12 Die Kulisse. Das Hermaphrodisische ist indessen nur ein Teil der proteischen Gesamtanlage; diese selbst hat tiefere Gründe. Gleichviel worin sie bestehen mögen, das eine ist gewiß: Menschen, die in der Wurzel erstarrt und vertrocknet sind, die sich nicht mehr ver setzen und wandeln können, hören auf, Gedanken zu haben und produktiv zu sein. * München beherbergte damals einen Künstler, der dieser Stadt vor allen andern deutschen Städten durch seine pure Anwesen heit einen Vorrang der Modernität verlieh: Wassilij Kandinsky. Man mag diese Einschätzung übertrieben finden, damals empfand ich es so. Was könnte einer Stadt auch Schöneres und Besseres begegnen, als einen Mann zu beherbergen, dessen Leistungen lebendige Direktiven der edelsten Art sind? Als ich Kandinsky kennen lernte, hatte er eben „Das Geistige in der Kunst“ und mit Franz Marc zusammen den „Blauen Reiter“ veröffentlicht, zwei programmatische Bücher, mit denen er den später so ent arteten Expressionismus begründete. Die Vielfalt und Innigkeit seiner Interessen war erstaunlich; mehr noch war es die Höhe und Feinheit seiner ästhetischen Konzeption. Was ihn beschäftigte war die Wiedergeburt der Gesellschaft aus der Vereinigung aller artistischen Mittel und Mächte. Keine Kunstgattung hatte er ver sucht, ohne ganz neue Wege zu gehen, unbekümmert um Hohn und Gelächter. Wort, Farbe und Ton waren in seltener Eintracht in ihm lebendig und er verstand es, noch das Verblüffende stets plausibel und ganz natürlich erscheinen zu lassen. Sein letztes Ziel aber war, Kunstwerke nicht nur zu schaffen, sondern die Kunst als solche zu repräsentieren. Sein Ziel war, in jeder einzel nen Äußerung exemplarisch zu sein, die Konvention zu durch brechen und zu erweisen, die Welt sei noch immer so jung wie am ersten Tag. Es konnte nicht ausbleiben, daß wir einander be