81 Das Mass aller Dinge Der Mensch beträgt sich, als habe er die Welt erschaffen und könne mit ihr spielen. Schon ziemlich zu Beginn seiner glorreichen Entwicklung prägte er den Satz, dass der Mensch das Mass aller Dinge sei. Schnell machte er sich darauf an die Arbeit und stellte von der Welt, so viel er konnte, auf den Kopf. In Stücke zerschlagen liegt die Venus von Milo am Boden. Mit dem Mass aller Dinge, mit sich selbst, hat er gemessen und sich vermessen. Er hat die Schönheit verschneidert und verschnitten. Aus der Masschneiderei wurde ein Konfektionshaus, und aus dem Konfektionshaus ist heute eine Formen schau der Tollheit geworden. Verwirrung, Unruhe, Unsinn, Wahnsinn, Besessenheit beherrschen die Welt. Fötusse mit geometrischen Doppelköpfen, Menschenleiber mit gelben Nilpferdköpfen, fächerförmige, berüsselte Misch wesen, bezahnte Mägen an Krücken, schleppfüssige Pyramiden mit tränenden Menschenaugen, Erdklumpen mit Schamgliedern und so fort, sind auf Lein wänden oder in Statuen entstanden. Die Schönheit versank nicht unter den Trümmern der Jahrhunderte Als sich die Person, der Intellekt, die Philosophie aus der sagenumwobenen Tiefe der mythischen Menschheit löste, als die Natur vom Menschen entdeckt wurde, als “die Erde, das wogenreiche Meer, die feuchte Luft und der Titan Äther” feierlich besungen wurden, weilte die Schönheit nackt unter den Menschen. Jedes Jahrhundert wandelte sich die Schönheit. Die Schönheit versank nicht unter den Trümmern der Jahrhunderte, aber in der Maya, in den Trug bildern. Sie wurde so reich beschenkt mit den seltensten Gewändern, dass sie nicht mehr wusste, in welchen sich zeigen. Welches ist das ursprüngliche Bild der Schönheit? Welches ist das Bild “der Schönheit, die gequollen vom Quell ursprünglichen Bilds”? Ist es die nackte Körperlichkeit der Griechen, ist es die Verkleidung, die Verschleie rung, das Schauspiel der Renaissance, ist es die entkörperlichende Sehnsucht der Gothik, ist es der Würfel und die Kugel, ist es die Liebe und die Harmonie von der Empedokles sagt: “Da breiten sich nicht von einem Rücken zwei Arme aus noch sind da Füsse oder schnelle Knie oder zeugende Glieder, son dern es war ein Sphairos, von allen Seiten sich selber gleich.”