K\s te stolz waren wir auf unsere Individualität. Ein jeder kauzte sich Ln seine Ecke hinein und war eine Welt für sich, die nur von ihm selbst verstanden wurde, die eigensinnig ihre eigene Bahn ging, den Andern fern und jedenfalls anders als die Andern. Die Stände, die Rlassen schlossen sich voneinander ab. Was wußte der Offizier von dem Gelehrten, der Bauer vom Bürger, der Rünstler vom Hand werker, sie lebten alle auf ihrer eigenen Insel, von der nur schmale Brücken zu den Inseln der Andern führten. Daß wir ein Volk waren, wußten wir, zuweilen war der Eine oder der Andere stolz darauf. Den Meisten jedoch war das deutsche Reich ein politifcher Begriff oder die Ordnungsmaschine für all die Sonderinteressen der deutschen Allgemeinheit. Und jetzt in Deutschlands schicksalsvollstem Augenblick, jetzt plötzlich denken Millionen von Deutschen einen Gedanken, fühlen e i n e Leidenschaft, haben einen Willen. In dem differenziertesten wie Ln dem einfachsten Manne erwacht etwas, das sie einander gleichmacht, sie nah zueinander führt, mühelos verstehen sie einander, als hatten sie die gemeinsame Muttersprache vergessen und fanden sie nun wieder. Das Volk fühlt sich als e i n Volk. Und der Deutsche entdeckt, daß dieses Gefühl eine unwiderstehliche, mystische Rrafc ist, etwas ganz Weißes und Lebendiges, etwas, das stark und einfach macht. Dieses Gefühl, wie ein Wunder in großer Stunde geboren, ist zwingend wie die Liebe, aber eine Liebe, die den Einzel nen über sich selbst erhebt, damit er sich Eins wisse mit seinem Volke. Eduard Graf Keyserling