte der fremde Herr und<br/>zog das Zigarettenetui näher zu sich heran.<br/><br/>Herein trat Fräulein Frieda, der ,Hinkepott‘, auf-<br/>getakelt in Seidengrimmer, mit ausgeleierter Hüfte ver-<br/>schoben haxend. Ihr folgte Fräulein Dada in einem<br/>
100<br/><br/>Schneiderkleid ä la feldgraue Uniform, nach neuestem<br/>Schick. Der Unterkiefer hing ihr sehr lang, ein ver-<br/>fettetes Dreieck. Mit den Händen stützte sie sich,<br/>im Vorbeigehen, langsam und sehr elegant auf die<br/>Tische. Das feldgraue Schneiderkleid machte Furore.<br/>Aller Augen sahen nach ihr. Auch diese beiden Damen<br/>begaben sich möglichst nach vorne, um in der besten<br/>Gesellschaft zu sein und ein wenig zu profitieren vom<br/>Rampenlicht.<br/><br/>Neben der Bühne aber versammelte sich das Or-<br/>chester des Herrn Foumier: fünfzig Mann mit Schlag-<br/>zeug und Basstrompeten.<br/><br/>Die Lehrmädel, Jenny und die Soubrette erschienen<br/>in tangofarbenen Babyhängem, Schleifen im Haar, neig-<br/>ten die Köpfe, schwänzelten, nickten den Gästen zu<br/>und gruppierten sich um den Künstlertisch.<br/><br/>Engel vom Vorhang aus machte verrenkt pathe-<br/>tische Zeichen zum Büfett für die Beleuchtung. Sein<br/>Gehrock flatterte. Hijiter der Bühne zog es. Herr<br/>Meyer entfaltete die Noten seiner Begleitmusik und<br/>probierte, für alle Fälle, das Pedal. Er war auf der<br/>ganzen Linie für Pedalisierung. Ein Leben ohne Pedal<br/>schien ihm scheusslich und abgeschmackt.<br/><br/>Flametti, den Herr Farolyi vom Zirkus Donna Maria<br/>Josefa mit vorgestreckter Hand fachmännisch begrüsste,<br/>wischte Isich mit dem Sacktuch über die Stirn. Jenny<br/>stellte die Kasse nebst Zubehör auf den Künstlertisch.<br/>Und Fräulein Traute, den Kopf wippend voll Locken,<br/>setzte sich plumpsend daneben.<br/><br/>Herr Häsli Hatte eben noch Zeit, seine Krawatte<br/>zurechtzuzupfen. Frau Häsli, den Brustlatz ihrer Toch-<br/>ter zu arrangieren. Dann begannt.<br/>
110<br/><br/>„Mtata, mtata, umba, umba, umba, umba!“, und<br/>Herr Fournier schlug mit dem Taktstock, als wär’s<br/>eine Peitsche.<br/><br/>Die Musik ging denn auch merklich vorwärts. Nur der<br/>linke Trompeter, der die Posaune bediente, kam nicht<br/>zurecht. Doch das war jetzt nicht mehr von Belang.<br/>Los jging die Musik, dass die Schwarten knackten.<br/><br/>„Ptuhh dada dada da, umba, umba!“ bliess die<br/>Basstrompete in idealer Konkurrenz mit Pauke und -<br/>Schrummbass. Dieser Schrummbass war die Speziali-<br/>tät des Herrn Fournier. Es war phänomenal.<br/><br/>Immer mehr Volks strömte hinzu. Soldaten kamen,<br/>rote Gesichter, silberne Epauletten, und sassen zu bei-<br/>den Seiten eines mittleren Längstisches wie Ruderer<br/>bei der Regatta* Studenten warfen mit Schokoladeplätz-<br/>chen verstohlen nach der festlich grinsenden Rosa,<br/>die, von Tisch zu Tisch Billette verkaufend, gar artig<br/>die Beine setzte. Rechts von der Bühne, nahe beim<br/>Künstlertisch, steckte Fräulein Güssy in Eile der Sou-<br/>brette eine halb aufgeblühte Rose ins Haar. Herr<br/>Häsli suchte die Noten heraus. An der Kasse, mit<br/>Frau Schnepfe, säss Jenny, gravitätisch, bonzenhaft,<br/>ihrer Bedeutung vollkommen bewusst; die Repräsen-<br/>tation verkörpernd. Neben ihr Traute.<br/><br/>Auch Güssy und die Soubrette eilten jetzt mit Bil-<br/>letten ins Publikum. Frau Häsli trat mit dem Fuss den<br/>Takt zur Musik. Toni, die Tochter, äugte nach Kava-<br/>lieren.<br/><br/>„Dadadadada umba, umba, um!“ machte die Musik.<br/>Sie war angekommen am Ziel. Das Stück war zu Ende.<br/><br/>Langsamer Beifall erhob sich. Flametti fuhr sich<br/>nervös durchs Haar.<br/>
111<br/><br/>Er schob sein Röllchen zurück, nahm einen Schluck<br/>Helles. Dann trat er vor und sprach:<br/><br/>„Meine Damen und Herrn! Ich heisse Sie herzlich<br/>willkommen und danke Ihnen für Ihren zahlreichen<br/>und glänzenden Besuch. Ich gebe mir die Ehre, Ihnen<br/>mitzuteilen“ — lautlose Stille—, „dass es mir gelungen<br/>ist, Ihnen heute abend ein ganz besonders interessan-<br/>tes Programm zu bieten. Hehr Generalmusikdirektor<br/>Foumier mit seiner fünfzig Mann starken Eisenbahner-<br/>kapelle hat Ihnen bereits eine Probe seiner bewährten<br/>Kunst vorgelegt. Er wird bei uns bleiben nicht nur<br/>bis elf, wie es sonst üblich ist, sondern bis drei Uhr.<br/>Denn: es wird getanzt.<br/><br/>„Sie sagen vielleicht: wie kann man hier tanzen,<br/>unter Iden Heckenrosen? Aber das ist gerade die Kunst.<br/>Wir werden den Frühling in Herbst verwandeln durch<br/>Aufgebot Unserer dienstbaren Geister vom ,Krokodil*<br/>und Umgebung. Durch eine geheimnisvolle Mechanik<br/>hat unser Gastgeber, Herr Hotelier Schnabel, es mög-<br/>lich gemacht, im Handumdrehen die hängenden Gärten<br/>der Semiramis in ein Palais Masdotte, ein Moulin<br/>Rouge, iin ein Tivoli zu verwandtein.“<br/><br/>Flametti lächelte. Der ,Totenkopf* warf ihm mit<br/>offenem Mund befremdete Blicke zu.<br/><br/>„Meine Damen und Herrn!** fuhr Flametti fort,<br/>„Das ist ja ein Schmus, was ich Ihnen da sage. Das<br/>merkt ja der Dümmste. Das ist ja Stuss. Aber Sie<br/>sehen heute zum erstenmal hier das berühmte Jodler-<br/>terzett Häsli aus Bern, dessen Scherzos und herzerquik-<br/>kende Jodlerlieder —** — Flametti sah sich nach Frau<br/>Häsli um —; „Ihnen einen Begriff geben werden, mit<br/>was für angenehmen, sbliden und renommierten Künst-<br/>
112<br/><br/>lern Sie es zu tun haben. Ich führe Ihnen sodann zum<br/>erstenmal hier im ,Krokodil* unseren Herrn Damen-<br/>imitator Arista vor:<br/><br/>,Nur immer raus damit, nur immer raus damit!<br/><br/>Wozu haben wir’s denn? Na ja!'"<br/><br/>Flametti kam in Stimmung. Er zitierte und gab<br/>Probegesten____<br/><br/>„Ich führe Ihnen endlich hier zum erstenmal<br/>,iDie Indianer' vor, verfasst von meinem Freunde St.<br/>Rotter, Konferenzier und Improvisator am Germania-<br/>Cabaret.<br/><br/>„Meine Damen und Herrn! Keine richtigen, echten,<br/>wirklichen Indianer. Keine Sioux, Apachen, Komant-<br/>schen. Keiner wird mit die Ketten rasseln wie auf<br/>dem Jahrmarkt, oder auf der Mess’ z’ Basel. Sie<br/>brauchen keine Angst zu haben. Es schreckt nicht.<br/>Es1 passiert Ihnen nichts. Sondern: Sie sehen die Wirk-<br/>lichkeit. Das aussterbende Volk der Indianer auf dem<br/>Kriegspfad. Die Rache und die Verklärung. Den Häupt-<br/>ling mache ich selbst."<br/><br/>„Ich selbst," wiederholte Flametti, indem er in<br/>Selbstpersiflage komisch an sich hinunterstrich. „Die<br/>Musik macht Herr Meyer," und stellte mit einer seit-<br/>lichen Handbewegung den Pianisten vor.<br/><br/>„Sie werden dieses Ensemble sehen und ergriffen<br/>sein. Sie werden uns staunend Ihren Bekannten rekom-<br/>mandieren, wenn es Ihnen gefallen hat.<br/><br/>„Sie können sich denken, dass solche Ausstattungs-<br/>piecen bei den heutigen Zeiten fast unerschwinglich<br/>sind. Sie werden befürchten, dass eine Extrakassierung<br/>stattfinden wird. Nichts von alledem! Wir kassieren<br/>wie sonst. Ohne Extraerhebung. Dafür hoffe ich aber,<br/>
113<br/><br/>dass auch Sie sich erkenntlich zeigen und ein wenig<br/>tiefer in den Geldbeutel greifen. Besonders die ,Ga-<br/>lerie*. Bei der Kassierung bleibt die Toilette ge-<br/>schlossen. —<br/><br/>„Wir beginnen also jetzt mit dem Eröffnungslied.<br/>Mister Bobby wird Ihnen sodann seinen neu einstu-<br/>dierten Kautschuk- und Exzentrikakt vorführen.“<br/><br/>Er trat zurück. Freundlicher Beifall erhob sich:<br/>man dankte fürs Arrangement.<br/><br/>„Sehr hübsch,** sagte Donna Maria Josefa über-<br/>rascht zu Herrn Leporello, demselben Herrn Lepo-<br/>rello, den Jenny morgens im Gespräch mit Raffaela<br/>als Direktor bezeichnet hatte.<br/><br/>Mister Bobby, der Exzentrikmann, war inzwischen<br/>ebenfalls erschienen, in schillerndem Eidechsenkostüm;<br/>einen hellbraunen, vom Regen verwaschenen Sommer-<br/>paletot über den Schultern, Zigarette rauchend.<br/><br/>Map diskutierte die zart gesetzte Rede Flamettis<br/>und stimmte allseits darin überein, dass Flametti in<br/>solchen sarkastisch-sachlichen Gängen unübertroffen sei.<br/><br/>Der Ausfall gegen das Jodlerterzett bei aller An-<br/>erkennung der Häslischen Leistungen, bildete eine ganz<br/>besondere Sensation. Solcherlei Ausfälle liebte Fla-<br/>metti. Sie erweckten im Zuschauerkreis ein Interesse,<br/>das über die rein artistische Leistung hinaus die Person<br/>des Artisten auch von der menschlichen Seite ins Auge<br/>fasste. Sie boten Flametti Gelegenheit, zu privaten und<br/>häuslichen Dingen summarisch Stellung zu nehmen.<br/>Der Vortrag vor Oeffentlichkeit und Gesellschaft wurde<br/>in seinen Händen ein starkes Mittel, die Seinen an<br/>exponierter Stelle im Zaume zu halten.<br/><br/>Frau Häsli war denn auch reichlich aufgebracht.<br/><br/>Flametti. 8<br/>
i-------------■<br/><br/>114<br/><br/>„Flametti!“ stellte sie ihn zur Rede, „das was<br/>nicht nötig! Das haben wir nicht verdient um euch.<br/>So ;eine Blamage! Ich hab’ nun gesehen, wie man mit<br/>uns verfährt. Ich habe nie nötig gehabt, im Häuschen<br/>zu sitzen!“, — das war eine Anspielung auf Jennys<br/>Vergangenheit —, „na, gut, dass ich’s weiss.“<br/><br/>Hastig strich sie sich die Löckchen aus der Stirn.<br/><br/>„Jenny,“ rief sie, „das hätte ich nicht erwartet.<br/>Pfui Teufel. Da sieht man’s!“<br/><br/>Auch Häsli fand solche Manier despektierlich. Er<br/>spuckte aus. Sagte aber nichts. Rosa feixte.<br/><br/>Es war keine Zeit, sich aufzuhalten.<br/><br/>„Fort, Kinder! Anfängen, anfangen!“ drängte Fla-<br/>metti. „Engel, den Vorhang! Fertig? Herr Meyer!“<br/><br/>Die Mädel rannten hinter die Bühne. Flametti<br/>stürzte sein Helles hinunter. Der Zwergpintscher auf<br/>Fräulein Amaliens Busen kläffte, weil ihn Amalie kit-<br/>zelte. Die Rosenlauben schwankten. Das Publikum<br/>rückte gespannt auf den Stühlen.<br/><br/>Klingelzeichen. Der Vorhang ging auf, und in einer<br/>Reihe standen: Jenny, Rosa, die Soubrette, Fräulein<br/>Oüssy und Fräulein Traute; alle in Tangokostümen.<br/>Rot, blau, grün, gelb, violett die Schleifen im Haar.<br/>Ueberflutet von Bühnenlicht. Ein zärtlicher Anblick.<br/><br/>Die hochgeschminkten Gesichter strahlten. Die fünf<br/>Paar Beine in farbigen Seidenstrümpfen standen adrett<br/>geschlossen, iKadettenbeine. Die duftigen Hänger in<br/>süssen Farben stützten kokett die baumelnden Locken-<br/>köpfe.<br/><br/>Mehr oder weniger Busen sog sich voll Luft. Herr<br/>Meyer Schlug den Akkord an. Die ziegelrot über-<br/>malten Münder öffneten sich, und ein Frühlings-Be-<br/>
115<br/><br/>grüssungsmarsch erfüllte die Bühne, das Publikum und<br/>die Rosenlauben mit unternehmendem Marschrythmus:<br/>,Freunde, rasch voran, lasst die Becher kreisen!<br/>Heiter immerdar Lieb’ und Jugend preisen.<br/>Freude nur allein kann das Leben schönen.<br/>Schenket Kraft, spendet Mut, macht die Alten jung/<br/>Der Beifall wurde lebhaft. Das Orchester richtete<br/>seine Instrumente und die Notenblätter her für die<br/>zweite Unternehmung. Das Publikum kam in Stim-<br/>mung. '<br/><br/>Gläser klapperten. Stimmen schwirrten. Satzfrag-<br/>mente zerknäulten sich im Zigarettenhimmel. Die Kell-<br/>nerinnen riefen einander zu und Herr Schnabel legte<br/>die Hand an die zurückfliehende Stirn wie ein kleines<br/>Dach und übersah das Gewühl. „Mehr Stühle!“ Man<br/>schleppte noch Stühle herbei.<br/><br/>Die Kassierungen kamen herein: Glänzend! Ex-<br/>zentrik-, Zauber-, Gesangs- und Ensemblenummern lös-<br/>ten einander ab in wohlarrangierter Steigerung. Zwi-<br/>schenmusik: die Kapelle des Herrn Fournier.<br/><br/>An der Kasse aber sass einheimsend Jennymama,<br/>Silber und Kleingeld ordnend, Fünffrankenscheine<br/>wechselnd, die ankommenden Muschelschalen ihrer kas-<br/>sierenden Damen so distinguiert in die Kasse kippend,<br/>als fürchte sie, sich die Finger zu netzen.<br/><br/>Und als Fräulein Amalie mit dem Pintsch so neben-<br/>hin fragte: „Gutes Geschäft?“ erhielt sie die sehr<br/>reservierte Antwort: „O ja!“<br/><br/>Frau Schnepfe, obgleich es ihrem Geschäftsinteresse<br/>zuwiderlief, konnte sich nicht versagen, anzuerkennen,<br/>wie hübsch der Saal arrangiert, wie interessant das<br/>Programm und wie tüchtig Herr Fournier sei.<br/>
116<br/><br/>Und Traute, nahm die Gelegenheit wahr, sich ein<br/>wenig zu beschäftigen, indem sie Frau Schnepfes Hals-<br/>bördchen schloss, dessen mittlerer Druckknopf ent-<br/>gegenkommender Weise verbogen war und allen Ver-<br/>suchen, ihn mit der Nabe zu einem Ganzen zu verei-<br/>nigen, beharrlichst widerstand.<br/><br/>Was für einen langen Hals die Frau Schnepfe hatte!<br/>Und wie sie’nach ,Wurmsamen* roch!<br/><br/>Mittlerweile hatte nun Jennymama ein Portemonnaie<br/>da, nahm eine Handvoll Silber, tat es hinein, stand<br/>auf, ging zu Herrn Meyer ans Klavier und sagte:<br/><br/>„Lieber Herr Meyer,“ flüsternd, „ach, nehmen Sie<br/>doch mein Portemonnaie zu sich bis nachher! Es stört<br/>mich beim Umziehn. Ich habe keine Tasche im Kleid.<br/>Gell ja?“ Und legte Herrn Meyer vertraulich die<br/>Hand auf die Schulter.<br/><br/>Und Herr Meyer steckte das Portemonnaie zu sich,<br/>ohne viel Worte zu machen und wischte die schweis-<br/>senden Tasten ab.<br/><br/>„Dank’ Ihnen!“ sagte Jennymama, „puh, welche<br/>Hitze!“ und streckte sich im Korsett, dass das Fisch-<br/>bein knackte und setzte sich wieder zur Kasse.<br/><br/>Und Traute stand auf, unauffällig, duckte sich,<br/>schlich zu Flametti, und raunte hastig mit fliegenden<br/>Augen an ihm empor:<br/><br/>„Man himmt Geld aus der Kasse!“<br/><br/>„Wer?“<br/><br/>„Jenny!“<br/><br/>„Dann gib acht, wieviel sie nimmt!“<br/><br/>Und Traute fühlte: Triumph!, setzte sich harmlos<br/>wieder Zur Kasse und begann ein Verlegenheitsspiel<br/>mit Amaliens Seidenpintsch.<br/><br/>/<br/>
117<br/><br/>Jenny fiel auf, dass die nicht von der Stelle wich.<br/><br/>„Zieh’ dich um!“ rief sie, „die ,Nixen* kommen!**<br/><br/>„Ist noch Zeit!** flegelte Traute sich hin, „erst<br/>kommt ja noch Engel!**<br/><br/>Kam auch. Mit seiner Ausbrechernummer.<br/><br/>„Sie isehen hier eine Kiste_______,** rief Flametti<br/><br/>auf der Bühne und klopfte mit einem Hammer eine<br/>grosse quadratische Holzkiste ab. „Aus solidem Holz,**<br/>und drehte die Kiste nach allen Seiten. „Stand auf<br/>dem Hofe der Firma Maulig & Kopp bis gestern. Kein<br/>Schwindel! Innen fest, aussen fest. Keine Einlage-<br/>bretter! Keine Vexierwand. — Ich werde Monsieur<br/>Henry (das War Engels Bühnenname) in diese Kiste<br/><br/>legen____** Engel war bereits gefesselt und in einen<br/><br/>Sack eingenäht... „Ich werde die Kiste verschlies-<br/>sen!** ... er legte den Deckel drauf ... „Sie selbst,<br/>meine Herren,** zum Publikum gewandt, „werden die<br/>Kiste vernageln.**<br/><br/>Eine Bewegung ging vor sich im Publikum. Mutter<br/>Dudlinger kam; spät, doch sie kam; in Begleitung des<br/>ihr ergebenen Herrn Pips, der von Beruf ein Student<br/>war.<br/><br/>Man musste aufstehen, damit Mutter Dudlinger<br/>durchkonnte. Man wurde gestört, weil droben gerade<br/>der interessanteste Teil der Nummer verhandelt wurde.<br/>Man nahm Aergernis, machte Bemerkungen, ward un-<br/>wirsch.<br/><br/>'• j,Setzen !** rief man von hinten.<br/><br/>„Ruhe!** rief man von vorne.<br/><br/>Mutter Dudlinger stand eingepfercht in der Mitte,<br/>gutmütig lächelnd, Popoansätze am ganzen Körper,<br/>gestützt auf den Regenschirm. Vom Velvethut nickte<br/><br/><br/><br/><br/><br/>
die goldene Troddel. Vom Antlitz tropfte die An-<br/>strengung. Am Korsett stieg ihr der Rock hoch, weil<br/>sich der Leib darunter, von rechts und links einge-<br/>zwängt, nicht anders zu helfen wusste.<br/><br/>Warum kam sie auch so spät?<br/><br/>Weil sie zu den Eingeweihten zählte. Weil sie<br/>wusste, dass vor halb zehn Uhr nichts von Belang<br/>gegeben wurde, was sie nicht kannte.<br/><br/>„Sie selbst, meine Herren," betonte Flametti mit<br/>ingrimmig rollenden Augen und einem vielsägenden<br/>Blick (amf den ,Frauenverein', von dem einmal wieder<br/>die Störung kam, „Sie selbst, meine Herren, haben<br/>Gelegenheit, die Kiste zu prüfen, den Deckel daraufzu-<br/>nageln."<br/><br/>Jenny winkte Mutter Dudlinger zu, unterdrückt,<br/>aber deutlich:<br/><br/>„Hierher, Mutter Dudlinger, hier gibt es noch<br/>Platz!" und deutete dabei auf einen freigewordenen<br/>Stuhl in der ersten Laube, die an den Künstlertisdh<br/>grenzte.<br/><br/>Aber Mutter Dudlinger blieb stehen, lächelnd ob<br/>soviel Güte. Mit dem schwitzenden Zeigefinger lüpfte<br/>sie eingegergelt das samtene Kropfband. Mit dem<br/>Regenschirm gab sie Erklärung, sie wolle lieber an<br/>Ort und Stelle warten, bis diese Nummer vorüber sei.<br/><br/>Herr Pips seinerseits versuchte mit plötzlichen, wohl-<br/>orientierten und freudige Ueberraschung bekunden-<br/>den Gesten Jennymama zu bedeuten, der Herr Krema-<br/>toriumfritze Sässe ja ganz in der Nähe, und ihm, dem<br/>Herrn Pips; sei es unverständlich, wie Jennymama<br/>bei der langweiligen KaSse sitzen könne, statt hier,<br/>hier, hier bei dem Krematoriumfritze.<br/>
119<br/><br/>Der Herr Krematoriumfritze aber verleugnete völlig<br/>jedes Interesse. Breitknochigen Angesichts sass er fin-<br/>ster vor seinem Veltliner, Zigarre rauchend, und tat,<br/>als1 ob er die Jenny nicht sähe noch sehen wolle,<br/>heimlich doch gar voll schnackelnder Gedanken.<br/><br/>Es ist so schwer, Gefühle bemerkbar zu machen.<br/>Am besten, man tut, als habe man keine, hoch irgend-<br/>welche Absichten. -Möglich auch, dass sein ingrimmiger<br/>Ernst Von seinem Beruf herrührte. Wenn man jahraus,<br/>jahrein Leichen verbrennt, kann man nicht ohne wei-<br/>teres und im Handumdreh’n das Gehaben finden, das<br/>eine Primadonna bestrickt. Deren in Fleischeslust be-<br/>bende Schwanenbrust hätte er längst bemerkt — so<br/>mal Seitwärts —, und wieviele Fünfliver er in der<br/>Tasche hatte, wusste er auch.<br/><br/>Und Herr Pips wieder seinerseits, der dies missver-<br/>stand, suchte Herrn Naumann — Friedrich Naumann<br/>hiess der Herr Krematoriumfritze, genau wie der deut-<br/>sche Nationalökonom — diskret auf Jennymama hin-<br/>zulenken, ebenfalls mit Gesten. Doch gelang es ihm<br/>nicht, ein gegenseitiges Verständnis zu erzielen.<br/><br/>„Sie sehen,“ sagte Flametti und stürzte die Kiste,<br/>„die Kiste ist völlig geschlossen.“<br/><br/>„Wissen Wir schon!“ sagte Herr Pips halblaut und<br/>winkte ab mit der flachen Hand.<br/><br/>Die Gäste seiner Umgebung wussten sofort: der<br/>gehört zur Familie. Und dem war auch so. Herr<br/>Pips war der erklärte Freund der Artisten, häufig-<br/>ster Gast Mutter Dudlingers und der Flamettis. Er<br/>bezog einen Monatswechsel von dreihundert Franken.<br/><br/>Es kam wie es kommen musste: auch diese Piece<br/>war schliesslich zu Ende. Man machte Platz und Mutter<br/><br/>------------------------------------------------------------ : ' -<br/><br/> <br/><br/> <br/>
120<br/><br/>Dudlinger und Herr Pips fanden Unterkunft in der<br/>Rosenlaube, wo sich Herr Pips sofort unbehaglich<br/>fühlte, weil er nicht nach Wunsch Fühlung nehmen<br/>konnte.<br/><br/>Das Orchester spielte den Hindenburgmarsch, breit,<br/>wuchtig und forsch, wie es der Denkungsart dieses<br/>obersten Heerführers entspricht, als eben mit ihrem<br/>Impressario Miss Ranovalla de Singapore eintrat, ein<br/>siamesisches Gegenstück zu Mutter Dudlinger, schwarz<br/>von Gesicht, ein zinnoberrotes Mäntelchen um die<br/>Schultern gehängt, aufgeputzt wie ein Affe.<br/><br/>Und das Häsliterzett sang soeben das ,Schackerl‘,<br/>als wie auf Verabredung auch Herr Direktor Ferrero<br/>erschien, der heute abend nicht spielte.<br/><br/>Einige Gäste, die zur Bahn mussten, standen auf.<br/>So bekam er rasdh Platz, abseits vom Künstlertisch.<br/><br/>. „Schackerl, Schackerl trau di net!“ gingen Mutter<br/>und Tochter singend mit neckischem Mienenspiel und<br/>erhobenem Zeigefinger auf den unglücklich die Mitte<br/>behauptenden Häsli los.<br/><br/>„Trau mi net,“ erwiderte Herr Häsli ängstlich und<br/>sehr verschüchtert, aber mit einem plötzlichen Auf-<br/>schauen und Horchen, das unsagbar drollig wirkte.<br/><br/>„Hoam zu deiner Alten,“ sangen Mutter und Toch^<br/>ter, indem sie ihn ausspotteten.<br/><br/>„Dreahn ma lieber weiter no,“ sängen alle drei<br/>und fassten sich bei den Händen. Die Musik hielt dro-<br/>hend das ,no‘ aus.<br/><br/>„Trink ma no an Kalten!“ sank die Musik.<br/><br/>„an Kalten,“ wiederholte Herr Häsli mit aufleuch-<br/>tendem Grinsen, und persiflierte Bauerneleganz.<br/><br/>Die Liebenswürdigkeit seiner Damen war bezau-<br/>
121<br/><br/>bernd. Sie waren so recht in ihrem Element. Und<br/>Herr Häsli machte also doch ,das Kalb‘.<br/><br/>Die Musik aber — hier begleitete nicht Herr Meyer,<br/>sondern das Orchester — feierte eine Orgie.<br/><br/>Hörner, Piston, Bassklarinett; Tuba, Trommel und<br/>Fagott schrieen, zeterten, kreischten, gröhlten. Die<br/>Schallöcher der Trompeten stachen wie Sternwarten-<br/>rohre nach allen Seiten gelb in die Luft; sie spieen<br/>Musik. Die Augen der Bläser verdrehten sich und<br/>drohten als blanke Kugeln aus ihren Höhlen zu fallen.<br/>Die Disharmonieen zerfetzten einander. Und Herr<br/>Fournier, der für das Ganze verantwortlich war, ge-<br/>bärdete sich wie ein Wilder.<br/><br/>„Kriagst dei Murrer sowieso_______“<br/><br/>„sowieso,“ nickte Herr Häsli vergelstert. Das<br/>ganze Lokal brüllte mit: „sowieso“. Die Damen<br/><br/>kreischten auf, weil sie sich in einer Eigentümlichkeit-’<br/>ihres Idioms erkannt sahen.<br/><br/>„Tu’ jetzt drauf vergessen,“ lenkten Frau Häsli<br/>und ihre Tochter ein; mit ihnen die Musik, die plötz-<br/>lich zartest und pianissimo wurde.<br/><br/>„Lass dei Alte Alte sei!“ johlte die Musik — Harr<br/>Häsli improvisierte ein „Juhu!“, das er mit einem<br/>Freudensprung begleitete und schlug sich auf sein<br/>nacktes Tirolerknie —<br/><br/>„Die wird di net fresSen.“<br/><br/>„net fressen,“ wiederholte Herr Häsli mit täppi-<br/>scher Sorglosigkeit, begleitet von der magenerschüt-<br/>ternd drohenden Basstrompete, die wie der ,Murrer*<br/>der Alten klang, Sö dass Herr Häsli entsetzt und mit<br/>offenem Mund nach Herrn Fournier stierte.<br/><br/>Der lächelte. Das Publikum raste. Die Rosenhecken<br/>
wackelten. Einem Herrn fiel der Kneifer herunter.<br/>Der ,Totenkopf' streckte die Beine weit von sich und<br/>hielt sich den Leib vor Lachen. Annie bog sich vor<br/>Lachen wiehernd auf die Seite zu ihrem Kavalier, dass<br/>sich die Köpfe berührten.<br/><br/>„Hoh, hoh!" brüllte die ,Galerie'.<br/><br/>Flametti allein schmunzelte nur.<br/><br/>Und jetzt begann der Jodler:<br/><br/>„Hollo dero hi, hollo dero..schnackelten,<br/>klatschten und plattelten die drei auf der Bühne.<br/>Es war überwältigend. So ein Erfolg war noch nicht.<br/>Unerhört! Festrausch verbreitete sich. Das war Stim-<br/>mung !<br/><br/>„Jesses, Jenny!" rief Fräulein Amalie voller Ent-<br/>zücken und doch kopfschüttelnd, ,Trau mi net': wie<br/>er das singt! Wie er das singt!"<br/><br/>„Kassieren!" rief Jenny.<br/><br/>Rosa, Güssy und die Soubrette rannten mit den<br/>Muscheln.<br/><br/>„Los, kassieren!" schrie Jenny auch Fräulein Traute<br/>zu, die noch immer am Tische sass und nicht von der<br/>Kasse wich.<br/><br/>Fräulein Amalie nahm die Gelegenheit der Pause<br/>wahr, einmal hinauszugehen. Frau Schnepfe stand auf,<br/>um die Häslis und Flametti zu beglückwünschen.<br/><br/>„Gehen Sie doch selbst kassieren!" antwortete<br/>Traute gereizt, aber schlicht.<br/><br/>„Gehst du kassieren oder nicht?" drohte Jenny<br/>unterdrückt, um keinen Skandal zu machen.<br/><br/>„Ich habe hier aufzupassen!" antwortete Traute.<br/><br/>„Was hast du hier?"<br/><br/>
123<br/><br/>„Aufzupassen,“ sagte Traute. „Sie nehmen Geld<br/>aus der Kasse.“<br/><br/>„Was tu’ ich, Lumpenmensch?“ knirschte Jenny<br/>und packte Traute trotz Publikum und Konzert über den<br/>Tisch beim Kragen. 1<br/><br/>„Lassen Sie mich los!“ rief Traute. „Ich habe<br/>den Auftrag, aufzupassen. Ich habe gesehen, wie Sie<br/>dem Pianisten Geld zusteckten. Ich kann aber jetzt<br/>auch gehen, wenn Sie wollen. Ich habe keine Lust,<br/>mich von Ihnen misshandeln zu lassen. Sie werden<br/>das weitere sehen. Sie sind abgesetzt. Sie machen<br/>für uns die Kassiererin solange, bis wir uns eine an-<br/>dere nehmen.“<br/><br/>„Max!“ rief Jenny und fegte hinter die Bühne,<br/>„Max!“ ganz hysterisch. Das war ihr zuviel!<br/><br/>Man wurde aufmerksam, reckte die Hälse. Traute<br/>zuckte die Achseln, mitleidig, und schnickte mit dem<br/>Kopfe.<br/><br/>Da spürte Jenny eine Hand auf ihrer Schulter und<br/>drehte sich um. Der Freund aus Baden stand hinter<br/>ihr.<br/><br/>Auch er war gekommen, soeben, hatte den Steifen<br/>noch auf dem Kopf, den Regenschirm hängend am Arm.<br/>Schnurrbart kurz aufgekräuselt, Paletot zugeknöpft,<br/>Teilhaber der Firma Seidel & Sohn, Wäsche engros.<br/><br/>„Na, was gibt es denn, Jenny?“ fragte er ruhig,<br/>begütigend.<br/><br/>„Ah, guten Abend!“ fasste sie sich, „nichts weiter.“<br/><br/>„Setz’ dich doch her!“ sprach er ihr zu, hing<br/>Paletot, Hut und Schirm an den Haken, und setzte<br/>sich, seinen Smoking glättend, zum Künstlertisch.<br/><br/>„Nichts, nichts!“ versicherte Jenny.<br/>
—<br/><br/>—<br/><br/><br/><br/>124<br/><br/>„Na, siehst du!“ meinte Herr Seidel, stolz auf<br/>die Suggestion, die auszuüben er sich befähigt fühlte.<br/><br/>Traute ging selbstgefällig in die Garderobe. Sie<br/>hatte es ihr gegeben, dieser Bordelldame.<br/><br/>Flametti kam und fragte ein wenig unsicher:<br/><br/>„Was gibt’s?“ und begrüsste Herrn Seidel. Frau<br/>Häsli sass bei Direktor Ferrero.<br/><br/>„Siehst du dort?“ zeigte Jenny auf das verhandelnde<br/>Paar.<br/><br/>„Meinetwegen!“ zuckte Flametti die Achseln. „Wer<br/>kassiert?“<br/><br/>„Rosa, Güssy und die Soubrette.“<br/><br/>„Wo ist die Traute?“ *<br/><br/>„In der Garderobe.“<br/><br/>„Gut!“ sägte Flametti, sehr in Gedanken, und setzte<br/>sich, aufgedunsen und abgehetzt, an Donna Maria Jo-<br/>sefas Tisch.<br/><br/>„Das ist ja fabelhaft!“ glückwünschte Herr Farolyi,<br/>der 'Kunstreiter, und schob Flametti einen Kognak hin.<br/>„Na, ihr habt euch ordentlich rausgemacht!“<br/><br/>„Jo!“ meinte Flametti wegwerfend, stürzte den<br/>Kognak, stand auf und begrüsste Miss Ranovalla.<br/><br/>Das Lokal war jetzt überfüllt. Wenn das Orchester<br/>spielte, verstand man sein eigenes Wort nicht mehr.<br/><br/>Herr Arista war ganz vergebens bemüht, sich Gel-<br/>tung zu verschaffen.<br/><br/>„Nur immer raus damit, nur immer raus damit!“<br/>sang er in hohem Diskant. Ein Schleppkleid trug er,<br/>reichlich mit Spitzen besetzt. Seine Allüren waren von<br/>jener holzigen Grazie alttoskanischer Edelfrauen.<br/><br/>Aber man hörte ihn nicht. Vergebens kämpfte er<br/>gegen das laute Interesse der animierten Habitues.<br/>
125<br/><br/>Man sah nur die Gesten, die zu besagen schienen,<br/>dass er sich übergeben wolle. Man fand es degoutant.<br/>So sehr Dandy war man schon, dass man die Aristo-<br/>kratie im grossen und ganzen gelten Hess. Es be-<br/>durfte so peinlicher Hinweise auf deren Materialismus<br/>nicht, um ihn abzulehnen.<br/><br/>Es war indessen ein Missverständnis. Die Gesten<br/>des Herrn Arista bezogen sich auf seinen Busen, ganz<br/>und Jgar Hur auf seinen Busen, von dem das Couplet von<br/>A bis Z handelte. Damen, Damen, Damen stellte er<br/>dar. Aber eben: man verstand ihn nicht.<br/><br/>Herr Pips gab die Anschauung von sich, ein Da-<br/>menimitator überhaupt sei ihm widerlich. „Nicht Fisch,<br/>nicht Fleisch.“<br/><br/>„Komm doch mit mir, mein Auto steht draussen!“<br/>arbeitete Herr Seidel von der Firma Seidel & Sohn<br/>an Jenny, „mein Auto steht draussen. Du brauchst nur<br/>einzusteigen.“<br/><br/>„Umziehen! Indianer!“ drängte Flametti vorn bei<br/>der Rampe.<br/><br/>„Jetzt kommfs!“ sagte Engel zu Annie, einen Mo-<br/>ment über ihren Tisch gebeugt mit aufgestützten Hän-<br/>den und ohne Rücksicht auf den zigarettenrauchenden<br/>Kavalier. „Na, es ist ein Erfolg!“<br/><br/>„Sehen Sie die kleine Soubrette!“ sagte Frau<br/>Schnepfe zu Mutter Dudlinger, „wie die kassiert! Die<br/>versteht’s! Das ist ein Geschäft!“<br/><br/>„Geschäft glänzend!“ erwiderte Mutter Dudlinger,<br/>ganz verfettet, doch freundlich sympathisierend. Fla-<br/>metti war ja ihr vorzugsweise begünstigter Protege.<br/><br/>Der ,Totenkopf* und seine Schwester aber standen<br/>auf mit zwei Kavalieren, die etwas wüst aussahen, und<br/>
126<br/><br/>verliesfeen ostentativ das Lokal. Ostentativ bezüglich<br/>einiger ihrer Kolleginnen, die denn auch nicht erman-<br/>gelten, den Abgang spitz zu glossieren.<br/><br/>„Mba, mba, mba!** dröhnte die Musik.<br/><br/>Und Herr Direktor Farolyi vom Zirkus Donna<br/>Maria Josefa, ein Pferdekenner wie kein zweiter, Fla-<br/>mettis erklärter Freund, kam aus der Garderobe, steifte<br/>sich auf vor der Rampe, klopfte ans Glas und sprach:<br/><br/>„Meine verehrten Herrschaften! Sie erleben jetzt<br/>die Sensation dieses Abends. Unser Freund Flametti<br/>wird Ihnen jetzt seine von St. Rotter bearbeiteten ,In-<br/>dianer* vorführen. Gestatten Sie mir, mit kurzen Wor-<br/>ten meiner Freude über den wohlgelungenen Abend<br/>und meiner Bewunderung für unsren verehrten Fla-<br/>metti Ausdruck zu verleihen. ,Die Indianer*: welche<br/>Gefühle durchwandern unsere Brust beim Klang die-<br/>ses Wortes! Welche Ahnungen entzücken das Herz!<br/>Welche Hoffnungen und Erinnerungen liegen darin be-<br/>graben ! Der Rausch unserer Kindheit, die Freude<br/>unserer Mannbarkeit! Wer hoffte nicht selbst, als In-<br/>dianer die Gefilde unserer Heimat zu durchschweifen.<br/>Wem zuckt die Hand nicht nach Feuerwasser, dem<br/><br/>Bowiemesser, nach dem Skalp unserer Feinde!________**<br/><br/>Die Damen lächelten hold. Die Augen ihrer Freunde<br/>blitzten verständnisinnig, verlegen.<br/><br/>„Wir alle kennen die Namen unserer Unterdrücker.<br/><br/>Ich brauche feie nicht zu nennen___**<br/><br/>Herr Detektiv Steix, der auch von der Partie war,<br/>zog sein Notizbuch heraus und notierte sich etwas.<br/><br/>„Wir alle lieben die Freiheit, die Pferde, den Wig-<br/>wam, den Kriegspfäd.<br/>
127<br/><br/>„Das alles sehen Sie in den Indianern*, die unser<br/>verehrter Freund Ihnen jetzt vorführen wird. Sie sehen<br/>sogar noch mehr. Rache und Vergeltung im Jenseits.<br/><br/>„Unterdrückt von der brutalen Gewalt der Eindring-<br/>linge müssen sich die Indianer verstecken in Urwald<br/>und Sumpf, zwischen Nattern und Schlangen. Das sind<br/>wir, lieber Leser, das sind wir, teure Freundin. Die<br/>Luft unseres stillen Quartiers wird mehr und mehr<br/>erfüllt Von den Klagen der Opfer, die sich die Polizei<br/>herausgreift. Das Volk der Indianer geht dem Verfall<br/>entgegen. j<br/><br/>,Doch dort oben in dem ew’gen Jagdgebiet<br/>Singt der Indianer Volk sein Siegeslied*,<br/>und so schliesse auch ich mit dem Ausruf:<br/><br/>,Doch dort oben in dem ew’gen Jagdgebiet<br/>Singt der Indianer Volk sein Siegeslied.*<br/><br/>4»<br/><br/>„In diesem Sinne erhebe ich mein Glas und stosse<br/>an auf das Wohl und Gedeihen, das Glück und Genie<br/>unseres einzigartigen Flametti. Er lebe hoch!**<br/><br/>Herr Farolyi, der Ungar, hatte sein Glas erhoben<br/>und leerte es in einem Zug. i<br/><br/>„Flametti, der Häuptling, hoch! Flametti, Flametti!**<br/><br/>tobte das Publikum. Man stampfte und johlte___________<br/><br/>Der Vorhang hob sich. Leer war die Bühne und die<br/>»Indianer* fanden statt.<br/><br/>Erst die Ouvertüre mit den worgelnden Donner-<br/>und Blitz-Akkorden.<br/><br/>Dann der Kriegspfad:<br/><br/>,Die Letzten von dem Stamm der Delawaren,<br/>Die Kriegerscharen<br/>Der Delawaren-------------*<br/>
128<br/><br/>Dann der zweite Vers :<br/><br/>,Wenn man das Letzte uns genommen,<br/><br/>Wenn unsre Besten umgekommen,<br/><br/>Ziehn Falkenaug’ und Feuerschein<br/>Zum grossen Geist dort oben ein.<br/><br/>Dann heben sich die Roten Brüder<br/>Zu neuem Reich und Glanze wieder,<br/><br/>Und es erreicht das Blassgesicht<br/>Für seinen Raub ein Strafgericht/<br/><br/>Dann der dritte Vers, den Herr Farolyi als Aus-<br/>klang zitiert hatte:<br/><br/>,Und dort oben in dem ewigen Jagdgebiet<br/>Singt der Indianer Volk sein Siegeslied.<br/>Einmal wieder ziehn wir noch auf Kriegespfad,<br/>Einmal hoch, wenn der Tag der Rache naht/<br/>Und die Lichter im Saal waren verdunkelt. Und<br/>die Indianer, Flametti, Jenny, die Soubrette, Fräulein<br/>Rosa, Fräulein Güssy und Fräulein Traute schwenkten<br/>die roten Latemchen, in hohem Federschmuck, und<br/>sangen so monoton-klagend, so herzergreifend-ver-<br/>schollen, dass Fräulein Amalien und Mutter Dudlinger<br/>die Tränen in die Augen traten; dass Herr Meyer<br/>plötzlich glaubte, er habe falsch gespielt, und infolge-<br/>dessen für einen Moment wirklich daneben griff; dass<br/>Engel beim Vorhang seine Erregung nicht anders mehr<br/>bemeistern konnte, als indem er zitternd eine Zigarette<br/>anzündete; und Herr Farolyi, der wieder bei Donna<br/>Maria Josefa sass, ein über das andere Mal ausrief:<br/>„Macht er wirklich hübsch, der Flametti!“<br/><br/>Gewiss hätte jetzt auch Herr Rotter seine Freude<br/>gehabt; denn die Nasen, besonders die Flamettis, wa-<br/>ren überraschend gut geklebt. Und für den drittelt<br/>
120<br/><br/>Vers hatte sich Max eine so prachtvolle Apotheose<br/>ausgedacht, — er allein stand aufrecht. Die Weiber<br/>knieten mit gesenkten Köpfen und Lanzen um ihn<br/>herum. Dann sprangen alle auf, ganz vor an die<br/>Rampe in eine Reihe, und drohten mit geschwunge-<br/>nem Tomahawk —, dass auch der stumpfeste Batzen-<br/>bengel solcfier Auffassung Unübertrefflichkeit hätte zu-<br/>sprechen müssen. Besonders die Damen hielten sich<br/>über Erwarten gut.<br/><br/>Es war ein runder, glatter Erfolg.<br/><br/>„Flametti! Flametti! Feuerschein!“ schrieen die<br/>,Roten Brüder*, als der Vorhang fiel und sich noch<br/>einmal hob.<br/><br/>Herr Farolyi in vehementem Enthusiasmus, ging<br/>klatschend bis vor die Rampe. Donna Maria Josefa<br/>winkte mit Flatterhand. Mutter Dudlinger, die so<br/>selbstlos den Fünfzigfrankenschein vorgestreckt hatte,<br/>strahlte ein Strahlen, das über das ganze Lokal hin-<br/>strahlte. Miss Ranovalla de Singapore, speckiges Wun-<br/>der, stand auf und liess ihre beschatteten Augen<br/>schweifen. Sie empfand die Exotik dieser ,Indianer*<br/>als eine ihr ganz persönlich gewidmete Ovation.<br/>Und Flametti verbeugte sich bärig, lächelnd, mit leuch-<br/>tenden Jungensaugen, ob all dem Glück und Erfolg.<br/><br/>Die Musik intonierte, wie auf Verabredung, den<br/>Missouristep, von Engel mit selbstgefertigtem Plakat<br/>zu Bewusstsein gebracht. Bobby zog seinen Sommer-<br/>paletot aus und paradierte in glitzernd zur Schau ge-<br/>stelltem Eidechsenkostüm.<br/><br/>„Flametti! Flametti! Feuerschein raus!** tobte das<br/>Publikum immer noch, und Flametti musste allein er-<br/>scheinen. Kühn, leuchtend und gross stand er inmitten<br/><br/>Flametti. 9<br/>
130<br/><br/>der Bühne, Delaware von Kopf bis zu Fuss, Held<br/>dieses Abejids, Würdenträger und Häuptling seipes<br/>Reviers.<br/><br/>Nach der Kassierung aber kamen die dienstbaren<br/>Geister vom ,Krokodil* und Umgebung und räumten mit<br/>Hilfe des Publikums die Rosenhecken weg, soweit sie<br/>im Wege waren. Ein anstossender zweiter Saal wurde<br/>geöffnet. Eine Vermischung des Variete-Ensembles<br/>mit dem Publikum fand statt: es wurde getanzt.<br/><br/>„Nein, Jenny, was ihr für ein Glück habt!“ rief<br/>Raffaela, „ich muss mich ein bisschen zu euch setzen!“<br/>und sah Jenny träumerisch in die Augen.<br/><br/>„Fräulein Raffaela,“ stellte Jenny vor, „Herr Seidel,<br/>mein Freund aus Baden; Fräulein Amalie, Frau<br/>Schnepfe.“<br/><br/>Und Raffaela, da Jenny gerade damit beschäftigt<br/>war, die Kassierung nachzuzählen: „Was für ein<br/><br/>Glück!**<br/><br/>„Ach, Raffaela,** seufzte Jenny, „wenn du wüss-<br/>test!** ;<br/><br/>„Was macht er denn?** flüsterte Raffaela.<br/><br/>Und Jenny, unendlich traurig, die Hand am Munde,<br/>dann abwinkend: !<br/><br/>„Ach, ich will lieber schweigen!**<br/><br/>Herr Seidel aus Baden zwirbelte unternehmend,<br/>mit disziplinierter Eleganz, seinen Schnurrbart. Er<br/>stützte \die Hand auf den Schenkel. Der Ellbogen stand<br/>weit ab.<br/><br/>„Boston!** rief der Tanzordner und rutschte mit<br/>schleifenden Füssen durch den gebohnerten Saal.<br/><br/>Frau Schnepfe Schüttelte den Kopf ob solchen<br/>Tumults.<br/>
131<br/><br/>Fräulein Amalie, den Rücken an die Wand gelehnt,<br/>streichelte ihren Zwergpintsch mit der gepflegten Hal-<br/>tung einer Dame, die in der Hofloge sitzt.<br/><br/>Flametti, noch im Indianerkostüm, ging durch den<br/>Saal und quittierte, mit seiner Stattlichkeit renom-<br/>mierend, die flüssig ihm dargebotenen Glückwunsch-<br/>beweise. Man befühlte die Lanze, die Lederhosen, den<br/>Halsschmuck. Auch Herr C. Tipfel von den Sunda-<br/>Inseln war da.<br/><br/>„Du poussierst mit Flametti!“ warf Bobby der<br/>treulosen Traute vor, mit der er seit Wochen in zünf-<br/>tigem Briefwechsel stand. Sie standen beim Vorhang.<br/>„Ich hab’ es gesehen. Er hat dich ans Bein gefasst,<br/>als du die Treppe hinaufgingst. Ich hab’ auch gesehen,<br/>wie ihr getuschelt habt miteinander.“<br/><br/>„Dummer Fatzke!“ gab Traute zurück, „was bildest<br/>du dir eigentlich ein;? Bist ja zwei Köpfe kleiner als<br/>ich! Wie willst du eine Frau ernähren!“<br/><br/>„Na, schön!“ sagte Bobby und musterte sie von<br/>oben bis unten. „Pfui Teufel!“ Er nahm seinen Regen-<br/>schirm, zog den Paletot an, sagte „Grüatzi!“ und<br/>ging in den ,Hopfenzwilling*.<br/><br/>„Ach, Raffaela!“ sagte Jenny, „du glaubst es ja<br/>nicht! Aber warf nur ab! Ich werde mich revanchie-<br/>ren!** i<br/><br/>Die Soubrette kam an den Tisch.<br/><br/>„Na, Fräulein,“ sagte Herr Seidel freundlich, „was<br/>trinken Sie?**<br/><br/>Die Soubrette zierte sich.<br/><br/>„Einen Eierkognak?**<br/><br/>„He, Fräulein!** hielt er die Kellnerin fest, „einen<br/>Eierkognak!**<br/>
132<br/><br/>Die Soubrette nahm Platz. „Laura heisse ich.“<br/><br/>„Fräulein Laura — hübscher Name!“ sagte Herr<br/>Seidel und legte den Arm um ihre Stuhllehne.<br/><br/>Jenny entging es nicht. Sie hatte die Kasse gezählt<br/>und winkte Flametti. „Da nimm: Hundertneunzig<br/>Franken.“<br/><br/>Flametti schob das Geld mit gekrampfter Hand in<br/>die Hosentasche und fühlte sich verpflichtet, eine Weile<br/>stehen zu bleiben.<br/><br/>„Wo ist die Traute?“ fragte Jenny.<br/><br/>„Was weiss ich, wo die Traute ist!“ fuhr er auf,<br/>„sie wird tanzen.“<br/><br/>Jawohl, Fräulein Traute tanzte. In ausgelassenem<br/>Vorüberschieben warf sie Flametti einen kokett-auf-<br/>fordemden Blick zu. Hei, flog ihr Kopf in den Nacken!<br/><br/>„Ja ja, die Jugend!“ träumte Frau Schnepfe resig-<br/>niert.<br/><br/>„Uff!“ schnaubte Flametti, „das war eine Hetze!“<br/>Jetzt lief es von selbst.<br/><br/>Vorbei schob: Herr'Scherrer, Handlungskommis aus<br/>Wien, mit Fräulein Rosa. Vorbei schob: Herr Glatt,<br/>turmhoher Stehkragen, Handlungskommis aus der Mark<br/>Brandenburg, mit Fräulein Güssy. Vorbei schob: Herr<br/>Pips mit der hüftengewaltigen Lydia. Vorbei schob:<br/>der Herr Krematoriumfritze, mit der in Feldgrau.<br/><br/>„Das ist der andere!“ flüsterte Jenny vertraulich<br/>Raffaela zu. „Schwer reich. Der spendiert nachher Sekt.<br/>Immer französischen Sekt. Er tut jetzt so, als säh’<br/>er mich nicht.“<br/><br/>„Stattlicher Mann!“ gab Raffaela sich Mühe. Es<br/>schien ihr ein wenig drauf anzukommen, Jenny die<br/>Ruhe zu nehmen.<br/>
, 133<br/><br/>Aus der Garderobe kam als der letzte Herr Meyer.<br/>Er hatte die Noten hinaufgetragen. Unschlüssig blieb<br/>er Stehen, Jennys gespicktes Portemonnaie in der<br/>Tasche, das ihm bei jedem Schritt wie ein Klotz an<br/>den Schenkel schlug.<br/><br/>„Ach, Herr Meyer,“ sagte Jenny und streckte sich<br/>über den Stuhl zu ihm hin, „geben Sie her! Es ist<br/>nicht mehr nötig!“ und liess das Monstrum von Porte-<br/>monnaie, das Meyer ihr gleichgiltig gab, in den Busen<br/>rutschen.<br/><br/>Und Herr Meyer trat zu Flametti, sah in das Ge-<br/>wühl und meinte: „Pfui Teufel, ist das eine Hitze!“<br/><br/>Und den Walzer tanzte auch Mutter Dudlinger. Sie<br/>hielt den Herrn Pips fest um die Taille gefasst und<br/>drehte sich auf den Zugstiefeln. Herr Pips aber drehte<br/>sich wie ein Trabant um die Sonne. Meistenteils war<br/>er verfinstert.<br/><br/>Und Engel machte auch Jennymama seine Aufwar-<br/>tung, animiert wie man’s werden kann, erhielt aber<br/>glatt einen Korb. „Ach, der Engel!“ lächelte Jenny-<br/>mama.<br/><br/>Und noch um ein Uhr kam ein Rudel Studenten:<br/>holländische Forsteleven. Die schoben und pfiffen<br/>und klatschten dazu. Und hatten eine eigene Laute<br/>dabei und Stellten das ganze Lokal auf den Kopf.<br/><br/>Wer dem Indianerfeste nicht bis zum Ende bei-<br/>wohnte, und wer Jenny nicht kannte, erlebte am näch-<br/>sten Tag Ueberraschungen.<br/><br/>Flamettis Erfolg war unbestritten. Und galt ihm<br/>allein, nur ihm. Er wurde gefeiert in allen Tönen.<br/><br/>Aber gerade das vertrug Jenny nicht. Gerade das<br/>
134<br/><br/>lehnte sie ab. Sie konnte in ihrer offenbaren Be-<br/>schränktheit nicht einsehen, dass für Flametti dieses<br/>Indianerspielen ein Bild* ein Symbol war, ja eine Le-<br/>bensfrage; begriff nicht, wie ein vernünftiger Mensch,<br/>ein Mann, sich so kindisch benehmen konnte. Sie<br/>hatte, kurzum, keinen Sinn für die Illusion, verstand<br/>auch nicht, was der Farolyi gekauderwelscht hatte.<br/>Spielen, Wetten, Revolverschiessen; Pariser Apachen,<br/>Felsengebirge und Honolulu; ein Ritt durch die Wüste,<br/>Komantschen, Bluthunde und Polizei: das alles waren<br/>ihr spanische Dörfer.<br/><br/>Weltfremd war Jenny und eitel dazu. Sie konnte<br/>für möglich halten, das ganze Fest sei nur für sie<br/>arrangiert gewesen; Flametti nur für sie, für Jenny-<br/>mama, geboren, sei es, indem er den Diener machte,<br/>wenn (sie Karotten einkaufte; sei es, indem er Mannderl<br/>und Weiberl schnitzte fürs Wetterhäuschen.<br/><br/>Und ganz besonders: für ,Wigwams* hatte sie gar<br/>keinen Sinn. Sie hielt das für Humbug. In kleinlicher<br/>Missgunst klammerte sie sich an Aeusserlichkeiten,<br/>warf ihm gewöhnliche Vielweiberei vor. Als ob sich<br/>ein Mann seiner Art von der Fertigkeit eines einzigen<br/>Weibes gefesselt, entzückt und versorgt fühlen konnte.<br/><br/>Flametti versuchte umsonst, es ihr klar zu machen,<br/>morgens um zehn Uhr, im Bett. Sie verstand nicht.<br/><br/>„Also was heisst das?** setzte sie sich verbissen<br/>und leidenschaftlich im Bett auf.<br/><br/>„Dass ich meine Ruhe haben will!** erklärte Fla-<br/>metti abschliessend und drehte sich nach der anderen<br/>Seite.<br/><br/>Aber damit gab Jenny sich nicht zufrieden. So<br/>liess sie sich nicht abspeisen. Klarheit wollte sie haben<br/>
135<br/><br/>von wegen dieser Person, dieser Traute, der Schlam-<br/>pen, die nicht einmal wusste, wozu die Klosettschnur<br/>da war, und die es doch wagte, ihr dreist ins Gesicht<br/>zu sagen, man habe sie ,abgesetzt*.<br/><br/>„Du, Max, ich will Antwort!** drohte sie, „wie ist<br/>das mit der Traute? Mach’ mich nicht wild! Ich hab*<br/>euch wohl tuscheln sehen, gestern im ,Krokodil*!<br/>Gut: es war Publikum da. Aber heut will ich’s wissen.**<br/><br/>„Himmelherrgottsakrament, lass mir jetzt meine<br/>Ruhe!** isetzte Flametti sich ebenfalls auf. „Was soll<br/>ich denn machen mit ihr? Was willst du denn? Soll<br/>ich vielleicht den Heiligen spielen? Darf ich nicht<br/>meine Nachtruhe haben? Plag’ ich mich immer noch<br/>nicht genug?** Eine Prügelszene im Bett stand bevor.<br/><br/>„Gut!** sagte Jenny, „lass nur!** Sie wusste Be-<br/>scheid. Heraus sprang sie aus dem Bett, warf sich<br/>den Schlafrock über und war schon im Lattenverschlag.<br/><br/>„Traute raus !** sdirie sie und packte die schlafende<br/>Traute beim Kragen.<br/><br/>„Pack* deine Sachen zusammen. Vorwärts marsch,<br/>marsch! Und heraus aus der Wohnung!**<br/><br/>Traute fuhr auf. Der Ton, der ihr ans Ohr drang,<br/>war zu energisch, als dass es ein Weigern gab. Schlaf-<br/>trunken, eben noch mit dem Kommis aus Brandenburg<br/>Twostep schiebend, glitt sie über die Bettkante her-<br/>unter. Unterkleider und Schuhzeug griff sie, stürzte<br/>das Tanzkleid über den Kopf und bemerkte erst jetzt,<br/>worum es sich handelte. „Raus, wohin ?** fragte sie er-<br/>staunt.<br/><br/>„Raus aus der Wohnung! Raus auf die Strasse!<br/>Ins Arbeitshaus, wenn du Lust hast! Nur raus, und<br/>zwar sofort, oder ich hole die Polizei!**<br/>
136<br/><br/>Grosse Augen machte Fräulein Traute. Arbeits-<br/>haus? Strasse? Polizei? Was war denn passiert?<br/>Was war denn geschehen? Warum? Wieso? Was<br/>hatte sie denn getan?<br/><br/>Sie bekam’s mit der Angst. Verstört und vertattert<br/>riss sie die Augen auf. Ihr Mund hing schief. Zitternd<br/>und bebend beeilte sie sich, ihr Kleid zu schliessen.<br/><br/>„Was hab’ ich denn getan? Ich habe doch nichts<br/>getan!“ stotterte sie.<br/><br/>„Du wirst schon wissen, was du getan hast!“<br/>schrie Jenny. „Fort! sag’ ich dir! Raus! Nur raus!<br/>Ich werde dir Beine machen!“; riss Trautes Sachen<br/>vom Haken und warf sie ihr zu. „Das andere kannst<br/>du dir holen lassen. Nur raus, auf der Stelle!“<br/><br/>„Sie haben mich hier nicht rauszuwerfen. Flametti<br/>hat mich hier rauszuwerfen!“ versuchte Traute.<br/><br/>„Was hab' ich?“ schrie Jenny, jetzt vollends ra-<br/>biat, und keilte die Künstlerin aus dem Verschlag.<br/><br/>Die hielt sich mit beiden Händen fest an der Tür.<br/>Die Türe schlug zu. Zwei Vasen mit Binsen und<br/>Klatschmohn fielen zerschellend hoch vom Büfett.<br/>Nettchen, der Dackel, schoss, ein fauchendes Kro-<br/>kodil tmt zwei Reihen Sägezähnen, hervor aus den<br/>Sofafransen.<br/><br/>Die M;ädel kreischten. Flametti, im Hemd, mit<br/>haarigen Beinen, drang aus dem Hauptfrauzimmer.<br/><br/>„Was gibt’s denn da?“ riss er die Sklavin der<br/>Hauptfrau weg.<br/><br/>„Hier gibfs eine Kindsleiche, wenn sie nicht raus-<br/>kommt.“<br/><br/>„Hilfe! Hilfe!“ schrie Traute, als sei ihr der Hals<br/>bereits abgeschnitten, und rannte zum Fenster.<br/>
137<br/><br/>„Bist du ruhig!“ drohte Flametti mit aufgeblasenen<br/>Backen. Schon war die ganze Nachbarschaft an den<br/>Fenstern. Eine Scheibe klirrte.<br/><br/>„Raus kommt sie!“ arbeitete Jenny.<br/><br/>„Willst du ruhig sein!“ schäumte Flametti, ergriff<br/>das Brotmesser, das auf dem Tisch lag und ging auf<br/>die Frau los.<br/><br/>„Flilfe! Hilfe!“ Jenny stiess auf der Flucht mit<br/>dem Kopf an den Spiegelschrank. Nettchen, gurgelnd<br/>und seibernd, sprang hoch an Flamettis Brust und<br/>verbiss sich im rot-weiss gestreifelten Baumwollhemd.<br/><br/>Flametti kam zur Besinnung und liess das erho-<br/>bene Messer sinken.<br/><br/>„Machst du jetzt, dass du hinauskommst!“ fun-<br/>kelte er Traute an und bedeutete ihr mit dem Zeige-<br/>finger den Weg. V<br/><br/>Und Traute, entsetzt, in die Enge getrieben, lief<br/>heulend über das Plüschsofa, am Rocke den wüten-<br/>den Hund nachschleifend, nahm einen viertel Fuss-<br/>tritt Flamettis mit, schrie Zeter und Mordio, rannte<br/>die Treppe hinunter zur Strasse, und lief, was sie<br/>laufen konnte.<br/><br/>Die Mittagstafel war schlecht besucht. Auch die<br/>Häslis fehlten. Sie hatten Kontrakt gemacht mit Fer-<br/>rero, gestern noch spät in der Nacht, nach dem<br/>,SchackerF, und fanden es nicht übertrieben, Flametti<br/>Adieus zu ersparen. ' :<br/>
V.<br/><br/>Herr Meyer sah aus wie Friedrich Haase als<br/>Richard der Dritte. Man fuhr nach Basel. Herr Meyer<br/>sah aus, als sei er, Herr Meyer, verantwortlich für<br/>diese Partie. Man fuhr zu Herrn Schnepfe nach Basel,<br/>und dieser Herr Meyer sah aus, als sei’s eine Fahrt<br/>nach dem Feuerland.<br/><br/>„Sehen Sie mal, Herr Meyer,“ sagte Flametti,<br/>„ich kenne doch Schnepfes Lokal. Keine Sorge!<br/>Wochentags leer. Aber Sonntags brillant. Und jetzt<br/>zur Messzeit, mit unseren Schlagern ...! Das Wich-<br/>tigste ist: man muss ihm den Schneid abkaufen, dem<br/>Schnepfe. Von vorneherein. Gar nicht aufkommen<br/>lassen. So und so sieht es aus bei uns. Das und das<br/>brauchen wir. — Grosses Lokal bei den Schnepfes.<br/>Prachtvolle Zimmer. Guter Kontrakt.“<br/><br/>Aber Herr Meyer schien seine Bedenken zu haben.<br/>Er hörte kaum zu. Rauchte ’ne Zigarette und spuckte<br/>wegwerfend durchs Kupeefenster.'<br/><br/>„Sehen Sie mal,“ sagte Flametti und tippte die<br/>Asche weltmännisch auf die vorbeisausende Landschaft,<br/>„wir haben: die ,Indianer', das ,Harem', den ,Fried-<br/>hofsdieb', den ,Mann mit der Riesenschnauze', die<br/><br/>,Nixen', die ,Ausbrechernummer'_______“ Er zählte das<br/><br/>alles an den Fingern her.<br/>
139<br/><br/>„Die ,Indianer4 ?“ warf Herr Meyer ein.<br/><br/>„Na ja, die ,Indianer'.“<br/><br/>„Wieso die ,Indianer'?“<br/><br/>„Na: ich, meine Frau, die Soubrette und Rosa.“<br/>„Schöne ,Indianer'!“ meinte Herr Meyer. Ihm<br/>könnt’ es ja recht sein.<br/><br/>„Was wollen Sie?“ meinte Flametti, „genügt das<br/>nicht?“ Er wurde heftig. „Jawohl! Werde mir fünf<br/>Soubretten engagieren! Zehn Lehrmädel dazu!“<br/>„Feine Stadt, Basel!“ rief Jenny mit erhobenem<br/>Zeigefinger und entnahm ihrer Handtasche zwei Schin-<br/>kenbröte. „Gelt, Max, auf die Mess’ gehen wir? Und<br/>die Kavaliere bringen uns Leckerli?“<br/><br/>„In Basel gibt’s doch die Leckerli,“ erklärte sie<br/>Fräulein Laura, die ebenfalls skeptisch schien. „Sol-<br/>Chene Düten bringen sie an!“ Sie zeigte eine Düten-<br/>grösse von reichlich einem halben Meter. „Und einen<br/>zoologischen Garten gibt es: Wildschweine, Strausse,<br/>Giraffen! Feine Stadt!“<br/><br/>Fräulein Laura schien ganz Ohr. Nervös sah sie<br/>von Flametti zu Meyer, von Meyer zu Jenny.<br/><br/>Der Herr Meyer meint, das Repertoir reiche nicht<br/>aus,“ lächelte Max zu Jenny.<br/><br/>„Nimm ein Schinkenbrot, Max!“<br/><br/>Herr Meyer spuckte wegwerfend und finster. Und<br/>Jenny fühlte sich verpflichtet, deutlichere Begriffe zu<br/>geben von dieser gesegneten Stadt.<br/><br/>„Und der Rhein ist da,“ sagte sie kauend im hübsch<br/>ansitzenden Reisekleid, „und die Polizei ist sehr streng.<br/>Papiere und Heimatschein, da darf nicht das Tüpfel<br/>fehlen. Wenn dort eine auf der Strasse geht: zwei<br/>Tage. Schon ist sie weg.“<br/><br/>M<br/>
140<br/><br/>Stosshaft belustigt spuckte Herr Meyer. Doch seine<br/>Skepsis war abgründig finster. Jeder Versuch, ihn auf-<br/>zuhellen, schien vergebens. Und Fräulein Laura zuckte<br/>nervös mit den Augenlidern. Sie schien sich gar nicht<br/>zurechtzufinden.<br/><br/>Engel langte die Sachen herunter aus dem Gepäck-<br/>netz. Bobby sah nach der Uhr und griff die Plakate.<br/>Rosa bemühte sich um den Käfig der Turteltauben.<br/><br/>„Ist’s schon so weit?“ fragte Jenny erstaunt und<br/>steckte ihr Schinkenbrot halb in den Mund, halb in<br/>die Reisetasche.<br/><br/>„Basel!“ bestätigte Flametti.<br/><br/>„Ah, das ist recht!“ rief Frau Schnepfe, als das<br/>Ensemble eintrat. „Das ist redht!“ und drehte an<br/>ihrem Ehering, „Guten Tag! Guten Tag! Guten Tag!“<br/>und gab jedem einzelnen die Hand.<br/><br/>„Salü!“ grüsste Flametti, „da sind wir!“ und blieb<br/>mit Reisetasche und Regenschirm ostentativ inmitten<br/>der Wirtsstube stehen, als wolle er sagen: jetzt geht<br/>der Kontrakt an. Jetzt habt ihr zu sorgen für uns.<br/><br/>Frau Schnepfe bekam einen gelinden Schreck. Und<br/>die Soubrette, als ,Stimmungsmacherin* angezeigt, nahm<br/>sogleich einen Stuhl, ganz erschöpft von Influenza,<br/>stützte den Kopf auf und begann, einzuschlafen.<br/><br/>„Wo ist der Beizer?“ fragte Flametti forsch.<br/><br/>„Fritz!“ rief Frau Schnepfe in irgend ein Keller-<br/>loch, „da sind sie. Komm einmal rauf, die Artisten!<br/>sind da.“ Und Engel und Bobby stapelten das Gepäck<br/>auf, schleppten den grossen Koffer herein.<br/><br/>Da kam auch Herr Schnepfe zum Vorschein, blin-<br/>zelnd und etwas verrusst von der Kellerarbeit<br/>
141<br/><br/>„Salü Max!“ grüsste er mit salopp geschwungener<br/>Schneidigkeit und blödem Gesichtsausdruck. Er trug<br/>eine Schnurrbartbinde, war klein von Gestalt, und es<br/>fehlte der Kragenknopf.<br/><br/>„Salü Fritz!“ grüsste Flametti souverän und stellte<br/>den Handkoffer ab. Herr Schnepfe sah aus, als sei<br/>ihm nicht wisslich, um was es sich handle.<br/><br/>„Das ist die Frau,“ stellte Flametti vor, „das ist<br/>die Soubrette, das ider Pianist, das die Rosa. Das<br/>der Engel und das unser Herr Bobby.“<br/><br/>„Früh auf den Beinen!“ meinte Herr Schnepfe.<br/><br/>„Schweinskopf mit Senf,“ porträtierte Engel, indem<br/>er den Koffer zum andern Gepäck hinschob^<br/><br/>„Alles parat?“ fragte Flametti militärisch.<br/><br/>„Alles parat!“ rapportierte Herr Schnepfe, die Hand<br/>an der Hosennaht. Den Scheitel hatte er sich mit<br/>Wasser und mit Pomade zurechtgeplätscht. Doch<br/>sträubten sich seine Borsten.<br/><br/>„Wo sind denn die zwei andern Fräulein?“ erkun-<br/>digte sich Frau Schnepfe freundlich und süss.<br/><br/>„Kommt Ersatz!“ tröstete Flametti und hing nun<br/>auch seine Schirme auf.<br/><br/>„Na, dann zeig’ mal die Zimmer!“ gebot Herr<br/>Schnepfe und zogjsich mit einem kommissartigen Ruck<br/>die Kellerschürze über den Kopf.<br/><br/>„Wollt iihr nicht ierst einen Kaffee trinken?“<br/><br/>Oh, das war eine freundliche Frau Schnepfe! Oh,<br/>die war nett!<br/><br/>„Oh ja,“ nickte Jenny mit ihrem süssesten Lächeln<br/>und gab der Frau Schnepfe das Reiseplaid. Die gab’s<br/>einer Kellnerin weiter.<br/>
142<br/><br/>Flametti nahm Rosa die Tauben ab, hing seinen<br/>Hut an den Haken und nahm seine ,Philos* heraus.<br/><br/>Die Kellnerin brachte Jielles. Herr Schnepfe han-<br/>tierte am Bierhahn, gab seine Befehle. Jenny ging<br/>mit Frau Schnepfe die Wohnung besehen. Und man<br/>war angekommen.<br/><br/>Nachmittags ging man zur Polizei, von wegen der<br/>Anmeldung. Die Stadt war grau. Hohe Häuser, elek-<br/>trische Strassenbahnen. Regenwetter vund Nebel.<br/><br/>Das Polizeihaus war ein efeuumwachsener, burg-<br/>ähnlicher Bau. Der jWeg hinauf führte vorbei am Ge-<br/>fängnis. Ein Sträfling sah mit verwildertem Kasperl-<br/>gesicht durchs Eisengitter herab auf die Strasse.<br/>Schweigend ging man vorbei, gedrückt, wie Katho-<br/>liken vorübergehen am Kreuz. Man nimmt seinen<br/>Hut ab.<br/><br/>Der RüCkweg führte vorbei an der Messe. Das<br/>elektrische Karussel war in vollem Betrieb. Eine blau<br/>gestrichne Karosse kam, zitternd und rasselnd, in maje-<br/>stätischer Fahrt aus dem Tunnel. An der Stirnseite<br/>des Wagens prangte ein See Weibchen, Bruststück. Das<br/>schlug die Tschinelle. Rot waren die Backen, weiss<br/>ihre Brüste gelackt. Stolz flog sie dahin und zog einen<br/>ganzen Schwarm hochfarbig lackierter Wagen aus dem<br/>Tunnel. Die Dampfpfeife ^schrillte.<br/><br/>Herrn Schnepfes Varietelokal war unschwer zu fin-<br/>den. Wenn man öfters den Weg machte, fand man es<br/>spielend. Bei einem grossen Bankhaus schwenkte man<br/>ab nach rechts, in die Vorstadt. Vor dem Haus stand<br/>ein Brunnen mit grossem Bassin voll grasgrünen Was-<br/>sers. Darüber der heilige Bartholomäus, aus Stein ge-<br/>hauen, mit segnenden Händen. An den Fenstern hingen<br/>
143<br/><br/>I<br/><br/>Flamettis Plakate, in der Strasse, am Abend, schau-<br/>kelte blau eine Bogenlampe.<br/><br/>Die Zimmer waren ein wenig kalt und schreckend<br/>im ersten Moment. Mattscheiben und die gekalkten<br/>Wände erinnerten barsch an Krankenbaracken in ei-<br/>nem Gefängnisbau. Doch waren sie teilweise hübsch<br/>mit j Oefen versehen und geräumig, ebenso wie<br/>das Konzertlokal.<br/><br/>Zwei ineinandergehende Kammern gleich überm<br/>Wirtslokal bekamen Flametti und seine Frau, nebst<br/>Rosa. Eine Kammer im dritten Stock die Herren Engel<br/>und Bobby. Ein iDienstmädchenzimmer im Seitenflügel<br/>Herr Meyer und Fräulein Laura.<br/><br/>„Sagen Sie nur,“ ^meinte Frau Schnepfe zu Jenny,<br/>„warum haben Sie nur >die zwei netten Fräulein<br/>nicht mitgebracht?“<br/><br/>„Ach, Frau Schnepfe,“ winkte Jenny ab, „Sie haben<br/>ja keine Ahnung, was in unsrem Beruf alles vorkommt:<br/>Die eine hab’ ich entlassen müssen — schlimme Ge-<br/>schichten! Die andre hat man mir abgenommen.“<br/><br/>„Abgenommen ?“<br/><br/>„Ja, denken Sie sich : die Mutter kam mir ins Haus<br/>und sagte, sie dulde nicht länger, dass ihre Tochter<br/>Artistin ist. Wegen der Kerls.“<br/><br/>„Was Sie nicht sagen!“<br/><br/>Die Vorstellungen waren .nicht gut besucht. Trotz<br/>pomphafter Vorreklame. Ein Dutzend Leute sassen<br/>wohl in den Ecken. Aber sie fassten ‘ und Hessen sich<br/>weiter nicht stören, l Keine Hand rührte sich, wenn<br/>eine Nummer zu Ende war. Keine Miene verzog .sich.<br/><br/>„Man muss sich einleben,“ meinte Flametti. „Es<br/>
144<br/><br/>muss sich herumsprechen, .was wir zu bieten haben.<br/>Nur keine Sorge! Kommt schon.**<br/><br/>Herr Meyer musste sich jedenfalls bald überzeugen,<br/>dass die ,Indianer* auch ohne Qüssy und Traute<br/>gingen.<br/><br/>„Sehen Sie,** sagte tFlametti, „Basel ist eine ernste<br/>Stadt. Religiös. Das vornehme Bürgertum klatscht<br/>nicht gern. Lassen Sie uns etwas Ernstes bringen, den<br/>,Friedhofsdieb*, und wir haben ein volles Haus.**<br/><br/>Also bekam Engel die Rolle der Zeugin Emilie<br/>Schmidt im ,Friedhofsdieb*, was Frau Häsli früher zu<br/>spielen hatte, und lief tagsüber unglücklich zwischen<br/>den Tischen und Stühlen umher und rang mit dem<br/>Ausdruck.<br/><br/>Herr Meyer aber blieb skeptisch. Auch die Wirts-<br/>leute gefielen ihm nicht.<br/><br/>Ihm war nicht entgangen, dass Herr Schnepfe auf<br/>seinem Glasdach einen Wurf junger Wolfshunde auf-<br/>zog. Die heulten tdort nächtlich herum, wenn die Rat-<br/>ten über das Dacli wegstoben.<br/><br/>Eine innige Antipathie empfand Herr Meyer gegen<br/>Herrn Schnepfe. Auch (diese Frau, Frau Schnepfe,<br/>gefiel ihm nicht. Ihr gedrehtes Wesen belästigte ihn.<br/>Herr Meyer war ein Poet. Wie sollte das Publikum<br/>Zutrauen fassen, wenn ,die blutleckenden Wolfshunds-<br/>bestien mit ihren Hängeschwänzen das Haus durch-<br/>strichen und jedermann an den Waden schnupperten;<br/>wenn die gedrehte Frau Schnepfe auf ihre gedrehte<br/>Art „Guten Morgen!** sagte und einem die Hand gab,<br/>geziert-religiös, wie Nonnen sich in der Kirche an<br/>Fingerspitzen das Weihwasser reichen!<br/><br/>Flametti aber versuchte es analytisch.<br/>
145<br/><br/>„Was ist Blödsinn ?" philosophierte er in dem ,Mann<br/>mit ider Riesenschnauze'. „Blödsinn ist: wenn das<br/><br/>Kind keinen Kopf hat. Blödsinn ist aller Jammer der<br/>Welt. Blödsinn ist $ie Enttäuschung der Seele, die<br/>Quintessenz der Melancholie. Blödsinn ist überhaupt<br/>ein Blödsinn."<br/><br/>Das war Herrn Meyer so recht aus der Seele ge-<br/>sprochen. Das löste seine Komplexe. Doch auch Er-<br/>kenntnis vermochte die Basler nicht aufzuheitern.<br/><br/>Mit ringförmigen Fischaugen ,sassen sie da, tranken<br/>ihr Bier aus, zahlten und gingen. Die Soubrette hatte<br/>ein wenig Erfolg. , Das Ganze schien hoffnungslos.<br/><br/>„Alles nichts," sagte Jenny, „wir müssen Artisten<br/>haben!" Und eines Tags bei Tisch verkündete sie<br/>dem erregten Ensemble: „Neue Artisten kommen.<br/>Vornehme Artisten. Kinder, da müsst ihr euch fein<br/>benehmen!"<br/><br/>Zwei Tage später war’s auch schon da. Die Tür<br/>ging auf. Ankamen die neuen Artisten. Herr Leporello<br/>und Lydia, Herr (Leporello und Lotte, Herr Leporello<br/>und Raffaela, nebst vielem Gepäck, darunter auch<br/>Eisenstangen.<br/><br/>Das war ein Getue! Das war ein Geschmatze!<br/>Das war die lauterste Seligkeit!<br/><br/>Lottely hinten, Lottely vorne! „Gut, dass ihr da<br/>seid!" — „Trinkst du Helles, Lepo?" — „Wollt ihr<br/>einen Kaffee trinken?" — „Wie geht es der Mutter?"<br/>und was dergleichen Begrüssungsformalitäten mehr<br/>sind.<br/><br/>Sogar Herr Meyer taute jetzt auf. Leben und Le-<br/>bensart kamen ins Haus. Die Reserviertheit Schnep-<br/>fes verfing nicht mehr.<br/><br/>Flametti. 10<br/>
146<br/><br/>Und diese Nummern! Drahtseilakt un*d Czardas.<br/>Spitzentanz, Matschiche und Drehbarer Unterleib! Ein<br/>wirklicher Zuwachs! Akquisition! Das liess sich<br/>hören!<br/><br/>Auch die neuen Artisten wurden untergebracht:<br/>Zimmer Numero 6 und 7. Engel und Bobby<br/>beschäftigten sich mit dem neuen Gepäck und den<br/>Eisenstangen. Herr Leporello gab Anweisungen. Und<br/>man begab sich zur Polizei.<br/><br/>Eine Stunde später ^chon waren für Raffaelas Draht-<br/>seilakt im Parkett quer vor der Bühne die Stützen be-<br/>festigt, die Zeitungsannonce war aufgegeben, und<br/>der Erfolg war freundlichst gebeten, sich einzufinden.<br/><br/>Kam auch. Gleich der erste Abend gab einen hohen<br/>Begriff von den Fähigkeiten der neuen Artisten. Die<br/>Kostüme waren zwar etwas zerknittert. Sie hatten<br/>zulange im Korb gelegen und von Frau Schnepfe war<br/>kein Bügeleisen zu erhalten. Auch missglückte Herrn<br/>Leporellos ,Drehbarer Unterleib*, weil Lepo zu Mit-<br/>tag infolge der langen Bahnfahrt zuviel gegessen hatte.<br/><br/>Aber Raffaelas ,Matschiche auf dem hohen Seil*<br/>mit japanischem Schirm und im Himbeertrikot — Teu-<br/>fel, hatte das Frauenzimmer Schenkel! — ermunterte<br/>selbst die griesgrämigen Basler. Und als Fräulein<br/>Lydia Czardas tanzte — verflucht noch einmal! Sie<br/>schlug auf das Tamburin und ging mit pferdhaftem<br/>Posterieur stampfend, und ,tänzelnd gegen die grät-<br/>schende Schwester los —, da gab es auch bei den<br/>Baslern keine Bedenken mehr: laut und vernehmlich<br/>klatschten Sie.<br/><br/>Am nächsten Abend gab es schon Ehrengäste: Herr<br/>Bums-die-Lerche, der Komikerkönig, und Fräu-<br/>
147<br/><br/>lein Nandl, das Wunder der Tätowierung, welch letz-<br/>tere im Haus des Herrn Schnepfe auch wohnte, der<br/>guten Adresse wegen.<br/><br/>In den nächsten Tagen brachte Raffaela als Neu-<br/>heit ihren ,Spitzentanz' — immer auf den Fussspitzen,<br/>nach der Melodie:<br/><br/>,Frühling ist’s, die Blumen blühen wieder,<br/><br/>Süss berauschend duftet jetzt der Flieder',<br/>immer auf den Fussspitzen; die Pointen markiert durch<br/>ein Hochschnellen des Körpers, die Arme mit gra-<br/>zienhaft hinauf- und ,hinuntergebogenen Handflächen<br/>ausgebreitet; immer so:<br/><br/>,Alle Vögel jauchzen, jubeln, si—hi—ngen,<br/><br/>Die Natur scheint ^eu sich zu verjü—hi—ngen.'<br/>Und Herr Leporello, wenn er eklatante Beweise seiner<br/>trommlerischen Begabung bei der Begleitmusik ab-<br/>gelegt hatte, produzierte sein ,Teufelskabinett', bei dem<br/>er unter Zischen und Pfeifen auf einer Sirene, mit zu-<br/>sammengelegten Gliedern durch einen Schornstein aus<br/>Pappkarton, den Lydia festhielt, borstig herniederfuhr.<br/><br/>Wenn aber Herr Leporello Sonntags seinen komi-<br/>schen Teufelsakt brachte — er erschien dann als eine<br/>infernalische Klatschbase im Korsett, einen Kamm in<br/>der Perrücke, das Hemd hing ihm hinten iheraus' und<br/>der Rock aus Sackleinwand, mit roten Litzen benäht,<br/>war ihm zu kurz —, dann spielte sich in seinen Mie-<br/>nen eine so jdiabolische Einfältigkeit ab, dass der Kon-<br/>trast zwischen seinen gespreizten Zirkusposen und dem<br/>dargestellten Objekt die Zuschauer zu hellem Grinsen<br/>entflammte.<br/><br/>Was Wunder, wenn >Öas Geschäft sich hob? Wenn<br/>
die Zirkusleute mehr und mehr in den Vordergrund<br/>traten, auch bei ,der Direktion?<br/><br/>Ein Feldweibel von der St. Gotthard-Festung kam<br/>als Konzertbesucher. Er hatte Urlaub. Die Frau war<br/>gestorben. Was der Mann alles spendierte! Sogar<br/>Leckerli brachte er mit, die ersten, die man bei<br/>Schnepfes zu sehen bekam.<br/><br/>Auch zum Zoologischen Garten ging man jetzt und<br/>zur Messe. Und zwar teilte sich hier das Ensemble.<br/>Die Zirkusleute gingen mit Jenny zum ,Zoo‘. Die<br/>andern mit Flametti zur ,Mess‘.<br/><br/>Der Basler Zoologische Garten scheint nicht so<br/>üppig bestückt zu sein wie Hagenbecks Tierpark zu<br/>Hamburg. Auch nicht so künstlerisch interessant ar-<br/>rangiert wie etwa die kunstgewerbliche Menagerie zu<br/>München. Wenigstens wusste der zoologisch interes-<br/>sierte Teil der Vergnügungspartie nur Unbedeutendes<br/>zu berichten.<br/><br/>Jenny war aufgefallen, dass die Strausse im Basler<br/>Zoo ,echte Straussfedern* trugen. Lydia klagte, die<br/>Papageien hätten erbärmlich geschrieen. Die Ohren<br/>gellten ihr jetzt noch davon. Man solle den Viechern<br/>die Hälse abschneiden, statt ihnen die Bälge mit Brot<br/>vollzustopfen. Nur Raffaela schien einen stärkeren Ein-<br/>druck gerettet zu haben.<br/><br/>„Kinder, der Elefant!“ schlug sie die Hände zu-<br/>sammen und konnte sich gar nicht genugtun, „so etwas<br/>Schamloses gibt es nicht mehr!“ i<br/><br/>Giraffen hatten sie .nicht gesehen. Auch keine Wild-<br/>schweine. Einige Affen. Doch das war alles.<br/><br/>Die Messe war interessanter. Wer mit Flametti ging,<br/>fand keine Enttäuschung.<br/>
<br/><br/>149<br/><br/>Erst im Panoptikum: ,Der Feuerkessel von Tahure':<br/>da platzten die Bomben! Da staunte das Volk! Da<br/>streckten die toten Poilus die Beine zum Himmel, wie<br/>niedergeknallt auf der Hasenjagd!<br/><br/>Dann auf der Rutschbahn: zwei Karossen hinter-<br/>einander: in der ersten Flametti und Fräulein Laura.<br/>In der zweiten Herr Engel und Meyer. Wie flog man<br/>dahin! Wie flog ,man daher!<br/><br/>Dann beim Jägersalon': „Schiessen Sieimal, junger<br/>Herr!" Und Herr Engel schoss, auf den Trommler.<br/>Und traf ihn; mitten in die Visage. Der rasselte los.<br/>Aber unentgeltlich. Man war ja Artist. Es war eine<br/>Freude, zu leben!<br/><br/>Mittlerweile war es nun Winter geworden, ganz<br/>unvermerkt, über Nacht, und man war gezwungen,<br/>'sich enger zusämmenzuschliessen. Da gab es lange<br/>Gesichter. i t<br/><br/>„Jenny, wir haben ja gar keinen Ofen!“ reklamier-<br/>ten Lydia und Raffaela zugleich.<br/><br/>„Ist doch nicht kalt!“ tröstete Jenny, „je, seid ihr<br/>verfroren!“ Aber es waren fünf Grad unter Null.<br/><br/>„Eene klappernde Kälte!“ meinte Herr Leporello<br/>in komischem Bass, mit hervortretenden Augen, und<br/>stellte sich vor den Ofen im Wirtslokal.<br/><br/>„Sie, Leporello! In Mesopotamien Krieg!“ verkün-<br/>dete Bobby, der eifrig die Zeitung studierte.<br/><br/>„Ha ick ja immer jesagt: in Mesopotamien fangen<br/>se ooch noch an!“<br/><br/>„Jenny,“ rief Raffaela ins Wirtslokal, schnatternd<br/>vor Kälte und tief beleidigt, „das geht so nicht! Ich<br/>muss einen Ofen haben! Wo soll ich denn hin mit<br/>dem Kind?“<br/>
150<br/><br/>„Ich kann mir den Ofen doch nicht aus der Haut<br/>schneiden!“ meinte Jenny im blauen Schlafrock, am<br/>Ofen. „Hier ist es doch warm! Bleibt doch hier unten<br/>im Wirtslokal!“<br/><br/>Das tat man denn auch. Raffaela, Lydia, Lotte und<br/>Lepo blieben im Wirtslokal. Lepo las seine Kriegs-<br/>berichte, von morgens ,bis abends. Lotte machte die<br/>Hosen nass. Lydia und Raffaela schlappten einher<br/>in den Schlafröcken und beschimpften einander.<br/><br/>Abends aber, während der Vorstellung, sassen die<br/>fünf Damen aufgeputzt um Herrn Schnepfes Dauer-<br/>brandofen wie Papageien auf einem Eisenring um den<br/>Dompteur.<br/><br/>„Kinder, nein, ist das eine Kälte!“ zitterte Lydia<br/>mit erfrorener Nase und zog ein Gesicht, als sei sie<br/>hereingefallen und komme erst jetzt allmählich da-<br/>hinter.<br/><br/>Und zu der Soubrette: „Ihr habt es gut. Ihr habt<br/>einen Ofen!“<br/><br/>Und alle bebten und pressten die Schenkel zu-<br/>sammen.<br/><br/>„MenSchenskind!“ tanzte Engel näher heran und<br/>rieb sich verbindlich die Hände, „ist doch keene<br/>Kälte: fünf Grad! Hättest vergangenen Winter dabei<br/>sein sollen!“ und hob sich fast in die Luft, so betrieb<br/>er mit beiden Armen gymnastische Packung. „Haupt-<br/>sache ist: man kriegt was Warmes in Magen!“<br/><br/>Nun, daran fehlte es nicht. Herr Schnepfe liess<br/>sich nicht lumpen. [<br/><br/>Der Kaffee zum Frühstüdk liess zwar manches zu<br/>wünschen übrig. Die Blechkanne, in der er serviert<br/>wurde, mochte innen ein wenig verrostet sein. Die<br/>
151<br/><br/>Damen erbrachen sich, wenn sie getrunken hatten.<br/>Das könnte jedoch, wie Herr Schnepfe auf Reklamation<br/>hin bemerkte, auch andere Ursachen haben.<br/><br/>Das Mittagessen war einfach tipp topp. Sauer-<br/>kraut, Würstel und Pellkartoffel*. — ,Gulasch, Boh-<br/>nen und Rösti*. — ,Hackfleisch, Erbsen und Rettich-<br/>salat*. Jennymama kochte besser; gewiss. Aber man<br/>war nun einmal in der Fremde. Da war es, wie die<br/>Verhältnisse lagen, das beste, den Magen zu heizen.<br/><br/>„Iss!** sagte Laura zu Meyer, „wer weiss, wann<br/>man wieder was kriegt!**<br/><br/>Eine kleine Rivalität brach aus zwischen den Zir-<br/>kusartisten und dem übrigen Teil des Ensembles, dem<br/>,Bruch*, wie die Zirkusleute alle Kollegen nannten, die<br/>nicht von Kindesbeinen auf beim Metier waren.<br/><br/>Die Zirkusleute pochten auf ihre Familie, Herkunft,<br/>Tradition. Sie waren exklusiv und sahen den ,Bruch*<br/>verächtlich an. Herr Leporello etwa den kleinen Bobby.<br/>Beide waren Isie Kontorsionisten. Bobby arbeitete rück-<br/>wärts, war also Schlangenmensch. Herr Leporello ar-<br/>beitete vorwärts, war also Froschmensch. Herr Le-<br/>porello hatte die komplizierteren Balancen, den dreh-<br/>bareren Unterleib. Bobby hatte den besseren Hand-<br/>stand, das biegsamere Rückgrat.<br/><br/>Aber Herr Leporello ästimierte ihn nicht. Herr<br/>Leporello war ausschliesslich Artist. Bobby ging im<br/>Nebenberuf zeitweilig ,auf Heizerfahrt*.<br/><br/>Oder Miss Raffaela den Engel. Sie verlangte von<br/>ihm, dass er Einkäufe für sie besorge. Sie glaubte,<br/>der Bühnenmeister sei hier auch Stiefelputzer. Aber<br/>Engel lehnte es ab, ,Kommissionen* zu machen.<br/><br/>„Hab’ keine Zeit! Hab’ zu studieren! Bin selber<br/>
152<br/><br/>Artist!“ Und Flametti bestätigte das, indem er Mon-<br/>teur* auf Engels Papier durchstrich und ,Artist* drü-<br/>berschrieb.<br/><br/>Zwei Parteien bildeten sich. Die Partei der Zirkus-<br/>artisten mit Jenny. Die ,Bruch*- und Apachenpartei<br/>mit Flametti.<br/><br/>Flametti waren die Zirkusdamen zuwider. Sie hän-<br/>selten ihn. Er fand sie verdorben, aufdringlich, utriert.<br/>Sein Herz war bei der andern Partei, den Gestrandeten,<br/>den Gelegenheitskönnem, den Kindern Gottes. Auch<br/>Meyer und Fräulein Laura waren nur herverschlagen<br/>ins Variete. Und doch — alle Hochachtung!<br/><br/>Aeusserlich aber tat sich die Rivalität in folgendem<br/>kund: Die Zirkusleute brachten das Geld. Die Bruch-<br/>leute hatten — Iden Ofen.<br/><br/>Die Zirkusleute lagen den ganzen Tag in Flamettis<br/>geheizter Stube herum oder im Wirtslokal, wo das<br/>Glasdach tropfte, die Ratten liefen, die Windeln rochen.<br/>Sie schürten und hetzten. Sie glaubten, wider Ver-<br/>dienst schlecht weggekommen zu sein.<br/><br/>Die Bruchleute schlossen sich täglich enger zusam-<br/>men im Zimmer des Pianisten, wo zwar die ungefegte<br/>Brikettasche Mumien aus ihnen machte, wo aber der<br/>Ofen glühte. Fräulein Laur,a wusch der Männertgemein-<br/>samen Kragen, Bobbys Eidechsenkostüm hing glitzernd<br/>über der Wäscheleine. Man sass auf Herrn Meyers<br/>entgleistem Rohrplattenkoffer und sang Schnadahüpfl<br/>zur Laute. Man richtete Engel ein Bett her am Ofen,<br/>damit er geborgen war, wenn die Malaria ihn überfiel.<br/><br/>Und Engel erzählte mit traurig schluckender Stimme<br/>von Gudrun, der Baronesse, die ihn geliebt, als er<br/>
153<br/><br/><br/><br/>noch Forsteleve in Deutschland war, beim Grafen von<br/>Reiff enstein.<br/><br/>Das Exil dieser Tage erhielt eine Abwechslung da-<br/>durch, dass es plötzlich noch kälter wurde.<br/><br/>Es war jetzt so kalt, dass es wirklich nicht anging,<br/>länger zu singen :<br/><br/>,Die Luft ist lau, die Täler prangen lenzesgrün*,<br/>wie es in jenem Begrüssungsmarsch hiess, den man<br/>im ,Krokodil* vor Ros'enlauben gesungen.<br/><br/>Die Damen rieben Sich auf der Bühne ganz unver-<br/>hohlen die Hände vor Frost. Und wenn der Marsdr<br/>auch ein heissblütiges Tempo hatte: die Worte konnten<br/>jetzt nicht mehr an gegen den Rauhreif der Wirklich-<br/>keit.<br/><br/>Die Varietebesucher: Totengräber, Kirchendiener,<br/>Leichenbitter und Mädchenjäger sassen mit Zapfen-<br/>schnurrbärten, wenn sie zufällig in die Peripherie des<br/>Saales gerieten, in die Nähe eines der grossen Fenster.<br/><br/>Auch der Spitzentanz Raffaelas verfing nicht mehr.<br/>Vergebens suchte sie mittels Duftigkeit, Sinnenrausch<br/>und Besdhwingtheit der Schritte die Illusion eines<br/>Maientags aufrechtzuhalten. Ihr Odem wehte wie Hö-<br/>henrauch. Ihre Nase karfunkelte.<br/><br/>Man Stellte wohl in die Damengarderobe einen Pe-<br/>troleumofen. Aber das war wie ein Zündholz im Eis-<br/>schrank.<br/><br/>Es ging nun auch nicht mehr an, dass der Vetter<br/>Flamettis, Herr Graumann, länger mit einem Papp-<br/>karton die Gebirgsbewohner der Schweiz photogra-<br/>phierte.<br/><br/>So traf dieser Herr, Herr Graumann, Vetter Fla-<br/>mettis, eines Tags bei Herrn Schnepfe ein, just ,in<br/>
154<br/><br/>dem Augenblick, als die Generalprobe zum ,Friedhofs-<br/>dieb' stattfand.<br/><br/>Sehr erstaunt war Herr Graumann, seinen Vettei'<br/>Flametti in einem langen, schwarzen Talar zu erblicken,<br/>als Richter vor einem Stoss Aktenmappen. Eine kleine,<br/>zierliche Knabengestalt, dem Richterstuhl gegenüber,<br/>schien prozessiert zu werden.<br/><br/>Es handelte sich um einen Friedhof und einen , Topf,<br/>der gestohlen war; Blumentopf.<br/><br/>Auf der Mitte der Bühjnfe stand eine vornehme<br/>Dame, wohl eine Baronin, mit Blicken, die halb auf den<br/>Richter, halb auf den Knaben gerichtet waren. Neben<br/>ihr krausköpfig ein schmächtiger Herr, der als Zeuge<br/>Emil Schmidt figurierte und offenbar seine Rolle noch<br/>nicht vollkommen beherrschte; er stammelte, stotterte,<br/>war in der grössten Verlegenheit.<br/><br/>Herr Graumann trat näher, ein wenig verschüch-<br/>tert von solch künstlicher Atmosphäre, und legte die<br/>Hand vor die Augen, die Szene prüfend auf ihren<br/>photographischen Gehalt.<br/><br/>„Von vorn!“ schrie Flametti. Und es wiederholte<br/>sich der Auftritt, Zeuge Emil Schmidt, — Friedhofsdieb.<br/><br/>Und jener krausköpfige Herr kam mit dem Knaben<br/>durch die Kulisse herein, zitternd und bebend, so<br/>dass man ihn selbst für den Delinquenten hielt. Er<br/>legte mit irren Augen die Hand auf die Schulter des<br/>Knaben und sprach:<br/><br/>,Man immer ruhig, mein liebes Kind!<br/><br/>Die Wahrheit darf immer man sagen.<br/><br/>Dann kann man die Strafe, wie sie auch sei,<br/><br/>Mit leichterem Herzen ertragen.<br/><br/>Sprich frisch von der Leber weg.........‘<br/>
Engel hustete heftig. Das war nicht verwunderlich,<br/>denn hinter der Bühne zog es abscheulich.<br/><br/>Flametti aber war wie ein Stier vor dem roten Tuch,<br/>diesem Husten gegenüber.<br/><br/>„Lass das Husten sein!“ schrie er und rüttelte seinen<br/>AmtstisCh, „oder ich wert’ dir die Glocke vor den<br/>Kopf!“<br/><br/>Eine Glocke gab es auch auf dem Amtstisch, kon-<br/>statierte Herr Graumann.<br/><br/>Und Engel hustete kurz noch zu Ende, räusperte<br/>sich und fuhr fort:<br/><br/>,Sprich frisch von der Leber weg<br/>Und was zur Tat dich getrieben.<br/><br/>Ein Richter ist streng nach Gebühr, wenn es muss.. /<br/>„Hundsfott!“ schrie Flametti, „ist das ein Vers?<br/>,Ein Richter ist streng, wenn sich's gebührt/...“<br/>,Ein Richter ist streng, wenn sich’s gebührt/<br/>berichtigte Engel, zitternd vor Ergriffenheit,<br/><br/>,Doch weiss er auch Nachsicht zu üben/<br/><br/>„Gut!“ sagte Flametti, „weiter!“ Und er selbst<br/>wandte sich an den Knaben:<br/><br/>,Tritt näher, mein Sohn, und habe nicht Scheu<br/>Vor schreckender Tracht und Gebahren!<br/><br/>Und so du begangen hast, was es auch sei,<br/><br/>Hier kannst du es offenbaren.<br/><br/>Tritt näher und sprich! Vielleicht dass alsdann<br/>Ein mildernder Umstand dir etwas Luft schaffen<br/><br/>kann/<br/><br/>Und Flametti begleitete seinen letzten Satz mit<br/>einer erleichternden Bewegung beider Hände, von der<br/>Magengegend aufsteigend gegen den Brustkorb.<br/>
Herr Graumann fand diese Gerichtssitzung ein<br/>wenig romantisch, wenn auch nicht fremd. Hörbar<br/>lächelte er.<br/><br/>„Wer ist da im Publikum?“ brüllte Flametti, die<br/>Hand vor den Augen, und ärgerlich über die heue<br/>Störung'. • | :j<br/><br/>„Hallo Flametti!“ rief Herr Graumann hinauf.<br/><br/>Und Flametti: „Ja, Menschenskind, wo kommst<br/>denn du. her?“ Die Glocke stellte er hin und sprang,<br/>im RiChtertalar, herunter über die Rampe.<br/><br/>„Direkt vom Tessin!“<br/><br/>Da war die Probe vertagt. Die Probe war aus. Und<br/>Engel atmete auf.<br/><br/>Herr Graumann blieb, als Flamettis Gast, drei Tage,<br/>zur grossen Freude des ganzen Ensembles, das er<br/>photographierte in allen möglichen und unmöglichen<br/>Posen; immer mit idem Pappkarton, den er mit schwar-<br/>zem Tuch überzogen hatte, und mit dem er .furchtbar<br/>penibel war. Die Bilder versprach er später zu schik-<br/>ken.<br/><br/>Herr Graumann war ein Original. Ein wenig glich<br/>er dem Wurzelsepp aus der bayrischen Bauernkomödie.<br/>Die ganze Schweiz bereiste er als Photograph. Mit<br/>dem Pappkarton. In die entlegensten Dörfer kam er.<br/>Und immer zu Fuss. , AuCh aus dem Tessin war er<br/>zu Fuss gekommen. Wind, Wetter, Eis und Schnee<br/>vermochten ihm wenig anzuhaben. Es war sein Beruf,<br/>zu 'wandern. Die Geschäfte brachten es mit sich.<br/><br/>Was wusste Herr Graumann für treffliche Schnur-<br/>ren zu erzählen! Manch ernsthaftes Abenteuer und<br/>Rencontre mit der Polizei. Unter Plattenreissern war<br/>er der yokerste.<br/>
157<br/><br/>%<br/><br/>„Herr Graumann!“ rief Raffaela taktlos, „wie rie-<br/>chen Sie schön nach den Kräutern!“ und schöpfte mit<br/>der Hand von Herrn Graumanns Luft. „Ist wohl Farn-<br/>kraut?“<br/><br/>Und Lydia: „Sagen Sie, Graumann, tragen die Wan-<br/>zen auch Fahnenstangen, wenn sie Versammlung ha-<br/>ben ?“<br/><br/>Und Fred: „Sie, Graumann, wie macht man das:<br/>,GraumannoF ?“<br/><br/>Denn Herr Graumann hatte in knappen Zeiten ein<br/>Mittel erfunden gegen Insektenstich.<br/><br/>„Man nehme,“ sprach er, „Urin und Brombeer-<br/>säure, füge dazu V5 Salzwasser, das durch die Kiemen<br/>von Klippfisch ging. Schüttle das Ganze.“<br/><br/>Reissend waren sie abgegangen, die dreissig Fla-<br/>schen von je einem halben Liter ä zwei Franken fünf-<br/>zig, die er an einem sonnigen Mittag in Mussestunden<br/>verfertigt hatte am Ufer des Lago Maggiore, und die<br/>den Vergleich aushielten mit jedem Salmiakpräparat.<br/><br/>Herr Graumann nahm eine Prise, reichlich mit Glas<br/>untermischt, damit es die Schleimhäute redlich beize,<br/>und Raffaela und Lydia drangen ihn, sie zu photo-<br/>graphieren zusammen mit Lottely.<br/><br/>Das war nun nicht leicht, weil Lotte sich fürchtete vor<br/>dem zerfederten Eulengesicht des Herrn Graumann.<br/>Aber es ging. 1/2 Dutzend Visit. V2 Dutzend Kabinett.<br/><br/>Und Herr Graumann griff nach Stativ und Kasten<br/>und sagte:<br/><br/>„Bitte, den Kopf etwas schief! Bitte die Hand etwas<br/>höher! Bitte etwas freundlicher, sonst kann ich’s nicht<br/>machen.“<br/><br/>Und schrieb die Bestellung in sein Notizbuch und<br/>
<br/><br/>158<br/><br/>nahm eine lächerlich kleine Anzahlung. Dann musste<br/>er weiter.<br/><br/>„Kinder!“ rief Raffaela, „das wird ein Vergnügen!<br/>Der Mama schicke ich eins! Eins meinem Männe ins<br/>Feld! Eins dem Farolyi!“<br/><br/>Doch als Herr Graumann gegangen war, kehrte die<br/>alte Langeweile wieder.<br/><br/>Herr Engel, um eine Diversion zu haben, feierte<br/>den Namenstag seiner Tante, indem er in fremden Lo-<br/>kalen für eigene Rechnung ausbrach und sich entfesselte.<br/>Herr Sdhnepfe unterhielt sich mit seiner Frau über<br/>Tunis, allwo Frau Schnepfe Köchin gewesen war.<br/><br/>Schnepfe konnte das gar nicht für wahr annehmen.<br/>Hotelköchinnen in Tunis? Nach seiner, Herrn Schnep-<br/>fes unmassgeblicher Ansicht, waren Hotels nicht an-<br/>gebracht in einer Himmelsregion, wo haarige Bestien<br/>meckernd über die Wüste strichen; wo Totengerippe<br/>und Schädel die Wege markierten. Frauenzimmer hatten<br/>dort nichts zu suchen.<br/><br/>Und da man allgemach nicht mehr ausgehen konnte<br/>— die Kälte riss einem die Ohren vom Kopfe —,<br/>so suchte sich jeder zuhaus nach Neigung und Tem-<br/>perament die Zeit zu vertreiben. ' 1<br/><br/>Bobby unternahm umfassende Korrespondenzen<br/>zwecks Wiederherstellung vernachlässigter finanzieller<br/>Beziehungen. Seine Mussestunden widmete er der<br/>Pflege der kleinen Lotte, schneuzte sie, tränkte sie,<br/>legte sie trocken.<br/><br/>Engel gab Herrn Meyer sachdienliche Ticks für<br/>ein Apachenstück, das Meyer zu Ehren Flamettis ent-<br/>warf, und versenkte sich in das Studium medizinischer<br/>Schriften aus* des Herrn Meyer Handbibliothek. Auch<br/>
1<br/><br/>159<br/><br/>schrieb er die Sätze druckfertig ab, die sich aus dieses<br/>Meyer strotzender Feder wölbten.<br/><br/>Jenny und Rosa, ein Stockwerk tiefer, schneiderten<br/>orangefarbene Matrosenkostüme für ein neues En-<br/>semble, die ,Commis voyageusen*.<br/><br/>Herr Leporello, Parterre, hatte vertrackte politi-<br/>sche Disputationen mit einem vierzigjährigen zeloti-<br/>schen Schriftsetzer, der selbstverfasste revolutionäre<br/>Verse voller ästhetischen Klangs jeden Nachmittag,<br/>eh’ er zur Arbeit ging, eine Viertelstunde lang, ziel-<br/>bewusst rezitierte.<br/><br/>Weniger friedlich beschäftigten sich die Damen Raf-<br/>faela und Lydia. ;<br/><br/>Solange noch Aussicht war auf Einladungen und<br/>Unterhaltung, auf Kavaliere und Konditorei, ging es<br/>an. Solange waren sie guter Laune und üppig.<br/><br/>Da ihnen Haushalt und Belletristik nicht lagen,<br/>gaben sie selbdritt der kleinen Lotte französischen Un-<br/>terricht.<br/><br/>„Lottely, sag’: ,Bon joür*!“ kreischte Raffaela.<br/><br/>„Lottely, sag’ ,Rabenmutter*!“ ärgerte sich Lydia<br/>und gab Raffaela einen Stoss.<br/><br/>„Lottely, sag’ ,Voulez-vous coucher avec moi?U“<br/>stichelte Raffaela und schoss den Vogel ab.<br/><br/>„Gib das Kind her! Halt’ doch deinen Mund!“,<br/>entrüstete sich Lydia. „Ich würde mich schämen! Was<br/>die dem Kind beibringt, diesem unschuldigen Seel-<br/>chen! Gib das Kind her, du Fetzen!“<br/><br/>Und sie zerrten das schreiende Lottely hin und<br/>her, dass Lottely selbst nicht mehr wusste, wer da<br/>die Mutter war.<br/><br/>
160<br/><br/>Am Abend indes bei der Vorstellung waren Mutter<br/>und Tante längst wieder versöhnt. \<br/><br/>Uebermütig und ausgelassen stocherten sie, wenn<br/>Bobby seinen Bogen schlug, mit den Angelruten der<br/>,Nixen* durch die KulisSenwand nach Bobbys Bäuch-<br/>lein und knäbischer Druse.<br/><br/>In der Garderobe kneipten sie mit den Locken-<br/>scheren die sanftmütige Rosa, dass diese, halb aus-,<br/>gezogen und mit beiden Händen den wertvollen Busen<br/>schützend, laut kreischend, bis auf die Bühne rannte.<br/><br/>Als aber die Kavaliere ausblieben und sich auch<br/>sonst nichts regte, wandte sich auch bei ihnen das<br/>Temperament mehr nach innen.<br/><br/>Das bisschen Vorstellung, die paar Tänze, der<br/>Schnack, das alles resorbierte sie nicht. Der Zirkus<br/>beschäftigt mehr, fordert mehr Kraftaufwand, bietet<br/>indes auch mehr Sensation und Belustigung.<br/><br/>Sie vermissten die nötige Reibung, den Zug, den<br/>Elan. Die Verpflanzung bekam ihnen nicht. Die Stille<br/>reizte sie auf.<br/><br/>Als man am Mittagstisch sass, kamen zwei Briefe<br/>an: einer für Lydia, einer für Raffaela. !<br/><br/>„Ein Brief von meiner Mama!“ rief Lydia, riss das<br/>halbe Tischtuch mit, als sie aufsprang, und las gierig,<br/>mit langem Gesicht.<br/><br/>„Ein Brief von meinem geliebten Männe!“ schrie<br/>Raffaela und tanzte, den Brief in der Luft mit Küssen'<br/>bedeckend, auf den Filzpantoffeln. ;<br/><br/>Leporello, neugierig, brachte seinen Kaumechanis-<br/>mus ins Stocken. *<br/><br/>„Was schreibt se denn?“ fragte er und schnitt auf<br/>dem Holztisch sein Brot.<br/>
161<br/><br/>„Ach, unsre liebe Mama! Das ist eine gute Mutter!“,<br/>schmachtete Lydia. ,Meine lieben Kinder! Seid ja<br/>recht artig und zankt euch nicht !*...“<br/><br/>„Ach, mach’ nicht gö’n Getöse!“ rief Raffaela. „Du<br/>mit deinem Geschmachte! Als wenn es nur deine<br/>Mutter wäre! Meine Mutter ist’s ebensogut!“<br/><br/>„An mich ist der Brief adressiert!“<br/><br/>„Weil du beständig den Hader bringst!“<br/><br/>„Ich?“ kreischte Lydia, durchschaut. „Unverschämte<br/>Person!“<br/><br/>Und schon lagen sie sich in den Haaren.<br/><br/>Die Briefe von Mutter und Gatte vermischten sich<br/>unter dem Tisch. Lottely, die soeben noch munter mit<br/>ihrem Zinnlöffel den Tisch bearbeitet hatte, Hess ab<br/>von dieser Beschäftigung und suchte mit einem resolut<br/>angesetzten, heulenden „Bäh!“ die Aufmerksamkeit<br/>ihrer Mutter von der sympathischen Lydia abzulenken.<br/><br/>Flametti sdiimpfte und Lepo zog unter dem Tisch<br/>sein Sprungbein an, um einzugreifen, falls der Streit<br/>peinlichere Dimensionen annehmen sollte.<br/><br/>Jenny allein beschwichtigte:<br/><br/>„Kinder, na setzt euch! Das Fleisch wird ja kalt!“<br/>Es wurde schlimmer von Tag zu Tag. Die wahre,<br/>die Zirkusnatur kam zum Vorschein.<br/><br/>Welch ein Schreck für das ganze Ensemble und<br/>auch für Herrn Schnepfe, als eines Tags in der Vor-<br/>stellung die Eisenstütze des Drahtseils, die am Parkett<br/>des Herrn Schnepfe festgeschraubt war, ganz unver-<br/>mittelt herausbrach, samt einem halben Quadratmeter<br/>Parkett!<br/><br/>Raffaela tanzte gerade den Matchiche. In flieder-<br/>farbenem Satinröckchen, den einen Fuss vorschiebend<br/><br/>Flametti. 11<br/>
162<br/><br/>über den ,Telegraphendraht', wie Flametti zu sagen<br/>pflegte, den andern Fuss nach rückwärts hoch in die<br/>Luft geschlagen, den Japanschirm in gezierter Hand,<br/>hielt sie bedacht die Balance, so heftig schaukelnd<br/>und mit dem Japanschirm schlagend, dass die Petro-<br/>leumhängelampen des Herrn Schnepfe in blutiger Ma-<br/>jestät sich verfinsterten.<br/><br/>Schon hatte sie die Mitte des Seils erreicht: da<br/>krachte der Boden. Der Eisenträger neigte sich und<br/>das ganze Spektakel, Raffaela im Fliederkostüm, der:<br/>Japanschirm, das vorgeschobene Bein tyid das hoch-<br/>geschlagene Bein, fielen auf dem geknickten Telegra-<br/>phendraht ineinander.<br/><br/>„Ach Gott, meine Schwester!" schrie Lydia, als<br/>stürzte ein Neubau zusammen, „helft ihr doch! Zieht<br/>sie doch heraus! Ach, ihr lieben Leute, helft ihr doch!"<br/><br/>Es war jedoch nicht viel passiert. Das Seil war<br/>nur ein Meter jachtzig hoch gespannt. Raffaela lag wohl<br/>am Boden, der Schirm daneben. Aber sie schien sich<br/>nur auszuruhen. Abgestürzt war sie aus luftiger Höhe<br/>und dem Publikum bot sich Gelegenheit, ihre Schenkel<br/>zu besehen, wie man eine Schwalbe besieht, die sich<br/>an schwindelnder Kirchturmspitze den Kopf einstiess<br/>und nun plötzlich, den Blicken der Gaffer preisge-<br/>geben, ganz nahe am Boden liegt.<br/><br/>Aus dem Schreck kam man nicht mehr heraus.<br/>Immer fiel seit diesem Begebnis Raffaela irgendwo<br/>herunter.<br/><br/>Von der Bühne fiel sie herunter und hätte sich<br/>fast das Bein gebrochen.<br/><br/>Von der Treppe fiel sie herunter; polternd kam<br/>sie angerutscht. Und man musste den Arzt holen.<br/>
163<br/><br/>*<br/><br/>Vom Draht, der jetzt der Länge nach durch das<br/>Lokal gespannt war, fiel sie, ein zweites Mal herunter,<br/>mitten auf einen mit Gästen besetzten Tisch, wo sie,<br/>zwischen Biergläsern, verdutzt und verschämt einen<br/>Augenblick lächelnd stehen blieb, eine bierschaumge-<br/>borene Venus.<br/><br/>Bösartig aber gebärdete sich Lydia.<br/><br/>Sie schimpfte aufs Essen, auf ihr kaltes Zimmer,<br/>auf die Männer, die samt und sonders Sklavenhalter<br/>und Ausbeuter, Tagediebe und Unterdrücker seien,<br/>die kein Geld herausrückten.<br/><br/>Sie lieh Jennys Petroleumofen aus und gab ihn,<br/>ausgebrannt, ruiniert und durchlöchert zurück.<br/><br/>Hin war der Respekt vor Flametti und seinen ,In-<br/>dianern*.<br/><br/>Wenn sie Flametti sorgfältig sich schminken sah<br/>in der Garderobe, schminkte sie selbst sich in niedriger<br/>Farcerie ostentativ einen Körperteil, von dessen Aus-<br/>beutung für Theaterzwecke selbst die Wilden der Süd-<br/>see sich nichts hätten träumen lassen.<br/><br/>„WarP nur! Ich werd' es der Mama schon schrei-<br/>ben!** rief Raffaela verletzt und entrüstet.<br/><br/>Aber dann brach die empfindsame Lydia in heftige<br/>Tränen aus:<br/><br/>„Nicht einmal Spass darf man machen! Was hat<br/>man denn noch vom Leben? Aufhängen möchte man<br/>sich!**<br/><br/>Und als eines Tages sich Leporello die Freiheit<br/>nahm, mit Flametti zusammen einen Rennstall zu be-<br/>sichtigen, brach zwischen Lydia und Lepo ein solch<br/>abgründiger Hass aus, dass sich Herr Schnepfe ge-<br/>
164<br/><br/>nötigt sah, noch spät in der Nacht mit seinem prämier-<br/>ten Wolfshunde einzuschreiten.<br/><br/>„Judenverkäufer! Bandit! Unterdrücker! Schmier-<br/>fink!“ schrie Lydia, von Raffaela gezaust und von<br/>Lepo zerdroschen, dass es weithin den Gang und das<br/>Haus durchgellte.<br/><br/>Sogar Jenny, die sich in Wahrheit aufopfernd be-<br/>nahm — sie lieh ihren Proteges das halbe Boudoir<br/>aus, Brennschere, Seife, Nachttopf, Benzin —, wurde<br/>in Mitleidenschaft gezogen.<br/><br/>„Du, Jenny,“ sondierte Raffaela, als sie an Jennys<br/>Namenstag traulichen Streuselkuchen zum Kaffee be-<br/>kam, j,wie ist das denn mit der Traute ^geworden?<br/>Seihreibt er ihr noch? Der schreibt ihr doch sicher<br/>noch! Meinst du nicht auch?“<br/><br/>„Nein, nein,“ meinte Jenny bedeutungsvoll, „der<br/>schreibt ihr nicht mehr. Dem ist die Lust vergangen.<br/>Das hat sich ausgeschrieben.“<br/><br/>Und einige Tage später: „Du, Jenny, der hat was<br/>mit der Soubrette. Der Lepo auch. Gib mal acht,<br/>wenn sie singt! Ist dir denn das noch nicht aufge-<br/>fallen?“<br/><br/>„Geh’,“ sagte Jenny, „du träumst!“ Aber sie nahm<br/>sich vor, auf der Hut zu sein.<br/><br/>Und Raffaela, in ihrer Strohwitwenschaft, leistete<br/>sich’s, mit Flametti anzubändeln.<br/><br/>Sie hielt ihn nach alldem, was Jenny ihr anvertraut<br/>hatte, für einen Naivling.<br/><br/>Schon duzten sie sich, trotz Flamettis erklärter Anti-<br/>pathie, als eines Tags Jenny dahinterkam in der Gar-<br/>derobe.<br/><br/>„Was ist denn hun das?“ schrie sie, hochrot und ab-<br/><br/>i<br/>
165<br/><br/>getrieben von dieser ewigen Hetzjagd hinter dem Gat-<br/>ten her, „mit einer verheirateten Frau fängst du auch<br/>noch an? Hast du noch nicht genug mit dem einen<br/>Prozess? Willst du uns ganz ruinieren ?** „Und du,<br/>Raffaela, schämst du dich nicht ?**<br/><br/>„Prozess? Prozess?** staunten Lydia und die Sou-<br/>brette zugleich.<br/><br/>Herr Meyer aber verfinsterte sich noch tiefer.<br/><br/>Während Herr Engel, sein Sekretär, Fortschritte<br/>machte in der druckfertigen Abschrift des langsam<br/>anschwellenden Apachenstücks, gönnte Herr Meyer<br/>seiner Inspiration nicht Ruhe noch Rast.<br/><br/>Tag und Nacht sass Herr Meyer, durchstreichend,<br/>was er geschrieben, neu ordnend, was sich nicht fügen<br/>wollte. Ja, es konnte passieren, dass die Inspiration<br/>ihn in Momenten heimsuchte, die in der restlosen<br/>Hingabe an Fräulein Laura gipfelten; dass es ihn<br/>aus dem Schlaf auftrieb inmitten der Nacht. Dann<br/>schnellte er aus dem Bett mit gesträubten Haaren,<br/>und nicht Hess er locker, bis dass der Gedanke ge-<br/>fesselt war.<br/><br/>„Laura,“ sagte Flametti, als eines Tags Herr Meyer<br/>wieder mit völlig gelähmten Augenlidern bei Tisch<br/>erschien, „sagen sie doch dem Meyer, er soll sich<br/>nicht gar so quälen mit seinem Ensemble. Wissen<br/>Sie: ,Die Apachen* — offen gestanden — gefällt mir<br/>nicht recht.<br/><br/>„Verstehen Sie wohl: gefällt mir schon. Aber es<br/>ist zu direkt. Das Publikum stösst sich dran. Man<br/>muss Rücksicht nehmen. Ausserdem wird es nächstens<br/>bei uns entscheidende Veränderungen geben.**<br/><br/>Fräulein Laura machte grosse Augen.<br/>
<br/><br/>—<br/><br/>166<br/><br/>Sie hatte mit Engel bereits den ,Apachentanz* ein-<br/>studiert, der zwischen Messergefunkel und einem ent-<br/>rissenen Portemonnaie viel rüde Körpergymnastik und<br/>mancherlei Aneinanderpressen der Hüftbecken mit<br/>sich brachte.<br/><br/>„Veränderungen ?**<br/><br/>„Ja, Veränderungen. Im Vertrauen gesagt: Mit<br/>den Zirkusleuten — das geht so nicht mehr. Leporello<br/><br/>— allen Respekt. Aber die Weiber — unmöglich. Meine<br/>Frau hat sie engagiert. Wir brauchten Ersatz für die<br/>Häslis. Gut. Aber jetzt ist es so weit, dass sie selbst<br/>schon verrückt wird.“<br/><br/>Und als Fräulein Laura erschrocken und sehr be-<br/>sorgt nach Worten suchte:<br/><br/>„Der ganze Kram ist mir über. Es gibt keine Ach-<br/>tung mehr, keinen Respekt in der Welt. Keine______“<br/><br/>„Grandezza/* wollte er 'sagen. Er suchte das Wort,<br/>fand es nicht und ersetzte es durch eine Geste.<br/><br/>„Nur Gemeinheit. Auch meine Frau: sie meint<br/>es ja gut. Aber vom Höheren versteht sie halt nichts.<br/>Die Weiber haben das an sich: sie sind gemein. Nie-<br/>derträchtig alle. Das ist es. Sie sind aus Prinzip gegen<br/>das.. das .. .**<br/><br/>Wieder blieb ihm das Wort aus.<br/><br/>„Sie sind aus Prinzip dagegen. Leer sind sie und<br/>dumm wie der Teufel. Alles ziehen sie in den Dreck.<br/><br/>— Sie hat mir den Zirkus ins Haus gebracht. Wer<br/>weiss, warum. Vielleicht nur, weil sie’s allein nicht<br/>schaffen konnte. Man kommt auf den Hund.**<br/><br/>Laura versuchte zu lächeln.<br/><br/>„Ach was! Depressionen!** rief sie und schwenkte<br/>den Lockenkopf. „Geht vorüber. Sowie der Besuch<br/>
167<br/><br/>sich hebt. Sowie der Erfolg einsetzt. Müssen es denn<br/>gerade die ,Indianer* sein ? Es gibt doch andere Num-<br/>mern!“<br/><br/>Aber Flametti schüttelte den Kopf.<br/><br/>„Unverstand von der Jenny. Ah, diese ganze schä-<br/>bige Wirklichkeit!-----Schad’, dass der Türke hoch-<br/><br/>ging. Es war eine Beruhigung, so einen Mann in der<br/>Welt zu wissen; solch eine Quantität von Opium,<br/>Kokain und HaSchich.“<br/><br/>Laura lächelte, gütig, bewundernd.<br/><br/>„Eine Freundin von mir, Russin, hat Kokain. Ich'<br/>werde ihr schreiben...“<br/><br/>Und eine zarte Sympathie entstand zwischen beiden,<br/>Anlass zu manchem Vertrauen.<br/><br/>Eines Tags aber sah man Flametti ganz besonders<br/>niedergeschlagen.<br/><br/>Eine Vorladung war gekommen, vom Bezirksan-<br/>walt. ,Missbrauch und Misshandlung von Dienstper-<br/>sonal, Verführung Minderjähriger*. Traute und Güssy<br/>hatten Anzeige erstattet.<br/><br/>„Was hast du gesagt?** bestürmte Jenny den Gat-<br/>ten, als er vom Untersuchungsrichter zurückkam.<br/><br/>„Was hab’ ich gesägt?** brummte Flametti, „das<br/>kannst du dir denken. Es kommt zum Prozess.**<br/>
Herr Leporello hiess mit Vornamen Emil.<br/><br/>Er war schlank, lang, geschmeidig. Zwei mächtige<br/>Eckzähne, blitzende Augen, ein heiserer Bass geben<br/>einen Begriff seiner Persönlichkeit. Besonderes Merk-<br/>mal: steifer, schleifender Gang der Zirkusleute, die<br/>sich bei einer verwegenen Piece einen Bruch geholt<br/>haben. Auch seine Weste war eine Weste, wie man<br/>sie nur beim Zirkus trägt: goldfarbig, Tapetenmuster<br/>mit allerhand Schnörkeln und Tressen.<br/><br/>Dieser Leporello Emil, Artist, geboren 17. März<br/>1883, bekam seine Kriegsbeorderung just an dem Tage,<br/>da seine Tante Geburtstag hatte.<br/><br/>„Emil!“ wehklagte Lydia, „ach, Emil! Die Beorde-<br/>rung!“<br/><br/>Ihr Schmerz kannte keine Grenzen. Und obzwar<br/>dieser Schmerz keineswegs affektiert war, stand er<br/>doch in einem so auffallenden Gegensatz zu Lydias<br/>früherem Benehmen, ihrem Hass, ihrer Verachtung,<br/>wovon man in Basel gelegentlich der nächtlichen Szene<br/>mit Herrn Schnepfes prämiertem Wolfshund ein Bei-<br/>spiel gesehen hat, dass es Lydia selbt zu Bewusstsein<br/>kam.<br/>
169<br/><br/>„Ach, ich weiss gar nicht,“ seufzte sie und die<br/>Hände fielen ihr in den Schoss, „ich möchte gar<br/>nichts mehr hören und sehen, seit ich weiss, dass mein<br/>Emil in den Krieg muss. Ach Emil, wie wird das<br/>enden!“<br/><br/>Aber Emil war guten Mutes.<br/><br/>„Ho ho!“ lachte er gedrückt, ohne die Eckzähne<br/>zu zeigen, „lass man jehen! Ick bin froh drum. Det<br/>Vaterland ruft. Da jibts keene Zicken.“<br/><br/>Und dann nahm er sein Handköfferchen eines Tags<br/>und hatte den Paletot an und den Regenschirm in<br/>der Hand und verabschiedete sich.<br/><br/>Lydias Augen hingen an ihm wie leere Sonnen-<br/>blumen im Herbst, auf die es geregnet hat.<br/><br/>„Ach, ihr lieben Leute! Mein guter, lieber Emil!<br/>Jetzt geht er dahin und wer weiss, ob er wieder-<br/>kommt.“<br/><br/>Und sie streckte sich auf den Zehenspitzen, um-<br/>armte und küsste ihn, und stellte immer wieder ihr<br/>eigenes Handtäschchen dabei auf den Boden; denn<br/>sie begleitete ihn bis zur Grenze.<br/><br/>Aber Emil war 'guten Mutes und sagte:<br/><br/>„Herrjott nochmal! Man meent ja, es jeht in die<br/>Ewigkeit!“<br/><br/>Er hoffte, draussen schon Kameraden zu finden.<br/>Es gab dort gewiss lustige Brüder genug. Tarock<br/>spielen würde man sicher auch dort. Als Froschmensch<br/>wird es ihm leichter fallen, sich in der Kriegsgymnastik<br/>zurechtzufinden. Und es gab Bilder in den »Illustrier-<br/>ten', aus denen hervorging, dass auch da draussen<br/>nicht immer nur die Granaten platzten.<br/><br/>Und so reiste er ab.<br/>
170<br/><br/>Man spielte jetzt wieder im ,Krokodil*. Basel war<br/>doch nicht das Richtige. Man war zur Fuchsweide<br/>zurückgekehrt. Warum auch nicht? Die Polizeibusse<br/>war bezahlt. In der Fuchsweide war man zu Hause.<br/>Und wo man zu Hause ist, da soll man sich nähren.<br/><br/>Freilich hatte sich hier in der Zwischenzeit vieles<br/>geändert. Es war nicht die alte Fuchsweide mehr.<br/>Ein neues Polizeiregiment war aufgekommen. Ein an-<br/>drer Inspektor. Es wehte ein schärferer Wind.<br/><br/>Die Annehmlichkeiten des ,Krokodilen* waren die<br/>alten. Das Klavier vorzüglich. Die Heizung brillant.<br/>Biermarken im Ueberfluss.<br/><br/>Aber die Polizei hatte heftige Lücken gerissen ins<br/>Publikum. Hin war der mondäne Glanz. Hin war<br/>die Freude. Verschwunden die Habitues. Verschwun-<br/>den der ,Totenkopf* und seine Schwester. Verschwun-<br/>den Fräulein Amalie. Verschwunden Herr Pips. Ver-<br/>schwunden der Herr Krematoriumfritze, der all sein<br/>Geld verjuckt und mit der Dame in Feldgrau ein von<br/>der Polizei nicht gern gesehenes Verhältnis auf Gegen-<br/>seitigkeit unterhalten hatte.<br/><br/>Dagegen gab es nun in der Fuchsweide ein ,Organ*:<br/><br/>,Die Zündschnur.<br/><br/>Organ gegen die Uebergriffe der<br/>Polizei und des Kapitalismus*,<br/>redigiert von Herrn Dr. Asfalg, einem ehemaligen<br/>Freund und Studiengenossen des derzeitigen Polizei-<br/>hauptmanns.<br/><br/>Herr Dr. Asfalg, ein Schwärmer und Utopist, liess<br/>sich die Interessen der Fuchsweidenbewohner sehr an-<br/>gelegen sein.<br/><br/>Als der neue Polizeihauptmann, Herr Adalbert<br/><br/>M»<br/>
171<br/><br/>Schümm, eines Tages höchst persönlich im ,Krokodil*<br/>erschien, um nach dem Rechten zu sehen, kam es zu<br/>ganz privaten Auseinandersetzungen und Ohrfeigen<br/>zwischen ihm und seinem ehemaligen Keilfuchs, und<br/>die Szene endete so, dass Herr Polizeihauptmann<br/>Schümm, der incognito da war, den Schauplatz mit<br/>Schimpf und Schande verlassen musste, weil ihn an-<br/>ders das schwere Geschütz des Dr. Asfalg, eine Gruppe<br/>Schlachthausgehilfen, in Grund und Boden geschlagen<br/>hätte.<br/><br/>Und wenn auch Herr Dr. Asfalg den Kampf in der<br/>Folge 'mehr ins ideelle Gebiet hinüberspielte, so waren<br/>doch solche erregte Läufte den Musen nicht günstig.<br/><br/>Herr Polizeihauptmann Schümm dekretierte:<br/><br/>„In allen Konzert- und Vergnügungslokalen der<br/>Fuchsweide untersage ich hiermit ab 1. Dezember die<br/>Schaustellung wilder Tiere, dressierter Löwen, Bären*<br/>Affen; Bärenringkampf, singende Schakale, sogenannte<br/>Meerweibchen etc. Dergleichen untersage ich die Ver-<br/>wendung von Schlagzeug, grosse Trommel, Pauke,<br/>Tschinelle, Schrummbass bis auf weiteres. Wer diesem<br/>Verbot zuwiderhandelt, wird mit Polizeibusse bestraft<br/>bis zu dreihundert Franken.**<br/><br/>Und Herr Dr. Asfalg erwiderte in der ,Zündschnur*:<br/><br/>„Wir kennen die wilden Tiere, Tiger, Füchse und<br/>Affen der Polizei. Es bedarf keiner Hinweise. Wir<br/>werden uns bemühen, sie um die Ecke zu bringen.<br/><br/>„Wir kennen auch den Schrummbass der Polizei.<br/>Es ist ein Instrument, das rasselt, wenn man es auf<br/>den Boden stösst. Wir werden dahin wirken,; dass<br/>auch dies Instrument verschwindet.<br/><br/>„Wir stellen uns auf den Boden der naktesten<br/>
172<br/><br/>Wirklichkeit. Wir werden in Unterhosen die National-<br/>hymne singen. Wir Iwerden in Schnurrbartbinden unSre<br/>Ensembles aufführen, statt uns Masken zu schminken.<br/>Wir werden uns Bäuche stopfen und Scheitel ziehen<br/>wie sie Herr Adalbert Schümm zur Schau trägt, und<br/>werden auf diese Weise hottentottischer wirken als,<br/>nach dem Urteil der Polizei, alle wilden Tiere und<br/>Pauken zusammengenommen.“ (,Zündschnur4, Num-<br/>mer 3, vom 18. Dezember).<br/><br/>Und ein andermal, (Nummer 4, Seite 3): „Man<br/>lasse dem Volk seine harmlosen Freuden. Wie sagt<br/>doch der Dichter: ,Freude, schöner Götterfunke, Toch-<br/>ter aus Elysium!4<br/><br/>„Jene aber, Verräter an der Notdurft der Mensch-<br/>heit, gehen darauf !aus, dem Leben seinen holden Schim-<br/>mer, seinen Flaum zu nehmen.<br/><br/>! gez. Dr. A.44<br/><br/>Und als eine neue Razzia stattfand, konnte man<br/>in der ,Zündschnur4, Nummer 6, Jahrgang I, die Sätze<br/>lesen:<br/><br/>„Freunde! Mitbürger! Genossen!<br/><br/>Hört! Euer Bestes, euer Gemüt ist verdächtig. Vor<br/>Gericht ist alles Gemüt verdächtig. Gemüt kennzeichnet<br/>unseren Henkern Menschen, die auf suspekten Wegen<br/>gelitten haben und zermürbt sind. Gemüt ist für sie<br/>Opposition und Verschwörung. Gemüt ist das Merk-<br/>mal von Menschen, die renitent sind, waren oder sein<br/>werden. Gemüt ist Eigendünkel und eine Gefahr für<br/>sie. Leute von Gemüt gehören in Untersuchungshaft.<br/>Man recherchiert mit Recht und Erfolg nach krimi-<br/>nellen Akten von ihnen. Legt euer Gemüt ab!“<br/><br/>k<br/>
173<br/><br/>Bei solchen Ergüssen war es erklärlich, dass das<br/>Geschäft litt, dass sich die Habitues verflogen.<br/><br/>Gerade der letztere Artikel wurde deshalb von<br/>direktorialer Seite sehr angefeindet. Sein ironischer<br/>Ton war leicht misszuverstehen. 1<br/><br/>,Legt euer Gemüt ab!*, das konnte auch heissen:<br/>Meidet die Vorstellungen! Gebt keine Gelegenheit,<br/>euch zu fassen!<br/><br/>Das musste dem Publikum Angst einjagen, es ab-<br/>halten, zu kommen.<br/><br/>Der Dr. Asfalg in seinem Fanatismus ging ent-<br/>schieden zu weit, begann der Sache zu schaden. Und<br/>erreichen, der Polizei gegenüber, konnte er doch nichts.<br/>Sie hatte die Macht. Sie hatte vom Staat die Befugnis,<br/>zu ,säubern*. Und wenn man Sauberkeit, Ordnung<br/>und Rechtlichkeit anerkannte, dann musste man auch<br/>die Polizei anerkennen.<br/><br/>Nur den vereinten rhetorischen Anstrengungen<br/>der Direktionen gelang es, den Besuch ein wenig<br/>zu heben.<br/><br/>Neben herausgebügelten Bauernweibern, die in der<br/>Stadt ihre Einkäufe besorgten, sass ein französischer<br/>Invalide, dem beim Aufstehen die Krücken fielen. Neben<br/>dem Seifensieder, den die Reklameaufsätze der Zünd-<br/>schnur* angelockt hatten, sass eine brotlose Köchin,<br/>voller Entschluss, unsittlich zu werden und sich im<br/>Variete den entscheidenden Stoss zu holen.<br/><br/>Dabei reklamierte Herr Schnepfe von Basel aus<br/>zwei turmhohe Rechnungen über gehabte Extraschnit-<br/>zel, Hähnchen, Schnecken der Damen Raffaela und<br/>Lydia, die unter Nichtbegleichung der Zeche Knall<br/>und Fall abgereist waren.<br/>
174<br/><br/>Man trat im ,Krokodil* jetzt auf in Jennys heuen<br/>Orangekostümen. Es war eine Sensation.<br/><br/>Jenny in diesem Matrosenkostüm sah aus wie Sup-<br/>penkasper auf Reisen. Rosas gemässigte Hammel-<br/>beine daneben standen mit durchgedrückten Waden<br/>wie gedrechselt aus einem Stück, ohne Gelenke und<br/>Knöchel. Die Spatzenbeine der Soubrette gaben der<br/>Linie der drei Chanteusen einen wenigstens in der<br/>Perspektive harmonischen Abschluss.<br/><br/>Interessanter wurde das Bild, wenn die drei Damen<br/>sich dann vom Profil her boten.<br/><br/>Mit einem gerissenen Haken schwenkte Herr Meyer<br/>auf dem Klavier:<br/><br/>,Da geh’n die Mädchen hin,<br/><br/>Da sitzt der Jüngling drin,<br/><br/>Da isfs, wohin sich alles zieht.*<br/><br/>Das rechte Bein der Damen hob sich dreifach.<br/>Die hinterste Hosennaht der Matrosenkostüme, prall<br/>ausgefüllt mit Unterwäsche, schwankte, zuckte, zackte.<br/><br/>Losmarschierten die drei, mit zum Publikum ge-<br/>neigten Köpfen und gewinnender Eleganz.<br/><br/>Aber es war kein Erfolg. Und das hatte weniger<br/>ästhetische als moralische Grüjide.<br/><br/>Es gelang den Damen Raffaela und Lydia nach<br/>Leporellos Einberufung nicht länger, ihr Renommee auf-<br/>rechtzuerhalten. Die Hochachtung schwand. Der Re-<br/>spekt der Apachenpartei erfuhr eine Ernüchterung. Man<br/>kam dahinter, dass die Vornehmheit der Zirkusartisten<br/>nur Getue gewesen war.<br/><br/>Es stellten sich allerhand ehrenrührige Fakta her-<br/>aus. In früheren Zirkusengagements sollen sie schür-<br/>zenvoll das Kleingeld weggeschleppt haben. Noch jetzt<br/>
175<br/><br/>fand man unten am See, wo die Zirkusse standen, bei<br/>eifrigem Suchen und zufälligen Gängen Kupfer- und<br/>Silbermünzen, die beim Wegschleppen der Gelder zu<br/>Boden gefallen waren.<br/><br/>Es stellte sich auch heraus, dass Lydia und Raffa-<br/>ela keineswegs Artisten von Kindesbeinen auf waren,<br/>Artisten, die gewissermassen schon an der Mutterbrust<br/>in Spargat ausbrachen. Im Gegenteil: Frau Scheid-<br/>eisen War Hebamme gewesen, eh* sie zum Zirkus ging<br/>und sich Donna Maria Josefa nannte. t<br/><br/>Raffaela und Lydia legten auch keineswegs Wert<br/>darauf, mühevoll Renommee und Distanz zu wahren.<br/><br/>Raffaela hatte die Hände voll Arbeit mit ihrem<br/>Kinde. Lydia ging auf in der Sehnsucht jiach dem<br/>entschwundenen Gatten.<br/><br/>„Ach, mein Emil! ach, mein Emil!“ jammerte sie<br/>und die Tränen standen ihr in den Augen.<br/><br/>Die Sehnsucht verstörte ihr kleines Gehirn. Die<br/>Augen flössen ihr aus.<br/><br/>„Ach, Emil! ach, Emil! wer hätte das denken kön-<br/>nen!“<br/><br/>Hinauf lief sie in ihr Zimmer und schleppte die<br/>Photographieständer herunter, während der Vorstel-<br/>lung, um sie den Gästen zu zeigen.<br/><br/>„So hat er ausgesehen. , Das ist er. Ach, mein<br/>guter Emil! Sie haben ihn sicher schon totgeschos-<br/>sen !“<br/><br/>Und wenn sie dann die Photographien ansah —<br/>da stand Emil Leporello, freundlich lächelnd mit Augen<br/>eines Dompteurs, den Arm in die Seite gestützt, die<br/>Beine übereinander geschlagen — und sich vergegen-<br/>wärtigte, wie er zerhackt und gevierteilt auf einer<br/><br/>
176<br/><br/>Rasenbank in Sibirien den Raben zum Frass überlassen<br/>dalag und nach ihr rief: ,Lydia, hierher, zu mir!*<br/>dann brach ihr das Herz. Herunter hing ihr der Unter-<br/>kiefer, herunter hingen ihr die Augenlider, die Arme.<br/>Ein kleiner Tropfen bildete sich an der spitzen Nase.<br/>Ausbradi sie in lautes Heulen und war untröstlich.<br/><br/>Umsonst versicherte man ihr, er sei gewiss noch<br/>in der Kaserne, und wer weiss, ob er jemals, wenn<br/>er doch nur seine Eckzähne habe und nicht gut beis-<br/>sen könne, hinauskomme in den Schützengraben.<br/><br/>Kein vernünftiges Wort verfing. Kein Scherzwort<br/>genügte ihr. Sie hatte genug von der Welt. Dem<br/>Hauptmann wollte sie schreiben, hinreisen zu ihm,<br/>sich niederwerfen vor ihm, sich ihm anbieten zu jeder<br/>Schmach, wenn er ihr nur ihren Emil wiedergebe.<br/><br/>Eine Deklassierung der Zirkusartisten fand statt,<br/>eine Nivellierung innerhalb des Ensembles.<br/><br/>Ja die Apachenpartei, die unter empfindsamen Re-<br/>gungen weniger litt, gewann langsam wieder die1 Ober-<br/>hand.<br/><br/>Monsieur Henry, der Ausbrecherkönig, beherrschte<br/>jetzt völlig die Rolle der Zeugin Emilie Schmidt. Und<br/>Herr Piener, der Schlangenmensch, unter dem über-<br/>ragenden Druck der Begabung Leporellos nicht länger<br/>leidend, arbeitete sich unter täglichen Trainagen und<br/>Fräulein Lauras geneigter Assistenz langsam wieder<br/>in den Vordergrund.<br/><br/>Einen wirklichen Knacks aber erlitt die moralische<br/>Situation des Ensembles, als man dahinterkam, Fla-<br/>metti habe einen Prozess, und als man erfuhr, um<br/>was für einen Prozess es sich handelte.<br/><br/>„Kinder!“ rief Raffaela, und ein Licht ging ihr auf,<br/>
177<br/><br/>„habt ihr gehört, was der Alte für einen Prozess hat?<br/>Verführung Minderjähriger, das Schwein. Soll man<br/>das glauben? Schabernackelt hat er mit der Güssy<br/>und mit der Traute!“ .<br/><br/>Sie setzte sich — es war im Zimmer des Pianisten<br/>und der Soubrette — und liess die Hand auf die<br/>Tischkante fallen.<br/><br/>„Das ist nichts Neues,“ meinte Bobby, der für<br/>Laura Zigaretten besorgt hatte und den fadenscheini-<br/>gen .Wollschal, der ihm von der Schulter gerutscht<br/>war, iiber die Schulter zurückwarf. „Schon in Bern<br/>hat er mit denen was gehabt, bevor sie noch zu uns<br/>kamen.“<br/><br/>„Ja, Kinder, das ist ja die Höhe!“ rief Raffaela<br/>in ihrer emphatischen Weise. „Die stecken ihn ja<br/>ins Zuchthaus! Was machen wir nur?“<br/><br/>„O jeh!“ winkte djie Soubrette ab und verkniff<br/>zynisch das linke Auge. Sie wusste noch ganz andere<br/>Dinge. Aber sie wollte nicht reden.<br/><br/>Auch Lydia kam jetzt ins Zimmer.<br/><br/>„Hm, so was!“ Sagte sie und nickte sorgenschwer.<br/>„Das ist doch ein Skandal! Der alte Esel!“<br/><br/>Man wohnte jetzt im ,Krokodil*. Lydia, Raffaela<br/>und Lottely, der Pianist und die Soubrette hatten je<br/>ein Zimmer im kleinen Hotel. Zu den Mahlzeiten<br/>ging man hinüber in Flamettis Wohnung.<br/><br/>Herr Meyer kam zurück von der Bibliothek. Er<br/>arbeitete noch immer an seinem Apachenstück.<br/><br/>„Vor allem eins,“ sagte er. „Ruhig Blut. Ich habe<br/>das lange kommen sehen. Schon in Basel. Es ist mir<br/>nichts Neues. Im schlimmsten Fall machen wir selbst<br/>ein Ensemble. Wir sind eins, zwei, drei, vier, fünf,<br/><br/>Flametti. 12<br/>
178<br/><br/>sechs Leute, die alle etwas können. Engel macht seine<br/>Ausbrechernummer. Bobby macht den Schlangenmen-<br/>schen. Sie beide tanzen. Ieh spiele Klavier. Es<br/>müsste doch mit idem Teufel zugehen, wenn wir keinen<br/>Erfolg hätten. Ausserdem habe ich ein Apachenstück<br/>geschrieben, glänzend. Das führen wir auf. Aber:<br/>Diskretion!“<br/><br/>Damit waren alle einverstanden. Leise sprach man,<br/>denn die Wände im ,Krokodil4 waren dünn wie Papier.<br/>Lattenverschläge waren die Zimmer, mit Tapeten be-<br/>zogen. Meterlange Risse klafften hinter den Betten.<br/>Und wenn ein Bekannter Flamettis, etwa der Haus-<br/>knecht, zufällig horchte, war man verkauft und ver-<br/>raten.<br/><br/>Nur Engel hatte Bedenken. Ihm war die Karriere<br/>verleidet.<br/><br/>„Nein, nein/4 sagte er traurig und am Ende mit<br/>seiner Kraft, „ich hab’s satt. Ich mache nicht mehr<br/>mit. Mich müsst ihr streichen.44<br/><br/>Und Isei es nun, dass er an Flametti nicht zum<br/>Verräter werden wollte, oder die Luft zu brenzlich<br/>fand, oder noch litt unter den Nachwehen der Proben<br/>zum ,Friedhofsdieb4: er lehnte ab, gab es auf, ver-<br/>zichtete auf seine Mitwirkung4.<br/><br/>Meyer war überrascht.<br/><br/>„Das ist unmöglich, Engel! Das tun Sie uns nicht<br/>an. Das geht nicht.44<br/><br/>Aber Engel zuckte die Achseln :<br/><br/>„Ich hab’ ja ein wenig Geld auf der Kasse. Ich<br/>brauche nur zu schreiben und fünfhundert Franken<br/>sind da. Ich kann mich beteiligen. Aber nein, nein.<br/>
179<br/><br/>Ich hat»’ keine Lust mehr. Ich nehme eine Vertretung<br/>an. Ich habe Beziehungen.“<br/><br/>Und er zog eine Geschäftskarte aus der Tasche.<br/>Darauf stand:<br/><br/>,Original* Ideal- Perplex- und Simplex-Mühlen<br/>Schrot- und Mahlmühlen<br/>für Zerkleinerungen jeder Art<br/>Plupper & Co. Vertretung“<br/><br/>und spuckte aus, die Zunge über den Zähnen, und ging<br/>mit vermiestem, völlig desillusioniertem Gesichtsaus-<br/>druck, die Beine schlenkernd, durchs Zimmer.<br/><br/>„Da ist nichts zu machen,“ bedauerte Meyer.<br/><br/>Er legte Engel die Hand auf die Schulter, sah<br/>ihm tief in die Augen und sagte:<br/><br/>„Na schön, Engel, dann nicht. Aber bleiben Sie<br/>uns gut Freund.“<br/><br/>„So weit es an mir liegt,“ versicherte der und<br/>reichte dem Meyer zitternd vor Ergriffenheit die Hand,<br/>„ein Mann, ein Wort.“<br/><br/>Flamettis Prozess war binnen kurzem stadtbekannt.<br/>Und wie es zu gehen pflegt, wenn eine solche Sache<br/>publik wird: man zog sich zurück von ihm, nahm<br/>Partei gegen ihn, fand ihn übertrieben naiv und reich-<br/>lich ungeschickt. Man verurteilte ihn. 1<br/><br/>Im ,Intelligenzblatt' erschien ein Brandartikel, ,Mo-<br/>derne Sklavenhalterei', worin Punkt für Punkt Fla-<br/>mettis unhaltbare Geschäfts- und Familienpraxis ans<br/>Licht gezerrt wurde.<br/><br/>,Ein Direktor, der zugestandenermassen nichts von<br/>Gesang versteht/ hiess es in jenem Artikel, dessen<br/>Verfasser keinen Anspruch erhob, als Autor genannt<br/>zu werden, ,ein Direktor, der zugegebenermassen nicht<br/><br/> <br/>
180<br/><br/>das leiseste Tonunterscheidungsvermögen besitzt, hält<br/>sich eine Anzahl Gesangseleven, denen er seine sau-<br/>beren Künste beibringt; Gesangseleven, die er zu-<br/>gleich als Dienstboten benutzt; die er zwingt, ihm<br/>zu Willen zu sein, und denen er doch als Entgelt<br/>nur Ischlechte Behandlung verabfolgt.<br/><br/>,Ein Morast sittlicher Verkommenheit enthüllt sich,<br/>wenn man die Schlupfwinkel dieser modernen Sklaven-<br/>halterei, diese Brutstätten des Elends aufsucht. In<br/>Kellern und Hinterhäusern hausen die Kondottieri<br/>der Lasterquartiere und Dirnenviertel. Ein Absteige-<br/>quartier dient als Schauplatz wilder Gelage, als Treff-<br/>und Versammlungspunkt, wo man die Beute verspielt.<br/>Mädchenhändler und Bauernfänger, Roues der hin-<br/>tersten Sorte geben sich hier ein Stelldichein. Und<br/>der Direktor preist seine Ware an. Wahrlich, es ist<br/>an der Zeit, dass die Polizei einschreitet und diese<br/>Schlupfwinkel säubert/<br/><br/>So stand es geschrieben und wenn auch Flamettis<br/>Name nicht genannt war, so wusste doch jeder^ dass<br/>der Artikel auf ihn ging.<br/><br/>Beim grossen Artistenfest in der ,Weissen Kuh‘<br/>reichte man sich den Artikel von Hand zu Hand,<br/>ein klebriges Heiligtum, mit verständnisinnigem Lä-<br/>cheln und unterdrücktem Gezwinker.<br/><br/>Da war besonders Herr Köppke, Baritonsolo und<br/>Offiziersdarsteller bei Ferrero, der laut Partei nahm<br/>für die beiden Mädel und die Moralität.<br/><br/>„Schweinerei von dem Menschen,“ erklärte Herr<br/>Köppke mit der Resonnanz eines Gemeindesängers,<br/>„Blamage für unseren ganzen Stand. Die Konzession<br/>werd' ich ihm entziehen lassen. Seinen Ausschluss<br/>
181<br/><br/>aus dem Klub werde ich beantragen. Das geht doch<br/>zu weit!“<br/><br/>Herr Köppke war Schriftführer der Artistenloge<br/>,Edelstein*, deren Logenbruder auch Flametti war.<br/><br/>„Haben Sie schon gelesen?** sagte Herr Köppke<br/>und Isteckte- Meyer das ,Intelligenzblatt* zu. „Lesen<br/>Sie mal!**<br/><br/>Und Herr Meyer las, und Herr Köppke begab sich<br/>unauffällig an seinen Platz zurück.<br/><br/>Eine Schlägerei fand statt zwischen Flametti und<br/>Herrn Köppke in der ,Rabenschmiede*, einige Tage<br/>später, dass zwei Tische und drei Stühle in Trümmer<br/>gingen, sowie zwei präparierte Hasenköpfe mit Glas-<br/>augen, die der Beizer der ,Rabenschmiede* aus seinem<br/>Privatbesitz zur Ausschmückung des Lokals herange-<br/>zogen hatte.<br/><br/>Das Renommee Flamettis ging flöten. Langsam, aber<br/>sicher.<br/><br/>Noch batte er viele Freunde, und seine treueste<br/>Helferin war Mutter Dudlinger, die ihm, stets lächelnd,<br/>im Hintergrund heimlich die Stange hielt.<br/><br/>Noch hatte Flametti das Kapital hinter sich.<br/><br/>Noch konnte er auftrumpfen, sich sehen lassen,<br/>wenn das Geschäft auch täglich schlechter ging.<br/><br/>Als aber in der Silvesternacht die Polizei vier Mann<br/>hoch in Mutter Dudlingers1 Wohnung eindrang, wobei<br/>Herr Engel mit knapper Not durch das Lokusfenster<br/>über die Dächer entkam, da schloss Mutter Dudlinger<br/>die offene Hand und versagte.<br/><br/>Lydia und Raffaela rebellierten jetzt ganz offen.<br/><br/>Geschäft und Auftreten wurden ihnen täglich mehr<br/>Nebensache. In der Garderobe Sassen sie herum, wenn<br/>
182<br/><br/>das Klingelzeichen längst gegeben war. Sie beeilten<br/>sich gar nicht sonderlich, sich zu schminken, noch<br/>legten sie Wert darauf, pünktlich zur Vorstellung zu<br/>erscheinen. Herr Meyer war gezwungen, von Tag<br/>zu Tag längere Zwischenstücke zu spielen. Andere<br/>Nummern mussten eingesdioben werden, weil Raffaela<br/>mit ihrer Frisur nicht fertig war für den Drahtseilakt,<br/>weil Lydia zum Cakeswalk erschien ohne das Zier-<br/>stöCkchen und ohne Knöpfe am Anzug, die ihr die<br/>Schwester in der Garderobe mutwillig abgetrennt<br/>hatte.<br/><br/>Sie aasten ganz offensichtlich, Flametti zum Trotz.<br/>Sie tanzten ihm auf der Nase.<br/><br/>Wenn Flametti mit einem Donnerwetter dreinfuhr<br/>und sich beklagte, nahmen sie wohl die Kassiermuschel<br/>und gingen sammeln. Dodi sie vergassen dann ganze<br/>Reihen zu kassieren, tauschten Spässe mit den Gästen<br/>und schienen auf alles andere eher bedacht als auf<br/>gute Kassierung.<br/><br/>Sie hatten Interesse nur noch für die Mahlzeiten,<br/>die Flametti ihnen zu bieten hatte.<br/><br/>Pünktlich um zehn Uhr früh erschienen sie zum<br/>Kaffee. Flametti und Jenny schliefen dann noch.<br/><br/>Sie drangen in die Küche, schoben die blöde Rosa<br/>beiseite und durchstöberten Kisten und Kasten nach<br/>Honig, Gelee und Butter. Was ihnen bei solcher Razzia<br/>in die Hände fiel, assen sie auf.<br/><br/>Die kleine Lottely hatten sie mitgebracht. Die<br/>stopften sie voll Brot, Kaffee und Gelee, dass der<br/>Mund des Kindes aussah wie ein Kleistertopf.<br/><br/>Pünktlich um zwölf Uhr stellten sie sich zum Mit-<br/>tagbrot ein; rasch, unverschämt und gefrässig.<br/>
183<br/><br/>Besonders Lydia übertraf alle Begriffe von Gier.<br/>Kaum erschien die Platte mit Fleisch oder Gemüse,<br/>so hatte sie schon die Gabel oder den Löffel zur<br/>Hand, und wer sich nicht seinerseits sehr beeilte,<br/>ging leer aus.<br/><br/>Sie assen systematisch, überzeugt, mit Absicht. Sie<br/>assen, als gelte es Vorrat zu essen ohne Rücksicht<br/>auf diesen geschwollnen Patron, der ihnen durch<br/>seinen ganzen Prozess, durch sein ganzes schuldbe-<br/>wusstes Benehmen die Ueberzeugung eingab, es komme<br/>nun nicht mehr drauf an, Rücksicht walten zu lassen.<br/><br/>Während des Mittagessens aber machte Lottely<br/>einen Finger gegen Flametti und drohte klug: „Du,<br/>du!“ schlug mit dem Suppenlöffel auf den Tisch, dass<br/>die Körner der Reissuppe spritzten; schnellte sich in<br/>unbewachten Momenten mit beiden schmutzigen Schuh-<br/>chen auf dem gebürsteten Plüschsofa, hopsend und<br/>krähend; warf die grosse steinerne Vase mit dem im-<br/>prägnierten Binsenstrauss um, hinter der Tür; heulte<br/>und quäkte.<br/><br/>Mutter und Tante assen ruhig weiter, in wetteifern-<br/>dem Tempo, Unbekümmert, Sachlich, eilig, wiq Harpyen,<br/>deren Geschäft es ist, möglichst viel Frass zu schlucken<br/>und zu verdauen.<br/><br/>Flametti versuchte die Lücken in seinem Ensemble<br/>auszufüllen und eine Geigerin kam ins Haus, eines<br/>Tags, um Probe zu spielen.<br/><br/>Leider: sie war nicht geschaffen fürs rauhe Leben.<br/>Von einer gottergebenen Friedlichkeit war sie und<br/>Naivität. Hatte bis dato ihr Brot verdient durch<br/>Aufspielen von Kinderstücken in den Kneipen und<br/>Spelunken der Fuchsweide.<br/>
184<br/><br/>Erst war sie mit dem Zitherkasten gegangen, all-<br/>abendlieh. Dann hatte sie das Violinspielen gelernt.<br/><br/>Bleichsüchtig und hager, von einer rührenden Gott-<br/>seligkeit war sie. Sie säen nicht, sie ernten nicht,<br/>und doch ernähret sie der Herr.<br/><br/>Manch einer hatte sie mitgenommen aus Mitleid<br/>und ihr ein warmes Nachtlager gegeben, wenn sie noch<br/>spät hach der Polizeistunde auf der Strasse irrte.<br/><br/>Engbrüstig und schmal war sie von Gestalt, ein<br/>Lehrerinnentyp.<br/><br/>Einen Kneifer trug sie und strich mit dem Fiedel-<br/>bogen so ausdruckslos freundlich und doch akkurat<br/>und energisch ihr Instrument, dass man ihr wirklich<br/>nicht böse sein konnte.<br/><br/>„Soll ich mal was spielen?“ fragte sie harmlos.<br/><br/>„Ja, fiedel mal los!“ sagte Raffaela.<br/><br/>Aber die Geigen-Marie genierte sich.<br/><br/>„Draussen in der Küche,“ sagte sie forsch.<br/><br/>Und sie ging hinaus in die Küche, öffnete den<br/>Schalter, damit man auch drinnen etwas hören könne,<br/>und dann spielte sie los. ,Stille Nacht, heilige Nacht*,<br/>oder ,Behüt’ dich Gott, es wär’ so schön gewesen*,<br/>oder ,Die Rasenbank am Elterngrab*.<br/><br/>Kam dann wieder herein und lächelte jeden einzeln<br/>der Reihe hach an, als wolle sie fragen:<br/><br/>„Na, wie war’s? Schön, nicht wahr?**<br/><br/>Aber Lydia meinte:<br/><br/>„Komm’ mal her! Was hast du denn da für ein<br/>Fähnchen?** und zog ihr ein kleines Metallfähnchen<br/>aus dem Brustlatz.<br/><br/>Lydia war neugierig wie ein Tier; beschnupperte<br/>sie, federte sie ab.<br/>
185<br/><br/>Den Brustlatz knöpften sie ihr auf. Ihre Strumpf-<br/>bänder sahen sie nach, den Stoff ihrer blauen Glocken-<br/>hosen rieben sie zwischen den Fingern.<br/><br/>„Ja,“ meinte Raffaela bedenklich, „wenn du zu<br/>uns ins Ensemble willst, da musst du vor allem ge-<br/>rate Beine haben und einen schönen Körper. Zeig’<br/>mal her!“<br/><br/>Und die Geigerin, immer freundlich lächelnd, ein<br/>Sonntagskind, zog sich aus und zeigte ihre Beine.<br/><br/>Raffaela krähte vor Vergnügen.<br/><br/>„Ja, das ist ganz gut,“ sagte sie, „bisschen mager,<br/>aber es geht schon. • Kannst du auch tanzen ?“<br/><br/>Nein, tanzen konnte feie nicht.<br/><br/>„Musst du noch lernen. Eine Tänzerin brauchen<br/>wir. Fiedeln kannst du nebenbei.“<br/><br/>Marie war argwöhnisch geworden.<br/><br/>„Ihr macht Spass mit mir!“ sagte sie ein wenig<br/>rauh und erkältet.<br/><br/>„Nein, nein,“ versicherte Raffaela, „das ist bei uns<br/>anders als bei der Heilsarmee. Bei uns gibt es Kava-<br/>liere, Lebewelf. Da muss man herzeigen, was man<br/>zu bieten hat.“<br/><br/>Flametti fühlte sehr wohl, dass die Frivolität dieser<br/>Szene nur gegen ihn gerichtet war; dass man sich<br/>lustig machte.<br/><br/>Auf dem Sofa sass er, dunkel vor Wut und Scham,<br/>und biss sich die Lippen.<br/><br/>„Zieh* dich an!“ sagte er zu der Geigerin. „Du<br/>spielst sehr gut. Mancher wär froh, wenn er so<br/>spielen könnte. Kannst heut’ abend in die Vorstellung<br/>kommen und dir mal ansehen, was wir machen. Wenn<br/>
186<br/><br/>du Lust hast, fkannst du den Herrn Meyer begleiten zum<br/>Klavier.“<br/><br/>„Das ist wohl zu schwer,“ meinte Marie.<br/><br/>„Ja, dann ist nichts zu machen,“ bedauerte Flametti,<br/>„dann kann ich nicht helfen.“<br/><br/>„Tut nichts,“ lächelte die Geigerin, „dann geh’ ich<br/>wieder in die Wirtschaften und spiel’ auf.“<br/><br/>Und sie paCkte sorgfältig ihre Geige ein.<br/><br/>Einige Tage später, als Flametti die Gagen aus-<br/>zahlen wollte, entdeckte er zu seinem Schreck, dass<br/>Quittungen über ä conti, die er an Raffaela, Lydia<br/>und Bobby ausgezahlt zu haben genau sich erinnerte,<br/>aus seinem Quittungsblock verschwunden waren.<br/><br/>Herausgerissen waren drei Formulare mit einer<br/>Dreistigkeit und Gewalt, dass an der Perforiernaht<br/>die Fetzen hoch hingen.<br/><br/>„Das ist doch die Höhe!“ rief .Jenny, ganz in<br/>Raffaelas Weise, „das ist doch die Höhe! Max, du<br/>zahlst ihnen nichts aus, bis sie die Quittungen wieder<br/>beigeschafft haben. Du zeigst sie an. Das ist Ein«<br/>bruch. Sie haben die Tischschublade aufgebrochen.<br/>Sie wollen den Verdacht auf den kleinen Bobby lenken.<br/>Sie haben einen Dietrich gehabt. Das sind Verbrecher.<br/>Das lässt du dir nicht bieten!“<br/><br/>Aber Flametti lächelte, bitter und verlegen: „Wer<br/>ka'nn’s ihnen beweisen ? Die Quittungen sind fort.<br/>Ein Esstisch ist kein Kassenschrank. Vielleicht hatte<br/>ich nicht abgeschlossen. Vielleicht hab’ ich selbst die<br/>Blätter in der Aufregung herausgerissen. Lass nur!<br/>Die paar Franken tun’s auch nicht!“<br/><br/>Und er zahlte die vollen Beträge aus.<br/><br/>Am Abend aber, in der Garderobe, als er sich<br/>
187<br/><br/>Maske schminkte und mit der Soubrette allein war,<br/>drängte es ihn doch, sich auszusprechen.<br/><br/>„Wissen Sie, Laura, es liegt mir ja nichts an den<br/>paar Franken. Aber das hätte ich doch nicht geglaubt<br/>von den Weibern.“<br/><br/>Fräulein Laura säss vor dem langen Schminktisch,<br/>auf dem die Schminkschatullen der Damen standen<br/>und tupfte sich mit der Puderquaste die Nase.<br/><br/>Flametti, stehend, Laura den Rücken zugekehrt, zog<br/>sich, ein wenig unbeholfen, Indianerfalten zwischen<br/>Nasenflügel und Oberlippe.<br/><br/>Von unten hörte man Herrn Meyer das Zwischen-<br/>stück, den Missouri-Step, spielen.<br/><br/>Flametti kam auf seinen Prozess zu sprechen.<br/><br/>„Wissen Sie,“ meinte er seitwärts durch die ge-<br/>lüpfte Oberlippe, „das ist ja ganz anders, als die alle<br/>glauben. Das weiss ja meine Alte selbst nicht.“<br/><br/>Fräulein Laura malte sich mit dem Augenstift ja-<br/>panische Monde.<br/><br/>„Mit der Traute, das stimmt. Aber mit der Güssy<br/>— schon in Bern — das war ein Gewaltsakt. Wenn<br/>man dahinterkommt, geht’s mir nicht gut.“<br/><br/>Für feinen Moment verstummte unten im Saal Herrn<br/>Meyers Missouri-Step.<br/><br/>Laura sprang auf und horchte über das Treppen-<br/>geländer hinunter.<br/><br/>„Haben noch Zeit!“ meinte Flametti.<br/><br/>Und Herr Meyer legte auch sofort mit der Wieder-<br/>holung los.<br/><br/>«Fräulein Laura eilte zurück zur Schminkschatulle.<br/><br/>Flametti warf seinen Häuptlingsrock über den Kopf.<br/><br/>„Jenny versucht ja alles. Sie schafft Geld und sie<br/>
^--<br/><br/>188<br/><br/>hat sich ihre Aussage so zurechtgelegt, dass man den<br/>beiden nicht glauben wird... Wenn der Schwindel<br/>glückt____!“<br/><br/>Er selbst schien nur halb dran zu glauben. Trotz-<br/>dem konnte er sich nicht verkneifen, ein wenig zu<br/>renommieren. Im Indianerkostüm ging's wohl nicht<br/>anders.<br/><br/>„Man kennt mich zu gut! Weiss, dass ich ein Ge-<br/>waltsmensch bin; wen man vor sich hat, und dass<br/>es nicht so glatt abgeht, wenn man mir an den Kragen<br/>will!“<br/><br/>Er stellte sich, in Unterhosen, den Speer zurecht.<br/><br/>„Achtzehn war ich alt, — in Bern, mit ein paar<br/>Kollegen —, einen ganzen Schlag haben wir in die<br/>Aare geschaufelt bei Nachtzeit, das Fundament weg-<br/>gegraben. Die ganze Bescherung mitsamt den Weibern<br/>fiel Sn die Aare...“ T<br/><br/>Er Sah sich vorsichtig um, ob es auch keinen Zeu-<br/>gen gäbe, und lachte belustigt.<br/><br/>„Das war ein Gezeter! Das hätten Sie hören<br/>Sollen!“<br/><br/>Schlüpfte in die Fransenhosen und schlenkerte<br/>das Bein.<br/><br/>Die Soubrette wandte aufhorchend den Kopf. Als<br/>die Erzählung aber nicht weiter ging, komplizenhaft<br/>und verkniffen: i<br/><br/>„Diese Mädel, natürlich! Unschuldig sind die auch<br/>nicht!“<br/><br/>„Ob die unschuldig sind!“ blies Flameiti durch die<br/>Nüstern und langte sich den Kitt für die Nase. * Ich<br/>soll die Weiber nicht kennen! Mir muss man’s sagen!“<br/><br/>„Na also!“ meinte die Soubrette und beeilte sich,<br/>
189<br/><br/>fertig zu werden. „Wenn sich ein Mann in den besten<br/>Jahren «in Mädel greift...“<br/><br/>Und ordnete ihre Turnüre.<br/><br/>Drunten im Lokal wiederholte Herr Meyer zum<br/>zweiten Male den Mittelsatz des Missouri-Step.<br/><br/>Flametti setzte den Kopfputz auf, strich sich mit<br/>beiden Händen über den Perrückenansatz.<br/><br/>„Das ist es ja nicht!“ zwinkerte er, „sie hat ge-<br/>schrien. Sie hat sich gewehrt. Und gerade das hat<br/>mich gereizt, verstehen Sie?“<br/><br/>Er drückte sich den Indianerkitt auf die Nasen-<br/>kante. |<br/><br/>Die Soubrette verstand. Und nickte bedenklich.<br/><br/>„Haben Sie einen Anwalt?“<br/><br/>„Selbstverständlich!“ lächelte Flametti in aller<br/>Seelenruhe aus der Kniebeuge; er musste sich bücken,<br/>um in den Spiegel sehen zu können.<br/><br/>„Na also!“ griff die Soubrette rasch noch einmal<br/>zum Spiegel, „was kann da geschehen?“<br/><br/>Von unten ertönte das Klingelzeichen.<br/><br/>Die ,Indianer4 zogen nicht mehr. Das Publikum<br/>war wie verändert. Was ihm früher als ein Exzess<br/>von Libertinage erschienen war, hielt es jetzt für<br/>Zynismus.<br/><br/>Wie doch? Dieser Flametti, der allen Grund hatte,<br/>sich zu ducken, der solche Sachen auf dem Kerbholz<br/>hatte, setzte sich über die einfachsten Anstandsregeln<br/>hinweg? Spielte die ,Indianer4 und machte sich lustig?<br/>Was für eine sittliche Verrohung in dem Menschen!<br/>Was für eine unerhörte Missachtung der Rücksichten<br/>auf die Gesellschaft! Soviel Taktgefühl musste man<br/>haben, einzusehen, dass die Aufführung dieser ,In-<br/>
190<br/><br/>dianer* unter sotanen Umständen kompromittabel war<br/>für die ganze moralische Tradition der Fuchsweide!<br/>Nein, nein, das ist Freibeuterei, das ist Lästerung. So<br/>sind wir nicht. Da tun wir nicht mit. Man verschone<br/>uns!<br/><br/>Flametti fühlte wohl, dass man sich zurückzog von<br/>ihm, dass er umsonst sein Talent ausspielte. Es ver-<br/>fing nicht mehr. Die russischen Freunde Fräulein Lau-<br/>ras waren die einzigen Gäste, die noch immer klatsch-<br/>ten, wenn er mit Augen, blutunterlaufen vor ästhe-<br/>tischer Anstrengung, auf der Bühne lächelnd seine<br/>Feuer- und Fakirnummer absolvierte; die ihn einluden,<br/>Platz zu nehmen, wenn die Nummer vorbei war und<br/>er, an ihrem Tisch stehend, mit souverän-salopper In-<br/>differenz von seinem speckigen Gehrockkragen die<br/>verirrten Spritzer des Petroleums wischte, das er in<br/>langen, brausenden Flammen, jeinem Höllenfürsten ver-<br/>gleichbar, lausgespuckt hatte.<br/><br/>Seine Feuernummer liebte Flametti abgöttisch. Ein<br/>Pyromante und Sadist war er von Natur. Und wenn<br/>er, ein wenig angetrunken, oder berauscht von Opium,<br/>darauf verzichtete, das Petroleum, das ihm vom Mund<br/>tropfte, abzuwischen, dann schimmerten seine wulsti-<br/>gen Lippen in jenem bläulichen Fäulnisschein, der ge-<br/>mischt mit Trauer und Melancholie, jenen Sendboten<br/>der Hölle eignet, die in Wahrheit Zeloten des Edel-<br/>sinns und Verdammte der himmlischen Bourgeoisie sind.<br/><br/>Der Polizeihauptmann Schümm schickte seine Kom-<br/>missäre immer häufiger um Auskünfte, Recherchen<br/>und Feststellungen.<br/><br/>Flametti, an unbehelligte Freiheit gewöhnt, riss die<br/>Geduld.<br/><br/>
191<br/><br/>Er empfand die Besuche als Verletzungen seines<br/>Hausrechts, Eingriffe in seine Familienehre. Das Miss-<br/>trauen der Polizei kränkte ihn.<br/><br/>„Sie kujonieren mich! Sie kuranzen mich!“ schrie<br/>er im Jähzorn. „Ich schlage sie tot, diese Hunde!<br/>Das ist mir zu viel!“<br/><br/>Und er beschloss, ihnen aufzulauern, im Hausflur,<br/>und den ersten besten, der seine Schwelle übertreten<br/>würde, zu erschlagen.<br/><br/>Mit einem kopfgrossen Pflasterstein bewaffnete<br/>sich Flametti, um dem ersten besten, der sich blicken<br/>Hesse, den Schädel zu zertrümmern.<br/><br/>Und als man ihm sagte: „Flametti, die Polizei<br/>kommt!“ eilte er in die Küche, trotz Jennys Geschrei,<br/>packte den Stein und lief die Treppe hinunter.<br/><br/>Jenny stand oben am Treppengeländer, entsetzt,<br/>einer Ohnmacht nahe, und hielt sich mit beiden Händen<br/>die Ohren zu. Mutter Dudlinger schnaubte und bebte.<br/><br/>Aber es war nur ein Gast Mutter Dudlingers, den<br/>Flametti, am Kragen gepackt, in den Hausflur schleppte.<br/>Ein Missverständnis, ein Irrtum. Die Verwechslung<br/>klärte sich auf.<br/><br/>Mutter Dudlinger stand lächelnd, mit brennender<br/>Kerze. Jenny atmete auf: „Ach, Max,hast du mir einen<br/>Schreck eingejagt!“<br/><br/>Mutter Dudlinger spendierte zwei Flaschen Asti<br/>und man sass oben in Flamettis Stube, zu vieren,<br/>und feierte Bruderschaft.<br/><br/>Ein alter, eidgenössischer Burschenschaftler war je-<br/>ner Gast, gemütlich, breit, keine Spur von Spitzel oder<br/>Detektiv; das Gegenteil davon: ein weinseliger Ze-<br/>cher mit Riesenbizeps und Goliathstirn.<br/><br/> <br/>
192<br/><br/>Auf streifte er seinen Hemdärmel, ballte die Faust,<br/>eine Seele von Mensch, und liess den Muskel schwellen.<br/><br/>Flametti tat das gleiche. So sass man sich gegen-<br/>über auf dem Kanapee und sah sich voll trunkener<br/>Sympathie tief in die Augen. \ \<br/><br/>Anstiess jener, dass der Wein überschwappte und<br/>rief mit völkischer Urwüchsigkeit:<br/><br/>„Prosit Flametti!“<br/><br/>Mutter Dudlinger aber, die ihn liebte in ihrer Seele,<br/>setzte sich auf seinen Schoss, brünstigen Gemütes,<br/>und umhalste ihn. Und ihr Speck hing über seine<br/>breiten Schenkel in vollen Schwaden.<br/><br/>,Wer nicht liebt Wein, Weib, Gesang,<br/><br/>Der bleibt ein Tropf sein Leben lang/<br/><br/>Jenny war keineswegs gewillt, die Dinge gehen<br/>zu lassen, wie sie gingen.<br/><br/>Sie beschloss, strengere Saiten aufzuziehen dem En-<br/>semble gegenüber und auch zu Hause; Contenance zu<br/>bewahren. Ihre Massnahmen richteten sich zunächst<br/>gegen Fräulein Theres.<br/><br/>Fräulein Theres mit ihren gichtbrüchigen Händen<br/>und erfrorenen Füssen litt unter der Kälte furchtbar.<br/><br/>Schon als die Herrschaft in Basel war, sass Fräulein<br/>Theres in stillen Stunden weinend in der leeren Woh-<br/>nung, für deren Heizung man ihr kein Geld schickte,<br/>und “gedachte trauernd der Maienzeiten, da sie mit<br/>Lödkchen und Stöckelschuhen noch ging auf der Neu-<br/>hauserstrasse zu München und selig verliebte Blicke<br/>den jungen Herren zuwarf.<br/><br/>Vierzig Jahre waren seither mit grauen Schleppen<br/>ins Land gegangen. Fräulein Theresens Gesicht war<br/>lang geworden, ihre Nase spitz, ihre Augen grell. Die<br/>
193<br/><br/>Jahre, die so himmelblau und sommerlich begonnen,<br/>hatten sich verschwärzt.<br/><br/>Ein verschwärztes Mädchen, sass Fräulein Theres<br/>in der verlassenen Stube, wenn ihre Herrschaft zum<br/>Konzert gegangen war.<br/><br/>Eine Halbe Bier stand vor ihr auf dem Tisch und<br/>Fräulein Theres rauchte Stumpen, den Arm auf den<br/>Tisch gestützt, die müden Glieder nur mit Seufzen<br/>hebend, wenn das Gas heruntergebrannt war und man<br/>ein neues Zwanzigcentimes-Stück in den Automaten<br/>werfen musste.<br/><br/>Alle vierzig grauen Schleppen der vergangenen vier-<br/>zig grauen Jahre schleppte Fräulein Theres mit in<br/>ihren Röcken. Und jetzt gönnte man ihr sogar das<br/>Bier nicht mehr und die Stumpen. i<br/><br/>Eine Erbitterung überkam Fräulein Theres und sie<br/>beschloss, selbst wenn sie täglich ,geschumpfen‘ würde,<br/>ihren Gliedern eine strengere Leistung nicht mehr zu-<br/>zumuten.<br/><br/>Was konnte geschehen? Mochte man sie weg-<br/>schicken! Irgendeine Lebensfreude muss der Mensch<br/>haben. Die Zigaretten ihrer Jugend hatte sie sich<br/>abgewöhnt. Auf die Stumpen ihres Alters würde sie<br/>nicht verzichten. Nie und nimmer. Zuletzt blieb im-<br/>mer noch eine Freistelle im Spital oder in einem Sie-<br/>chenheim. Sie verdiente das. Sie hatte sich redlich<br/>geschunden.<br/><br/>Und wenn Jenny ihr dann vorhielt:<br/><br/>„Theres, wir müssen früher aufstehen! Theres,<br/>ich kann keine Bierschulden mehr für sie zahlen!“,<br/>dann gab Fräulein Theres gleichgiltig brummend<br/>und grob zur Antwort:<br/><br/>Flametti. 13<br/>
m<br/><br/>„Ja, dann müssen wir Kohlen haben, damit ich<br/>einheizen kann! Ja, dann kann ich's nicht mehr schaf-<br/>fen, ich bin krank!“ und die roten Tränen rannen ihr<br/>über das alte, lange Gesicht.<br/><br/>„Max,“ sagte Jenny, „das geht so nicht mehr. Die<br/>Haushaltung verschlampt mir.“ t<br/><br/>Der Prozess war Jennys geringste Sorge. Das<br/>würde sich schon arrangieren lassen. Sie war der be-<br/>gründeten Meinung, dass in der Fuchsweide viel ärgere<br/>Sünder ungeschoren ihr Wesen trieben.<br/><br/>„Mach’ dir keine Sorge!“ sagte sie zu Max, „der<br/>Ferrero hat ganz andere Sachen hinter sich. Und der<br/>Pfäffer — was der für eine Wirtschaft hatte! Ich<br/>weiss doch! Ich war doch Soubrette bei ihm! Die<br/>reine Haremsagentur nach Konstantinopel. Das sind<br/>ja Falschspieler alle durch die Bank! Seine Lehrmädels<br/>müssen mit den Metzgerburschen anbändeln, damit<br/>er das Fleisch gratis hat. Das sag’ ich dir: wenn wir<br/>reinfallen: die ganze Fuchsweide lasse ich hochgehen!“<br/><br/>Behaupten musste man sich, Respekt und Vertrauen<br/>einflössen. Zu Hause und im Ensemble. Dann würde<br/>man vor Gericht schon sehen!<br/><br/>Und Jenny legte sich einen Bluff zurecht, der zu-<br/>nächst das Vertrauen der Zirkusartisten wieder gewin-<br/>nen sollte, und der auch seine Wirkung nicht verfehlte.<br/><br/>„Kinder!“ verkündigte sie eines Tags in der Garde-<br/>robe, „nächstens gibt’s eine Gans! Mein Alter spendiert<br/>eine Gans!“ '<br/><br/>Das wirkte wie eine Brandbombe.<br/><br/>„Eine Gans?“ fuhren Lydia und Raffaela zugleich<br/>
195<br/><br/>auf ihren Stühlen herum, als hätten sie nicht recht<br/>gehört.<br/><br/>„Ja, eine Gans!“ versetzte Jenny mit Zier und<br/>äusserster Delikatesse, „eine Gans!“ und sie unter-<br/>strich den in Aussicht stehenden Braten, indem sie mit<br/>beiden emporgehobenen Händen durch Zusammenrün-<br/>den von Daumen und Zeigefinger Engelsflügel in der<br/>Luft bildete. „Piekfeine Sache! Oh, das Gänsefett! Das<br/>Kastanienfüllsel! Oh, die knusprigen Schlegel, und die<br/>Brust und die Gänseleberpastete!“<br/><br/>Jenny wusste die Vorzüge der vorläufig noch in<br/>ihrem Heimatsort weidenden Gans so jesuitisch ins<br/>Licht zu setzen, dass Lydia, die gerade die tränenbe-<br/>netzte Photographie ihres Emil am rechten Schenkel<br/>der übereinander geschlagenen Beine abgewischt hatte,<br/>den Arm sinken liess und träumerisch verzückt an<br/>Jennys Augen hing.<br/><br/>„Nein, Jenny, sag’ wirklich, gibt’s eine Gans?“<br/>„Werdet schon sehen!“ tat Jenny geheimnisvoll.<br/>Da konnte man denn so recht sehen, wie solche<br/>Bravourstücke einer auf’s Ganze gerichteten Erfin-<br/>dungsgabe niemals ihre gute Wirkung verfehlen.<br/><br/>Gebändigt waren Lydia und Raffaela mit einem<br/>Schlage. Um den Finger konnte man sie wickeln.<br/>Pünktlich wurden sie wie Normaluhren. Zahm wie<br/>Tauben. \<br/><br/>Ja, der Ruf von Flamettis Solvenz verbreitete sich<br/>im Handumdrehn.<br/><br/>„Wie sind Sie eigentlich zufrieden mit Ihrem En-<br/>gagement?“ : ,<br/><br/>„Oh, danke, sehr gut! Verpflegung vorzüglich. Alle<br/>drei Tage Geflügel. Das Geschäft geht famos. Heute<br/>
196<br/><br/>ausnahmsweise schlechtes Haus. Aber sonst: glän-<br/>zend !“<br/><br/>So und ähnlich sprach man im ,Krokodil' und in<br/>der Umgebung des Künstlertischs.<br/><br/>Ja, Donna Maria Josefa, alias Frau Scheideisen,<br/>und |Herr Farolyi erfuhren von der Gans.<br/><br/>„Na, steht's doch nicht schlecht mit dem armen<br/>Flametti!“ meinte Herr Farolyi, „wenn er sich noch<br/>Geflügel leisten kann. Kinder, der hat gewiss Geld<br/>auf der Kasse. War ja ein Bombengeschäft damals,<br/>die ,Indianer'!“<br/><br/>Und eines Tags kam sie denn auch wirklich, die<br/>Gans; aus Rapperswyl. Weiss, ohne Kopf, Klauen<br/>und Federn, lag sie auf einer Schüssel.<br/><br/>„Sehen Sie mal, Laura: schöne Gans, was? —<br/>Aber die kriegen nichts davon,'' deutete Jenny gegen<br/>die Treppe, über die Lydia und Raffaela kommen muss-<br/>ten. „Die sollen sich mal trompieren!"<br/><br/>Und die schöne Gans, die fette Gans, die Riesen-<br/>gans wurde gebraten und lag nun hübsch gebräunt<br/>und knusperig, förmlich zerblätternd vor Knusprigkeit,<br/>auf derselben Schüssel, verschlossen im Büfett.<br/><br/>„Laura,“ sagte Jenny abermals, „glauben Sie, die<br/>kriegen etwas davon? Und zeigte wiederum zur<br/>Treppe. „Nicht das Schwarze unterm Nagel! Geben<br/>Sie acht, was die für Gesichter machen werden! Das<br/>wird ein Fez! Jawohl: Gans! Husten werd’ ich<br/>ihnen was!“<br/><br/>Als aber Raffaela und Lydia kamen, öffnete Jenny<br/>idas Büfett wie man das Triptychon eines Altars<br/>öffnet. i<br/>
197<br/><br/>„Seht her,“ sagte sie, „die herrliche Gans!“ Und<br/>sie nahm die Schüssel aus dem Schrank und hob sie<br/>hoch, wie Salome die Schüssel mit dem Haupt des<br/>Jochanaan hochhob, und Raffaela schrie auf:<br/><br/>„Aehhh, die Gans!“<br/><br/>Fanatisiert und rabiat warf sie die beiden Arme<br/>hoch, auf die Schüssel zustürzend und sie umtanzend.<br/><br/>Lydia aber überkam es wie Verklärung. In den<br/>nächsten besten Stuhl sank sie.<br/><br/>„Die schöne Gans!“ hauchte sie, ganz versunken<br/>und verträumt, mit gefalteten Händen und gotterge-<br/>benen Augen. „Wann wird sie gegessen?“ Und ihr<br/>Unterkiefer bebberte gierig und erregt, wie einer Katze<br/>das Maul zittert, wenn sie den Kanarienvogel sieht.<br/><br/>Jenny weidete sich an der Qual ihrer Opfer.<br/><br/>Mit der einen freien Hand hielt sie sich Raffaela<br/>vom Leib, die alle Anstalten machte, in den Besitz<br/>der Gans zu kommen.<br/><br/>„Wann wird sie ^gegessen? Wann wird sie verzehrt?<br/>Wann wird sie verspeist?“ rief nun auch Raffaela.<br/><br/>Lydia sass noch immer mit funkelnd hingegebenen<br/>Augen. i<br/><br/>Und Jenny, amüsiert, grausam, pervers:<br/><br/>„Vielleicht morgen. Vielleicht übermorgen. Viel-<br/>leicht schon heute nacht. Je nachdem!“<br/><br/>„Wieso heute nacht?“ dehnte Raffaela betroffen.<br/><br/>„Nun,“ sagte Jenny, ganz grande dame, „vielleicht<br/>kommen ein paar Freunde von mir und meinem Mann,<br/>und wir feiern einen kleinen Abschied.“<br/><br/>„Aehhh!“ rief Raffaela, „wir kommen auch! Wir<br/>kommen auch!“ *<br/><br/>Aber Lydia warlschon wieder sentimental geworden.<br/>
198<br/><br/>Emils gedachte sie beim Anblick der Gans, dieses<br/>Wahrzeichens von Kultur und Wohlstand, dieses In-<br/>begriffs aller heimischen Geborgenheit und ehelichen<br/>Einfalt. Ihres fernen Emils gedachte sie und glück-<br/>licherer, vergangener Zeiten. Salzige Tränen rannen ihr<br/>über die schlaff geweinten Wangen...<br/><br/>Gelang es Jenny auf diese Weise, den am Verfall<br/>sich mästenden Zynismus der beiden Scheideisen zu<br/>knebeln, so sah sie doch ein, dass damit nur die Hälfte<br/>der Arbeit geleistet war.<br/><br/>Gefährlicher drohten die stilleren Elemente des En-<br/>sembles: Herr Meyer, dieser Idealist, dem es nicht<br/>passte, dass Flamettis Flagge auf Halbmast wehte;<br/>der 'sich ganz persönlich betroffen fühlte von Flamettis<br/>Fehltritt und seinem Verzicht auf ein erstklassiges Re-<br/>nomme.<br/><br/>Fräulein Laura, die gewiss an dem Meyer schürte,<br/>weil es sie juckte, selbst die Direktorin zu spielen,<br/>an der Kasse zu sitzen und das Geld einzuheimsen,<br/>statt mit der Kassiermuschel durch das Lokal zu tippeln.<br/><br/>Jenny entging nicht die heimliche Verschwörung,<br/>die man im ,Krokodilen' geschmiedet hatte.<br/><br/>Freilich musste der Meyer sich einbilden, er könne<br/>so gut wie Flametti ein Variete aufmachen. Was war<br/>leichter als das? '<br/><br/>Freilich glaubte diese Laura, sie kenne den verstoh-<br/>lensten Geschäftskniff, weil es ihr gelungen war, Jenny<br/>den Seidel & Sohn auszuspannen.<br/><br/>Aber Sie sollten sich verrechnet haben.<br/><br/>„Bis hierher und nicht weiter," sagte sich Jenny.<br/>„Wenn sie Weggehen, sind wir pleite."<br/>
Max, dieser gutmütige Taps, merkte ja nichts! Wenn<br/>sie, Jenny, nur ein Wort gegen diesen Meyer sagte,<br/>fuhr er sie an wie ein böses Tier. Auf den Meyer<br/>Hess er nichts kommen.<br/><br/>Sorgfältig ging Jenny zu Werk.<br/><br/>Zunächst ,kaufte* sie sich den Engel.<br/><br/>Nachdem sie ihm verschiedentlich Zigaretten und<br/>Biermarken zugesteckt hatte, fragte sie ihn eines Abends<br/>geradezu:<br/><br/>„Du, Engel, sag’ mal, was ist das eigentlich mit<br/>dem Ensemble, das der Meyer vorhat? Brauchst dich<br/>nicht zu genieren. Kannst es frei heraussagen.“<br/><br/>Engel wurde sehr verlegen.<br/><br/>„Was weiss ich von einem Ensemble!** stotterte<br/>er. „Da weiss ich nichts von.** Und harmlos: „Das<br/>Apachenstück haben wir zusammen geschrieben, Herr<br/>Meyer und ich______**<br/><br/>„Mach’ -mir nichts vor!** unterbrach Jenny ihn streng.<br/>„Das haben wir nicht verdient um dich, dass du uns<br/>jetzt So kommst. Du wirst dich wohl erinnern, was<br/>du uns alles verdankst. Immer ist man dagewesen<br/>für. dich. Nichts hat man auf dich kommen lassen.<br/>Du wirst dich wohl erinnern, wie du zu uns kamst,<br/>abgerissen und ausgehungert. Du wirst wohl wissen,<br/>dass Max dich in der Hand hat. Brauchst bloss an die<br/>Annie zu denken. Na, davon spricht man nicht.**<br/><br/>Engel wurde noch verlegener. Die Szene war pein-<br/>lich. Er rückte den Stuhl hin und her, den er oben an<br/>der Lehne gefasst hielt, Hess ihn tanzen auf dem einen<br/>Hinterbein. ! t<br/><br/>„Jenny,** sagte er mit dem ratlosen Achselzucken<br/>eines gealterten Barons, den die leidenschaftlichen Re-<br/>
200<br/><br/>gungen einer früheren Geliebten bis in die Retirade<br/>seines Landschlösschens verfolgen, „Jenny, ich kann<br/>nicht.., ich ‘Weiss1 nicht.., ich hab’ dir nichts zu<br/>sagen..., ich weiss nicht, was ich dir sagen soll...“<br/>Doch sich erinnernd!: „Ja, gewiss: es war wohl die<br/>Rede davon .. .“<br/><br/>Er räusperte sich. „Ja, ganz richtig! Aber du<br/>weisst doch Bescheid! Du kennst doch den Meyer!<br/>Bisschen litti titti!“<br/><br/>Als aber Jenny kurz abschnitt: „Na, schon gut!<br/>Lasfe nur!“, da nahm er das für ein Zeichen ihrer ge-<br/>kränkten Mädchenwürde, und bemühte sich, zart ab-<br/>zuschliessen: | [<br/><br/>„Mir könnt’ es ja gleich sein! Was hab’ ich davon ?<br/>Ich hab’ ja abgedankt! Mir ist alles gleich!“<br/><br/>„Gut,*gut!“ sagte Jenny, „streng’ dich nicht an!<br/>Ich weiss schon Bescheid!“<br/><br/>„Lena,“ sagte Jenny zu der früheren Pianistin, als<br/>die einmal wieder zu Besuch kam, „du kommst gerade<br/>recht. Jeden Moment kann die Soubrette kommen.<br/>Die wollen doch weg von uns'. Der Meyer will eine<br/>eigene Truppe machen. Du sollst mal sehen, wie ich<br/>die ins Gebet nehme!“ ,<br/><br/>„Wollte dir nur sagen,“ dienerte Lena, „dass ich<br/>die zwei Unterschriften mitgebracht habe. Schon be-<br/>sorgt. Hier ist die eine, von meinem Mann; hier die<br/>andere, von dem Leinvogel.“<br/><br/>Sie entfaltete zwei Papiere, breitete sie auf den<br/>Tisch, plättete sie mit der Hand, und sah Jenny aus<br/>fallsüchtigen Fanatikeraugen abwartend an.<br/><br/>„Lass mal sehen!“ sagte Jenny. Sie las. „Gut,<br/>
201<br/><br/>gut. Hast du gut gemacht. Sollst du nicht umsonst<br/>getan haben. Komm’, trink’ ’ne Tasse Kaffee!“ Und<br/>sie goss Kaffee ein.<br/><br/>Es klopfte. Herein trat die Soubrette.<br/><br/>„Tag, Laura!“ sagte Jenny.<br/><br/>„Tag, Fräulein!“ sagte Lena versteckt.<br/><br/>Laura trug eine schwarze Bolerojacke aus Samt,<br/>Geschenk ihrer russischen Freundin, und eine grüne<br/>Strickmütze, von der ihr kurzgeschnittenes, struppiges<br/>Blondhaar vorteilhaft abstach.<br/><br/>Sie wollte Einkäufe machen, Meyer treffen, und<br/>für Jenny verschiedenes mitbesorgen.<br/><br/>Die beiden Weiber musterten sie nicht ohne Scha-<br/>denfreude und Neid.<br/><br/>„Setzen Sie sich, Laura! Trinken Sie doch ’ne<br/>Tasse Kaffee mit!“<br/><br/>Fräulein Laura wurde ein wenig ängstlich.<br/><br/>„Eigentlich habe ich Eile,“ meinte sie.<br/><br/>„Na, setzen Sie sich nur!“ sprach Jenny ihr zu,<br/>„behalten Sie Ihr Jackett nur an!“<br/><br/>Fräulein Laura setzte sich und Jenny beeilte sich,<br/>einzugiessen.<br/><br/>„Wir sprachen gerade von unsrem Prozess,“ be-<br/>gann Jenny. Sie wusste, dass es zunächst darauf an-<br/>kam, der Soubrette das Heikle der Situation Flamettis<br/>auszureden.<br/><br/>„Ja, wir haben gerade vom Prozess gesprochen.<br/>Jetzt ist es aus mit der Güssy, aus mit der Traute.<br/>Jetzt können sie einpacken, die beiden. Sehen sie her:<br/>da haben Sie’s schwarz auf weiss!“ Und sie zeigte<br/>Fräulein Laura die beiden Papiere, die Lena mitge-<br/>bracht hatte.<br/>
202<br/><br/>Lena lächelte.<br/><br/>Die Soubrette nahm einen Schluck Kaffee, schob<br/>ihre Mütze ein wenig1 zurück und las.<br/><br/>Aber dann lächelte auch sie, nicht unhöflich, nur<br/>etwas ironisch und gab die Papiere zurück.<br/><br/>„Glauben Sie, dass das etwas nützen wird?“<br/>fragte isie maliziös. Die Wahrheit der hier verbrieften<br/>Aussagen 'ging ihr nicht ohne weiteres ein. Auch schien<br/>sie 'Zweifel zu leiden am notariellen Kredit der unter-<br/>schriebnen Persönlichkeiten. Lenas Gemahl war eben<br/>aus (dem Gefängnis entlassen, wo er für einen Well-<br/>blechdiebstahl zwei Monate Aufenthalt hatte. Der an-<br/>dere Herr, Herr Leinvogel war Laura nicht bekannt,<br/>aber eben deshalb wohl eine noch zweifelhaftere<br/>Notabilität. J<br/><br/>Die beiden Herren versicherten an Eidesstatt, die<br/>Liebe der beiden Lehrmädchen Güssy und Traute zu<br/>der und der Zeit zu mehreren Malen besessen und<br/>käuflich erworben zu haben.<br/><br/>Jenny riss der Soubrette die beiden Papiere aus<br/>der Hand, faltete sie zusammen und lächelte:<br/><br/>„Ob das wirken wird! Ob das nützt! Da hat man’s<br/>ja schwarz auf weiss, was das für Dämchen waren!<br/>Und ausserdem: fechte ich ihre Glaubwürdigkeit an.“<br/><br/>Der Soubrette gab’s einen Ruck. Doch sie besann<br/>sich (umd parierte mit einem mitleidigen Achselzucken.<br/><br/>Lena war sichtlich überrascht.<br/><br/>„Was heisst anfechten?“ nahm die Soubrette jetzt<br/>offen die Partei ihrer Kolleginnen.<br/><br/>„So?“ schrie Jenny, aufgebracht durch die offen-<br/>sichtliche Renitenz. „Ich habe die Beweise!“<br/><br/>Und mit ausgestrecktem Arm in eine vage Richtung<br/>
zeigend: „Die eine hat einen Meineid geleistet. Kann<br/>ich beweisen. In meiner eigenen Sache. Die andre<br/>hat eine ganze Wachtstube von Schutzleuten, denen<br/>sie Rippchen brachte — damals war sie noch Kellnerin<br/>— ins Krankenhaus gebracht und drei Jahre Arbeits-<br/>haus dafür abgesessen ...!“ J<br/><br/>Und da sie merkte, das seien unwahrscheinliche<br/>Dinge, so fügte sie bei: „Von Rechts wegen hätte<br/>sie gar picht auftreten dürfen. Aber was tut man<br/>nicht!“ , *. j<br/><br/>Sie machte eine Pause, um Luft zu schnappen und<br/>die Wirkung abzuwarten.<br/><br/>Lena lächelte, ein Lachen, das etwa besagte: Siehst<br/>du wohl! Nimm dich in acht!<br/><br/>„Die sollen mir nur kommen!“ fuhr Jenny ge-<br/>fährlich fort, „die sollen was erleben! Die haben’s<br/>nötig, zur Polizei zu laufen! Von wegen Unbeschol-<br/>tenheit! Von wegen Misshandlung!“ ’i<br/><br/>Sie war wütend. All ihr Bemühen, all ihre plau-<br/>siblen Gründe verfingen nicht. Ein neuer Beweis, dass<br/>Komplotte geschmiedet waren. Der Soubrette schien<br/>es durchaus gleichgiltig, ob Flametti seinen Prozess<br/>verlor öder gewann. Ja, sie schien bei Jennys heftigen<br/>Argumenten nur noch entschiedener abzurücken. Un-<br/>erhört! \ ' i '<br/><br/>Und als Fräulein Laura jetzt mit einem energischen<br/>Ruck ihren Kaffee austrank und sich zu gehen an-<br/>schickte, da fühlte Jenny nicht nur, dass der An-<br/>schlag missglückt war, sondern dass jetzt alles auf<br/>dem Spiele stand.<br/><br/>Sie hatte dieser Person in fünf Minuten das ganze<br/>System ihrer Verteidigung aufgedeckt. Da es ihr nicht<br/>
204<br/><br/>gelungen war, sie zu gewinnen, so konnte die Sache<br/>gefährlich werden. Der stärkste Trumpf musste her-<br/>an. Nichts durfte unversucht bleiben, die neue Truppe<br/>zu verhindern. Der offne Verrat an Flametti musste<br/>die letzten Freunde noch gegen ihn bringen, alle Aus-<br/>senstehenden überzeugen. Das war gleichbedeutend<br/>mit dem Ruin.<br/><br/>„Wissen Sie, Laura,“ begann Jenny von neuem,<br/>„— bleiben Sie doch noch ’nen Moment! — wissen<br/>Sie: schliesslich ist’s ja egal, ob wir den Prozess ge-<br/>winnen oder verlieren. Da bleiben noch allerhand<br/>Möglichkeiten. Wir brauchten uns nur zum Beispiel<br/>Pässe zu verschaffen nach Deutschland und die In-<br/>dianer* für grosses Variete zu bearbeiten. Es ist ja<br/>borniert von uns, hier zu sitzen mit einem solchen<br/>Schlager! Deutschland wär’ wie geschaffen dafür!<br/>Säcke voll Geld könnten wir machen. Aber das will<br/>mein Mann nicht. Im schlimmsten Fall und wenn alle<br/>Stricke reissen, wird er ein paar Tage eingesperrt.<br/>Aber dann sollen Sie mich mal kennen lernen !** Und sie<br/>tippte so erregt mit dem Zeigefinger auf den Tisch,<br/>dass die Tassen wackelten. „Dann sollen Sie mal<br/>sehen, wer ich bin!**<br/><br/>Laura stand unwillkürlich auf und zog sich, vor<br/>ihrem Stuhle stehend, ein wenig zurück gegen den<br/>Spiegelschrank.<br/><br/>„Soll das eine Drohung sein?** fragte sie nervös,<br/>und ihre unterstrichenen Wimpern flogen.<br/><br/>„Sie brauchen gar nicht so vornehm zu tun!**<br/>rief Jenny, mit einer Handbewegung, die die Zweideu-<br/>tigkeit der Soubrette sehr unzweideutig beschrieb.<br/>„Ich weiss Bescheid. Ich verstehe, was man mir gackst.<br/>
205<br/><br/>Bin nicht auf den Kopf gefallen. Eine warme Tasse<br/>Kaffee im Leib: da gacksen sie alle! Von wegen<br/>Spionage: Sie werden sich wohl erinnern, wie Sie<br/>hier ankamen mit diesem Meyer! Dass Sie dabei<br/>nicht ganz sauber waren, haben Sie selbst gesagt.<br/>Man renommiert picht mit solchen Dingen. Da wird<br/>jehon was Wahres hinter gewesen sein. Und von<br/>wegen Sage-femme laufen! Man kennt das! Das lässt<br/>sich konstatieren!...“<br/><br/>„Unverschämtheit!“ schrie die Soubrette. „Das ist<br/>eine masslose Dreistigkeit! Was unterstehen Sie sich!“<br/><br/>Sie stand jetzt knapp vor dem Spiegelschrank, der<br/>ihre Erscheinung in merkwürdiger Weise verdoppelte.<br/>Ihr blondes Haar zischte. Ihr schmaler Körper<br/>krümmte sich vor Ekel und Abscheu.<br/><br/>„Ah, Sie haben’s gar nicht nötig, sich aufzuregen!<br/>Man weiss Bescheid über Sie. Auch über Ihren Meyer!<br/>Lassen Sie nur gut sein!“<br/><br/>„Geh*, Jenny, reg* dich doch nicht auf!“ beruhigte<br/>Lena, „wir haben sie ja in der Hand! Wir wissen<br/>ja Bescheid!“<br/><br/>„Was wollen Sie von mir? Was können Sie mir<br/>nachsagen?“ schluckte die Soubrette.<br/><br/>„Nun, Ihr Herr Meyer — erinnern Sie sich mal! —<br/>wo haben Sie denn gewohnt, bevor Sie zu Flametti<br/>kamen ?“<br/><br/>Laura erinnerte sich wohl. Sie wurde merklich<br/>blass und zitterte.<br/><br/>„Was geht Sie das an!“ rief sie und fuhr sich<br/>mit der Hand an den Kopf.<br/><br/>„Oh, nichts! Mich geht das nichts an. Aber die<br/>Polizei vielleicht. Sie werden nicht vergessen haben,<br/>
206<br/><br/>womit Sie damals Ihr Brot verdienten und was Ihr<br/>Herr Meyer dabei für eine Rolle spielte.“<br/><br/>„Ich reisse Ihnen die Haare aus, Sie Miststück!“<br/>schrie die Soubrette, packte jene Lena am Kragen<br/>und zerrte sie hin und her.<br/><br/>Jenny löste die beiden Damen.<br/><br/>„Na,“ isagte sie abschliessend, „Sie wissen Be-<br/>scheid. Sie können sich ja nun überlegen, was Ihnen<br/>lieber ist. Wir zwingen Sie nicht. Es steht ganz bei<br/>Ihnen... Sie brauchen mir auch keine Kommissionen<br/>zu besorgen. Danke schön! Tun Sie nur, was Sie<br/>nicht lassen können!“<br/><br/>„Gehen Sie nur zur Druckerei,“ assistierte Lena,<br/>„lassen Sie Ihre Plakate drucken! Wir wissen schon,<br/>dass sie Plakate bestellt haben. Man hat nicht um-<br/>sonst seine Freunde!“<br/><br/>„Plakate bestellt?“ fragte Jenny, die davon nicht<br/>einmal wusste. „So so! Na, das muss ich doch Max er-<br/>zählen!“<br/><br/>„Adieu!“ rief Laura, „ich habe nichts mehr zu<br/>sagen.“ Und damit schlug sie die Türe zu.<br/><br/>„Alles nichts!“ sagte Herr Meyer, als Laura ihn<br/>traf im ?Lohengrin‘, „wir müssen heraus aus dem<br/>Pfuhl. Kann alles nichts helfen. Wir haben sie ja<br/>in der Hand! Sie hat sich ja selbst 'Verraten! Du<br/>brauchst dich nicht aufzuregen. Was kann sie wissen<br/>von uns?“<br/><br/>Und sie begaben sich selbander zur Druckerei, um<br/>nach idem Preis beschlossener Plakate zu fragen.<br/><br/>An der Ecke aber, beim Rudolf Mosse-Haus, kamen<br/>ihnen entgegen Güssy und Traute, sehr frisch, sehr<br/><br/><br/><br/>■<br/>
wirsch und vertraut, mit roten Backen, in roten und<br/>braunen Strickjacketts.<br/><br/>„Ah, Laura! Ah, der Heg: Meyer!“ riefen sie schon<br/>von weitem, „wie gehfs? Wie steht’s? Könnt ihr<br/>uns nicht brauchen ? Wir haben gehört, ihr macht eine<br/>Truppe!“<br/><br/>„Wo denkt ihr hin, eine Truppe!“ warf Laura<br/>weit weg.<br/><br/>„Keine Spur!“ bekräftigte Meyer.<br/><br/>„Fesch seht ihr aus! Geht euch gut, was?“<br/><br/>„Oh,“ meinte Traute quick und bezüglich, „uns geht<br/>es gut,“ und sie strich sich in der gewohnten Weise<br/>den Busen herunter, „wir finden schon, was wir<br/>brauchen.“<br/><br/>„Na, das ist recht!“ meinte Herr Meyer praktisch.<br/>Und Fräulein Güssy versuchte, mit schweren Augen<br/>sich in ihn versenkend, seine Hand zu erreichen.<br/><br/>„Na, und was macht der Prozess?“<br/><br/>„Oh,“ schnalzte Traute, „er wird schon sehen, Fla-<br/>metti, was er angestellt hat! Er wird’s schon erfahren!<br/>Und sie auch,* diese Verbrechergustel! Denen wird<br/>man das Handwerk legen!“<br/><br/>Mehr schien sie für jetzt nicht sagen zu wollen,<br/>denn sie schwenkte sogleich über:<br/><br/>„Was macht denn der Bobby? Netter Kerl war er<br/>doch! Wie er sich ärgerte, dass ich's mit dem Flametti<br/>hatte! Immer wollte er Geld von mir haben. Und<br/>ich hatte doch selbst keins!“<br/><br/>„Oh, er hat sich getröstet!“ meinte Laura. „Fünf<br/>andre seitdem!“<br/><br/>Herr Meyer wurde unruhig.<br/><br/>„Na, Adieu!“ sagte Laura, „wir haben’s eilig!“<br/>
208<br/><br/>„Adieu, adieu!“ riefen die Mädels frisch.<br/><br/>Man hatte sich schon ein wenig entfernt von ein-<br/>ander, aber die Hand Fräulein Güssys ruhte noch<br/>immer in der des Herrn Meyer. Ihr langer Arm glich<br/>einer Rosenguirlande, die sich am Kleid verhakt, wenn<br/>man vorübergeht. ,<br/><br/>Als Flametti diesen Abend zur Vorstellung kam,<br/>pfifferte er viel vor sich hin, wie es seine Gewohnheit<br/>war, wenn ihn Unangenehmes heftig beschäftigte.<br/><br/>Er zerbrach Zündhölzchen zwischen den Fingern,<br/>untersuchte die Leuchter am Klavier, untersuchte die<br/>Vorhangschnur, kratzte mit der Stiefelspitze an Pa-<br/>pierschnitzeln, die auf dem Boden lagen, und ging<br/>auf und ab.<br/><br/>„Na, Herr Meyer, warum so ein finstres Gesicht?“<br/>meinte er unvermittelt zum Pianisten.<br/><br/>Der tsass, die Beine übereinandergeschlagen, auf<br/>dem wackligen Klavierstuhl, blätterte in den Noten<br/>und |nahm eine Zigarette, die Flametti leger spendierte.<br/><br/>„Ah, nichts!“ versuchte Meyer zu lächeln, „kalt<br/>isFs!“ |und rieb sich die Hände.<br/><br/>Es war viertel nach acht. Langsam kamen die Gäste.<br/><br/>„Anfängen! Die Leute kommen! Vorspiel!“<br/><br/>Flametti machte Betrieb.<br/><br/>Und Herr Meyer begann ,Mysterious Rag‘, indem<br/>er mit krampfhaft erhobenen Adlerfängen, die Füsse in<br/>die Pedale gestemmt, auf die Klaviatur loshackte.<br/><br/>An diesem Abend aber sagte Flametti in der Garde-<br/>robe:<br/><br/>„Hören Sie mal, Laura, wie ist das eigentlich mit<br/>dem Ensemble, das Meyer plant? Man sagt mir da<br/>alles mögliche. Sie hätten sogar schon Plakate in Druck<br/>
209<br/><br/>gegeben. Und Meyer hat mir bis jetzt noch kein<br/>Wort gesagt, dass ihr weg wollt. Ich habe bis jetzt<br/>keine Kündigung.“<br/><br/>Laura wurde verlegen. Flamettis Ton klang be-<br/>fremdet, aber nicht bitter.<br/><br/>„Ist er vielleicht nicht zufrieden mit seiner Gage?<br/>Steht ihr was aus? Seht ihr denn nicht, dass es<br/>unmöglich ist, mehr Gage zu zahlen? Sie sehen doch<br/>selbst am besten, wie das Geschäft geht. Ihr könnt's<br/>euch doch an den Fingern abzählen, was übrig bleibt!<br/>Zehn Leute ernähren — glauben Sie nicht, dass das<br/>einfach ist! Ich kann euch ja eine Kleinigkeit zulegen,<br/>ab fünfzehnten. Aber mehr kann ich nicht tun. Wenn<br/>Meyer fwill — ich mach’ ihn zum Regisseur. Ich habe<br/>jetzt imeinen Prozess. Meyer ist tüchtig, Meyer ist<br/>still, Meyer ist anständig. Man hat Respekt vor ihm.<br/>Er kann mich vertreten. Vertrauensstellung. Vielleicht<br/>vergrössern wir, wenn erst der Prozess vorbei ist,<br/>und teilen die Truppe. Er kann die eine Hälfte leiten,<br/>ich nehme die jandre.^ Aber man jmuss sich doch ausspre-<br/>chen! Ich kann’s ihm doch nicht am Gesicht ablesen!<br/>Tut doch den Mund auf, wenn ihr was zu sagen habt!“<br/><br/>Die Soubrette schwieg.<br/><br/>„Jenny hat mir erzählt. Sie wissen ja, ich liebe<br/>meine Frau. Sie übertreibt manchmal; das dürfen Sie<br/>nicht tragisch nehmen! Ich weiss ja nicht, was sie<br/>gesagt hat. Aber Herrgott! Wir sind doch alle Men-<br/>schen! Man spricht sich aus. Man sagt sich auch<br/>einmal was ins Gesicht. Aber man rührt sich doch!“<br/><br/>„Nein, wissen Sie,“ tischte Laura jetzt auf, „das<br/>war ein bisschen zuviel, heute nachmittag! Das kann<br/>ich mir denn doch nicht sagen lassen. Es ist ja<br/><br/>Flametti. 14<br/><br/>A<br/>
210<br/><br/>lächerlich: sie tut ja, als hätte sie uns auf der Strasse<br/>aufgelesen! Das geht zuweit. Das war eine Drohung.<br/>So kann sie mich nicht behandeln. Sie ist Ihre Frau<br/>— gut! Aber ich kann mich nicht ins Verhör nehmen<br/>lassen. Sie können sich nicht beklagen, dass ich meine<br/>Pflicht nicht getan habe, immer...“<br/><br/>„Und Sie nicht, dass ich Ihnen nicht immer pünkt-<br/>lich die Gage zahlte; dass ich nichts auf euch kom-<br/>men liess!...“<br/><br/>„Gewiss!“ sagte Laura, „aber sie darf uns nicht<br/>mit Apachen verwechseln. Das sind wir nicht. Spio-<br/>nin soll ich sein ... und.. und.. von der Strasse<br/>sprach sie .. und .. und Sage-femme .. und das ist mir<br/>zuviel! Das tu’ ich nicht;! Das kann sie dieser<br/>Lena sagen!“<br/><br/>„Na, Sie haben doch selbst erzählt, dass Sie Nackt-<br/>photographien von sich verkauft haben! Dass Sie<br/>sich haben photographieren lassen!“ nahm Flametti<br/>abweisend, aber nicht unberührt, die Partei seiner<br/>Frau.<br/><br/>„Wen geht es was an?“ zuckte die Soubrette und<br/>schluchzte. „Wer hat mir was dreinzureden? Wenn<br/>ich mich ausbiete auf der Strasse, wenn ich jede Nacht<br/>in einem andern Hotel schlafe — wen geht es was an ?<br/>Kümmere ich mich um andre? Mische ich mich in die<br/>Angelegenheiten der andern? Laufe ich zur Polizei,<br/>wenn man mir was anvertraut? Mir hat Ihre Frau<br/>das Zehnfache anvertraut! Was hat sie mir alles ver-<br/>traut! Wollte ich’s wissen? Hab’ ich Gebrauch davon<br/>gemacht?“<br/><br/>„Na, das tun Sie ja auch wohl nicht!“ begütigte<br/>Flametti und streichelte ihr Haar. So weit kommt’s<br/>
211<br/><br/>ja Iwohl jnicht! Eine Hand wäscht die andere. Ich hoffe<br/>ja, dass wir uns verstehen. Wir werden ja keinen<br/>Gebrauch Sdavon machen. Und ich werde auch mit<br/>Jenny sprechen. Ist ja alles dummes Zeug! Ihr habt<br/>eine Zukunft bei uns. Sagen Sie das dem Meyer!<br/>Aber ich hasse dieses Hintenherum. Das ist Weiber-<br/>manier. Ziehen Sie sich jetzt an und gehen Sie runter!<br/>Ich weiss schon, von wem all diese Dinge kommen.<br/>Ich werde dafür feorgen, dass das ein Ende hat.“<br/><br/>Und Laura wischte sich die Tränen und stieg, Rin-<br/>nen im Schminkgesicht, die Hühnertreppe hinunter ins<br/>Lokal.<br/><br/>Am Klavier sass Meyer. Er hatte soeben sein<br/>Zwischenstück beendet und machte ein Gesicht wie<br/>der Teufel bei Regenwetter. j<br/><br/>„Was hast du mit Flametti gehabt?“ fuhr er die<br/>Braut an, „wie siehst du aus? Ihr wart allein in der<br/>Garderobe! Was habt ihr gehabt?“<br/><br/>„Nichts! Lass mich!“<br/><br/>Raffaela und Lydia warfen sich bedeutungsvolle<br/>Blicke zu.<br/><br/>Bobby meinte gerührt: „Ach, Laura, das muss man<br/>sich nicht so zu Herzen nehmen!“ Zu gerne hätte er<br/>gewusst, worum es sich handelte.<br/><br/>An der Kasse feass Jenny, kalt und unnahbar, jgrande<br/>dame vom Scheitel bis zur Sohle.<br/><br/>Und Engel bediente ergebenst die Vorhang-<br/>schnur. ...<br/><br/>„Kinder!“ sägte Raffaela nach der Vorstellung, „die<br/>Nacht, diese Nacht!“<br/>
212<br/><br/>Sie meinte die Nacht, in der die Gans verzehrt<br/>wurde.<br/><br/>„Das war ja toll! Das sind ja Falschspieler der<br/>schlimmsten Sorte! Vier Kerls waren da. Und Fla-<br/>metti war angetrunken. Sein ganzes Geld hat er ver-<br/>spielt! Und dann ging er auf seine Frau los: ,Du<br/>hast mich verraten! Du bist schuld an allem! Du hast<br/>mir das eingebrockt! Jetzt holst du mir noch deine<br/>Liebhaber ins Haus und lockst mir das letzte Geld<br/>aus der Tasche!‘... Das war ja nicht mehr schön!<br/>Die Gans hatte Flametti gar nicht bezahlt! Die Kerls<br/>hatten sie bezahlt! Wie die gegessen haben, davon<br/>macht ihr euch keinen Begriff! Das ganze Geld haben<br/>sie ihm abgenommen, und dann brachten sie ihn ins<br/>Bett. Getobt hat er! Und gingen zu der Dudlinger<br/>hinunter, Jenny und die vier Brüder! Das ganze Haus<br/>stand auf dem Kopf!“<br/><br/>„Ja, wart ihr denn auch dabei?“ fragte die Sou-<br/>brette. j<br/><br/>Lydia winkte ab. „Natürlich! Wir waren doch ein-<br/>geladen! Aber für so was, nein, nein, dafür sind wir<br/>nicht zu haben! Wir gingen natürlich, als es mal drei<br/>Uhr war.“<br/><br/>„Ja, woher wisst ihr denn... ?“<br/><br/>„Aehh, diese Unschuld!“ krähte Raffaela, „so was<br/>sieht man doch! Man hat doch Augen im Kopf!“<br/><br/>„Ah, so!“ entschuldigte sich die Soubrette...<br/><br/>Der nächste Tag brachte jene Depression der Ge-<br/>fühle, die auf grosse Aufregungen zu folgen pflegt,<br/>aber auch jenen Niederschlag in Taten, der frucht-<br/>lose Debatten klärt.<br/>
213<br/><br/>Raffaela und Lydia wurden, ohne viel Federlesens,<br/>ausgezahlt und entlassen.<br/><br/>Herrn Meyer und Fräulein Laura wurden neue<br/>Verträge unterbreitet, zu deren Akzeptierung und Ra-<br/>tifizierung Herr Meyer sich eine Bedenkzeit von drei<br/>Tagen erbat.<br/><br/>Die Gründe für die Entlassung der beiden Scheid-<br/>eisen lagen auf der Hand. Ihnen schob Flametti die<br/>Verhetzung des ganzen Ensembles zu. Von ihnen wollte<br/>Flametti nicht länger sich nasführen lassen.<br/><br/>Nachmittags aber, als man gerade beim Kaffee-<br/>tisch sass, klopfte es an der Türe, behutsam und<br/>diskret.<br/><br/>Ein Detektiv stand draussen, wieder einmal. Alle<br/>schracken zusammen.<br/><br/>Flametti beeilte sich, den Herrn zu empfangen.<br/><br/>„Fräulein Laura,“ kam er geschäftig zurück, „für<br/>Sie!“<br/><br/>„Für mich?“ fuhr Laura zusammen.<br/><br/>„Ja, für Sie!“<br/><br/>Auch Meyer wurde unruhig, bemühte sich aber,<br/>Haltung zu bewahren.<br/><br/>Laura ging hinaus und mit dem Herrn in die Küche,<br/>die nun einmal bestimmt schien, als Konferenzzimmer<br/>Tradition zu bekommen.<br/><br/>„Welcher ist es denn?“ fragte Jenny.<br/><br/>„Der Puma,“ sagte Flametti, ging auf den Zehen-<br/>spitzen und biss sich die Lippen.<br/><br/>„Ach, der ist nett!“ meinte Jenny konziliant. „Da<br/>ist es nichts Schlimmes.“ ’<br/><br/>Alle, auch Fräulein Theres, die missmutig den Gas-<br/>herd abgestellt hatte, horchten bedrückt und gespannt.<br/>
214<br/><br/>Aus der Küche vernahm man das stöbernde Mur-<br/>meln eines Verhörs.<br/><br/>„Pst!“ machte Jenny und winkte nach rückwärts,<br/>„ich kann ja nichts hören!“<br/><br/>Sie stand am geschlossenen Schalter und versuchte,<br/>wenigstens ein paar Worte aufzuschnappen.<br/><br/>„Rezepte., selbst geschrieben.. Basel.. Narko-<br/>tika ...“<br/><br/>Man vernahm von draussen ein Räuspern. Mit<br/>einem kurzen Schritt trat Jenny vom Schalter weg.<br/><br/>Jemand polterte die Treppe hinunter.<br/><br/>Die Soubrette kam zurück, seltsam verdonnert und<br/>zerfedert, mit Gedanken und Blicken noch halb bei<br/>dem unten aus der Haustür tretenden Beamten.<br/><br/>„Ja, ja,“ meinte Flametti.<br/><br/>„Was war denn?“ interessierte sich Jenny.<br/><br/>„Nichts, nichts!“ wehrte Laura ab.<br/><br/>Jenny fühlte sich verpflichtet, einige Ansichten über<br/>die Polizei im allgemeinen und die Detektivs im be-<br/>sonderen von sich zu geben.<br/><br/>„Hm, diese Kerls!“ meinte sie, „nirgends ist man<br/>sicher vor ihnen! Max, sag’, die müssen doch äus<br/>den hintersten Familien stammen!“<br/><br/>Ein wenig Sympathie und Besorgnis klang durch.<br/><br/>Max glaubte: Verachtung.<br/><br/>„Was willst du!“ zuckte er die Achseln, „Beruf!<br/>Der eine verdienfs mit Alteisen, der andre mit Va-<br/>riete, der dritte mit dem Wolfshund.“<br/><br/>„Hm!“ gab Jenny in backfischhafter Anwandlung<br/>zu bedenken, „immer so mit dem Wolfshund gehen!“<br/><br/>Flametti hielFs für ein Gruseln.<br/><br/>„Was denkst du!“ zeigte er sein überlegenstes In-<br/>
dianerlächeln, „erst die amerikanischen Detektivs! Die<br/>amerikanischen Handfesseln, Schlagringe und Gummi-<br/>knüppel !" und sah sich, Sympathie heischend, nach<br/>dem geschulten Herrn Meyer um.<br/><br/>Herr Meyer aber sass da mit der verdriesslich-<br/>sten Miene der Welt, die Augenlider krampfhaft hoch-<br/>gezogen, fadiert, gelangweilt, bar jeglicher Lust zu<br/>Disputationen.<br/><br/>Die Ereignisse folgten sich rasch, und von seiten<br/>der Hauptbeteiligten ohne nennenswerteren Wider-<br/>stand.<br/><br/>Flamettis Prozess war jetzt auf den dreizehnten<br/>angesetzt.<br/><br/>Man spielte in den kleinen und kleinsten Kneipen.<br/>Das Ensemble hatte nach dem Austritt der Damen<br/>Scheideisen eine Ergänzung nicht erfahren. Man rich-<br/>tete sich ein.<br/><br/>Die Soubrette trat zehnmal auf am Abend: fünf<br/>Soli, vier Ensembles, einmal als Rezitatorin. Sie sprach<br/>dann den ,Leutnant aus Zinn' und die ,Fremden-<br/>legionäre'.<br/><br/>Engel hatte sich durch freiwilligen Eintritt ins<br/>Krankenhaus einen glücklichen Uebergang zu den ,Ori-<br/>ginal- Ideal- Perplex- und Simplex-Mühlen' gesichert.<br/><br/>Bobby laborierte an einer Entzündung und die Bögen<br/>und Handstände fielen ihm schwer. Aber er schaffte es.<br/><br/>Herr Meyer seinerseits sass pünktlich um sechs<br/>allabends am Piano, , um Jidas wie Pleureusen die<br/>Tropfen von der Dedke fielen. Die Portiere am Ein-<br/>gang — Türen gab es nidht — klatschte vereist an<br/>die Beine etwelcher zirkussüchtiger Gäste. Die Kalk-<br/>
216<br/><br/>wände der Garderoben blätterten ab. ,Frühling ist's,<br/>die Blumen blühen 'wieder' — selige Erinnerung.<br/><br/>Flametti und Jenny allein bewahrten Humor.<br/><br/>Zum Zeichen ihres absoluten unwandelbaren Ein-<br/>vernehmens sangen sie zusammen die ,Meistersinger<br/>von Berlin', ein revueartiges Duett, das unter ihrer<br/>scharf pointierten Interpretation sich als anmutigstes<br/>Duell, voller mondäner Anspielungen auf den laufen-<br/>den Prozess, präsentierte.<br/><br/>Der Detektiv von neulich wiederholte Besuch und<br/>Nachfrage. Und Fräulein Theres war ein zweites Mal<br/>gezwungen, den Gasherd abzudrehen und den Schau-<br/>platz ihrer klausürhaft verteidigten kulinarischen Ma-<br/>nipulationen für ein Viertelstündchen zu verlassen.<br/><br/>Flametti wälzte im rastlosen Gehirn finanzielle<br/>Transaktionen.<br/><br/>Eine zweistündige Unterredung hatte er mit Ma-<br/>dame Dudlinger, frudilosen Resultates. Eine drei-<br/>stündige Unterredung mit Direktor Farolyi, dem Ungar,<br/>voller Elogen, Respekt und Meriten, aber ohne den<br/>rechten klingenden Ausgang. Die Säulen des Hauses<br/>Flametti wackelten. > ><br/><br/>Aufgestört, eine Wanderschwalbe, trat Fräulein<br/>Theres vor die Herrschaft, um ihre Kündigung vorzu-<br/>bringen.<br/><br/>„Frau," sagte sie sittig, „am fünfzehnten ist meine<br/>Zeit aus," und kraulte sich mit der Haarnadel in der<br/>zerknäulten Frisur.<br/><br/>„Geh’, Theres, was machen Sie da für Sachen!"<br/>suchte Jenny das Verhängnis aufzuhalten.<br/><br/>Aber Theres machte ein Gesicht, so diffizil und spitz,<br/>
217<br/><br/>wie ein Moskito, dem ein Ausräucherungsdampf in<br/>die empfindliche Nase fuhr.<br/><br/>Nein, nein, sie hatte genug. Wenn man nicht ein-<br/>mal in der Küche seine Ruhe haben sollte — Verhör-<br/>zimmer auf ihre alten Tage, Detektiv am Herd, am<br/>Spülstein, im Kohlenkasten ...<br/><br/>„Nein nein, Frau,“ sagte sie, gröber als sie es<br/>meinte und mit einer Art schluchzendem Humor, „ich<br/>will nicht auf meine alten Tage den Remis noch krie-<br/>gen! Am fünfzehnten geh’ ich.“<br/><br/>Umsonst versuchte Jenny, ihr den närrischen Einfall<br/>auszureden. Umsonst Flametti, ihr ,eine wärmere<br/>Küche, Stumpen auf der Stelle, und eine Flasche Bier<br/>vor die Phantasie zu rücken. Nichts mehr verfing.<br/>Theres blieb bei der Kündigung. Sie hatte ihre eigene<br/>moralische Ansicht von den bei Flametti eingerissenen<br/>Zuständen.<br/><br/>Gewiss, sie nahm die geschassten Lehrmädel nicht<br/>in Schutz. Aber !so behandelt man trotzdem nicht sein<br/>Dienstpersonal. Nein, nein! Fräulein Theres fühlte<br/>eine tiefe Solidarität. Nein, nein, so was rächt ,sich.<br/>Da machte sie nicht mit. Das konnte sie nicht gut-<br/>heissen.<br/><br/>Und weiter: gewiss, der Herr war im Unrecht.<br/>So beleidigt man nicht eine Frau, die auf's Sach sieht<br/>und jede Nacht pflichtgetreu neben ihm lag; die sich<br/>hübsch machte für ihn und hinter den schlampeten<br/>Weibern hei war mit Ordnung und Zucht.<br/><br/>Aber die Frau: so behandelt man auch nicht einen<br/>Mann, der mal einen Fehltritt beging. Man lässt nicht<br/>gleich vier Kerle zu sich kommen, setzt ihnen Gänse-<br/>
218<br/><br/>brüst vor und lässt seinem eigenen Gatten das Geld<br/>abnehmen.<br/><br/>Nein, nein, da tat Theres nicht mehr mit. Das war<br/>nichts für ihre alten Tage. Mochte man lachen über<br/>sie, mochte man sie für altmodisch halten. Sie tat<br/>nicht mehr mit, verstand diese neue Welt nicht mehr,<br/>gab sich auch keine Mühe mehr, sie zu verstehen. Sie<br/>legte den Schürhaken hin und ging.<br/><br/>Jetzt fastete auch Herr Meyer seinen Entschluss,<br/>rücksichtslos und farusch. Den Einflüsterungen der<br/>Geschwister Scheideisen, dem Zureden Bobbys, den<br/>Vorstellungen der Braut widerstand er nicht länger.<br/><br/>Zwei Tage Bedenkzeit waren bereits verstrichen.<br/>Der Zeitpunkt war da. Jetzt musste gehandelt werden.<br/><br/>Die Moralität obsiegte. Hundert Plakate kosteten<br/>achtzehn Franken. Das war zu erschwingen. In drei<br/>Tagen konnten sie fertig sein. Man war gefasst auf<br/>alles.<br/><br/>,Raffaela-'Ensemble' sollte die Gründung heissen<br/>nach dem Namen der hervorragendsten Kraft. Raffaela<br/>hatte Bekannte in Arbon am Bodensee. Dort würde<br/>man 'debütieren, auswärts sich die ersten Meriten holen.<br/>Noch musste gesprochen werden mit Flametti.<br/><br/>Und Herr Meyer überwand ruckhaft die ihm an-<br/>geborene Scheu und sagte beim Abendessen:<br/><br/>„Sie, Herr Direktor, ich habe zu reden mit Ihnen.“<br/><br/>„Gehen wir rüber ins Cafe Lohengrin!“<br/><br/>„Gut!“<br/><br/>Und sie gingen ins Cafe Lohengrin und Flametti<br/>bestellte zwei helle Bier und Herrn Meyer klopfte<br/>das Herz.<br/>
219<br/><br/>„Also schiessen Sie los!“ sagte Flametti. Und Herr<br/>Meyer holte weit aus.<br/><br/>Mit den Zuständen vor Kriegsausbruch begann er,<br/>gab einen Inbegriff seiner Familie, kam dann auf seine<br/>Geburt zu sprechen, berührte kurz seine Konfirmation<br/>und das Knabenalter, schwenkte dann über zur Gym-<br/>nasiastenzeit, immer das Typische unterstreichend.<br/><br/>Flametti sah ängstlich auf seine Uhr. Sieben Minu-<br/>ten vor acht. Um acht Uhr begann die Vorstellung.<br/><br/>„Kurz und gut?“ fragte er und sah Meyer gespannt<br/>ins Gesicht.<br/><br/>„Wir wollen weg, wollen uns selbständig machen.“<br/><br/>„Also doch!“ meinte Flametti, ein wenig betroffen.<br/><br/>„Ja,“ sagte Meyer. „Ein gutes Einvernehmen be-<br/>steht ja doch nicht mehr. Ihre Frau hat das zerstört.<br/>Laura hat die Affäre mit den Rezepten. Wir brauchen<br/>ein Attest für sie. Das kostet Geld. Ich brauche eine<br/>neue Hose, ein Paar neue Stiefel. Das Leben stellt<br/>Ansprüche. Kurzum: es geht nicht mehr.“<br/><br/>„Tun Sie, was Sie nicht lassen können,“ sagte Fla-<br/>metti. „Sie müsseiFs am besten wissen. Ich will Ihrem<br/>Glück nicht im Wege stehen. Wenn Sie glauben...“<br/><br/>„Ich glaube!“ sagte Meyer.<br/><br/>„Na, gehen wir zur Vorstellung!“<br/><br/>Und Flametti zahlte, auch für den neuen Herrn<br/>Direktor, der zu schüchtern war, ,Lina‘, ,Frieda', oder<br/>,Kathrein' zu rufen.<br/><br/>Und Flametti sah, was da kommen würde, lächelte<br/>ironisch, und man ging.<br/><br/>Jenny hätten Sie sehen sollen an diesem Abend!<br/>Glacehandschuhe zog sie, gewisermassen, über die<br/>Zunge. So spitzig und kalt, so unnahbar verächtlich<br/>
220<br/><br/>wusste sie sich zu benehmen, dass Meyer kaum wagte,<br/>sie anzusehen. 1<br/><br/>„Geh’, Max, lass doch das Gesindel!“ sagte sie<br/>mehr als halblaut, als Herr Meyer in den ,Indianern*<br/>danebengriff, und Flametti auf der Bühne einen cho-<br/>lerischen Anfall bekam vor Indignation.<br/><br/>„Lass sie doch gehen! Sie haben’s ja nicht mehr<br/>nötig!** ' ; 1<br/><br/>Und als die Soubrette mit doppeltem Eifer nach<br/>der Kassiermuschel griff, um sich ins Publikum zu<br/>stürzen:<br/><br/>„Nein, lassen Sie nur! Ist nicht nötig. Rosa be-<br/>sorgte schon.**<br/><br/>Und auch Rosa hob ihre Nase von Stunde an<br/>höher und Bobby überkam ein solcher Aerger darob,<br/>dass er sie am liebsten geohrfeigt hätte.<br/><br/>Der Zustand wurde unerträglich. Und es war deshalb<br/>eine Erlösung für beide Teile, als Fräulein Laura an<br/>einem der nächsten Abende gelegentlich der ,Commis<br/>voyageusen* auf dem kleinen viereckigen Podium der<br/>,Drachenburg* aus'glitt und mit dem Steissbein so un-<br/>glücklich atuf eine Stuhlkante aufstiess, dass man sie,<br/>stöhnend und ächzend, in die Garderobe und von dort<br/>mit einer heftigen Prellung nach Hause bringen musste.<br/><br/>Eine alte Sympathie regte sich in Flametti und<br/>er war wirklich besorgt.<br/><br/>„Ach, Max,** hetzte Jenny, „gib’s doch auf! Sie<br/>simuliert ja nur! Merkst du denn nichts?**<br/><br/>Jetzt war Laura entschlossen, keinen Schritt mehr<br/>in die Vorstellung zu gehen. Kontrakt hin, Kontrakt<br/>her!<br/>
Und Herr Meyer sagte:<br/><br/>„Die sollen uns kennen lernen !“<br/><br/>Und Bobby sagte:<br/><br/>Geht’s besser, Laura?“ und stand sehr besorgt<br/>am Bett.<br/><br/>Und Lydia und Raffaela sagten :<br/><br/>„Den Doktor muss er bezahlen! Macht ihn doch<br/>schadenersatzpflichtig! Er muss euch Schmerzensgeld<br/>zahlen! So eine Gemeinheit!“<br/><br/>Und Lauras russische Freundin kam und sagte:<br/><br/>„Auf fnich können Sie zählen. Ich bin immer da<br/>für Sie.“ ; , l ,<br/><br/>Und Herr Meyer effektuierte mit Bobby zusammen<br/>mittels Kleister 'und Schnur die Bilderreklame für<br/>Arbon.<br/><br/>So war denn Flamettis Schicksal besiegelt.<br/><br/>Zwar sprang für Meyer in liebenswürdiger Weise<br/>Fräulein Lena als Pianistin ein. Und Fräulein Rosa<br/>rückte an Lauras Stelle. Und Lena meinte:<br/><br/>„Ich hab’s euch ja gleich gesagt: sie führen etwas<br/>im Schilde!“ j<br/><br/>Aber das half alles nichts. Das Geschäft wurde<br/>noch schlechter. Die Beiseln, in denen man auftrat,<br/>noch kleiner, ja nuttig.<br/><br/>Flametti verhehlte sich nicht, dass er blank, aller<br/>Hilfsmittel bar, in den Prozess eintrat.<br/><br/>In erregten Ergüssen versuchte er brieflich dem<br/>Anwalt in Bern Standpunkt und Situation eindringlich<br/>zu erläutern. { .<br/><br/>Aber das Aktenmaterial wurde dadurch nur immer<br/>grösser, das Plädoyer immer schwieriger.<br/><br/>Und als Flametti die Geduld riss und er ganz offen<br/>
222<br/><br/>auf einer Postkarte vermerkte, der Herr Anwalt wolle<br/>ihn offenbar nicht verstehen, der Fall sei doch sonnen-<br/>klar, da schrieb dieser Charge zurück, er bedaure un-<br/>endlich, mitteilen zu müssen, dass ohne einen weiteren<br/>Vorschuss von hundert Franken die Sache zu einem<br/>guten Ende kaum werde geführt werden können.<br/><br/>Herr Farolyi gab den Rat, die Verteidigung doch<br/>selbst zu führen und auf den Advokaten überhaupt zu<br/>verzichten. Und auch Fräulein Lena erbot sich, für<br/>die Sittliche Minderwertigkeit der Klägerinnen eine<br/>eidesstattliche Versicherung zu riskieren.<br/><br/>Aber Jenny wurde doch immer nervöser.<br/><br/>„Was machst du nun, Max?“ fragte sie ernstlich<br/>besorgt, als Max von Farolyi zurückkam.<br/><br/>„Was mach’ ich? Verteidige mich selbst.“<br/><br/>Und er nahm Feder und Papier zur Hand und be-<br/>gann die Verteidigungsschrift aufzusetzen.<br/><br/>Die Feder spritzte und die Worte sträubten sich.<br/>Aber es ging. !<br/><br/>,An den Herrn Präsidenten des<br/>Kantonalen Obergerichts, Bern/<br/><br/>Da stand es. Das war die Instanz. Und Jenny bekam<br/>einen Schreck, als sie’s so stehen sah.<br/><br/>Aber Flametti liess sich nicht stören. Mit einer<br/>schier unpersönlichen Korrektheit entledigte er sich<br/>der schwierigen Arbeit.<br/><br/>Er brauchte sich nur in die disziplinarische Ver-<br/>fassung von damals zu versetzen, da er auf dem Ka-<br/>sernhof zum erstenmal den Befehl eines Vorge-<br/>setzten entgegennahm, und die Stilnuance war gefunden.<br/><br/>„Fertig, aus!“ rief er, als er nach zweistündiger<br/>Arbeit unterschrieben und abgelöscht hatte. Er über-<br/>
las das Ganze noch einmal von Datum bis Schlusspunkt<br/>und er war sehr zufrieden damit.<br/><br/>„So,“ zog er findig die Stirn in Falten, „drehen<br/>wir die Geschichte mal um! Da schaut die Sache er-<br/>heblich anders aus!“<br/><br/>Und er verlas es auch Jennymama. Die war bass<br/>erstaunet.<br/><br/>„Ja, meinst du denn, Max, sie lassen es gelten?“<br/><br/>„Frage!“<br/><br/>Er spuckte, steckte die Hände in beide Hosen-<br/>taschen und nahm einen kleinen Abstand von seinem<br/>Elaborat.<br/><br/>„Hättest deutlicher sagen müssen, was das für zwei<br/>waren!“ drängelte Jenny.<br/><br/>Max zündete grossspurig eine Zigarre an.<br/><br/>„Was? Ist das nicht deutlich genug: ,Marktware<br/>der Wollust', ,der Perversion gefröhnt', ,schon in<br/>den Kinderschuhen verdorben'? Ich bin der Verführte,<br/>verstehst du? Angeboten haben sie sich. Gezwungen<br/>haben sie mich, direkt belästigt!“<br/><br/>Jenny war ganz verstört.<br/><br/>„Wenn es nur durchgeht, Max!“<br/><br/>„Frage!“ ! !<br/><br/>Sonntag, den zwölften, spielte man in der ,Jericho-<br/>binde' zum letztenmal die ,Indianer': Flametti, Jenny<br/>und Rosa.<br/><br/>,Und dort oben in dem ew’gen Jagdgebiet,<br/><br/>Singt der Indianer Volk sein Siegeslied.<br/><br/>Einmal wieder zieh’n wir noch auf Siegespfad,<br/>Einmal noch, wenn der Tag der Rache naht.'<br/><br/>Dann fuhr Flametti nach Bern.<br/>
224<br/><br/>Mit dem Nachtzug.<br/><br/>Jenny und Rosa begleiteten ihn zur Bahn. Rosa<br/>trug das Handtäschchen.<br/><br/>„Viel Glück, Max, und schreib’ gleich, wie’s aus-<br/>ging, damit man es weiss!“<br/><br/>„Wenn ich nicht schreibe, vveisst du Bescheid!“<br/><br/>„Ach, Maxei, wie wird es dir gehen?“<br/><br/>„Wird schon alles gut gehen!“ beruhigte er, und<br/>der Zug setzte sich in Bewegung_____<br/><br/>Er schrieb nicht, wie es gegangen war.<br/><br/>Ein, zwei, drei Tage vergingen. Da las Jenny es<br/>in der Zeitung, in einem Cafe. Sie trug ihre beste<br/>Toilette.<br/><br/>Sie liess sich ihren Schmerz nicht merken.<br/><br/>Gute Freunde lud sie zu sich ein, und so, in eng-<br/>stem Kreise, seufzend aufs Kanapee hingeschmiegt,<br/>suchte sie Trost und Vergessen.<br/><br/>Und nur den vereinten Bemühungen ihrer Freunde<br/>gelang es, ihr etwas Luft zu schaffen.<br/><br/>Herr Meyer aber ging pleite.<br/><br/>Ende<br/><br/>
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