und in dem Augenblick, wo seine Gedanken beim Einzug in Berlin weilen, die Preußen in den Straßen von Paris sieht und auf seinem Balkon zusammenbricht? Gleich diesem Mädchen fälschte ich die Wahrheit — nicht so schlimm wie in der Novelle, denn wir standen ja gut, aber ich ließ heute ein Fort von Toul nehmen, morgen Reims erobern, Soissons wurde unser, schon standen wir wieder vor Paris. Ich hoffte immer, die Wirklichkeit hole mich ein, aber zuletzt mußte ich die Schützengraben, mit denen sich beide Heere Schach geboten, doch wieder einführen, nur daß sie ein Stück südlicher als in Wirklichkeit lagen. Er begriff. Er verzweifelte nicht, aber die Spannung in ihm brach, er wandte sich wieder sich selbst zu und verlangte wieder zu sterben, wir waren so ver traut miteinander geworden, daß er wie ein Rind mit seiner Mutter mit mir sprach. Ich sei sein Freund, und ich sei ein Mann: hilf mir doch, gib mir das Gift. Das Gift: Ich hatte es und brauchte es nicht einmal zu entwenden. Vor Jahren war an alle Offiziere, die in Afrika gegen die Hereros kämpften, ein Fläschchen Lyankali gegeben worden, damit sie verwundet nicht in die grau samen Hände der wilden zu fallen brauchten. Einer meiner Freunde war gesund zurückgekommen und hatte es mir zum Andenken überlassen. In der Falte meiner Handtasche hatte ich es jetzt wiedergefunden und dieser Zufall beschäftigte mich. Ein kleines weißes Pulver, auf einen Löffel gelegt und an diese Lippen geführt, und es war vollbracht. Hatte ich das Recht dazu? Ich ging seine Verletzungen durch. Die Ohren, das war nicht schlimm; die Nase konnte ersetzt werden. Die Augen — es gab so viele Blinde, und gewiß war sein Weib gut. Aber das andere — auch das vielleicht wäre zu tragen gewesen. Doch zusammen mit den Augen — nein; alles zusammen — ein geschändeter Mann, ein vierfacher Krüppel, Nein, das fühlte man unmittelbar. Da sollte er weitertransportiert werden, nach Deutschland hinein, wieder sein XXit, nie, wieder der Schwur, er werde auf hundert Arten sich zu töten versuchen, sich losreißen, keine Nahrung mehr nehmen. Und das, der Hunger tod, wurde seine Erleichterung. Er nahm nichts mehr an. Der Oberstabsarzt drohte mit Zwangsernährung, aber der Hauptmann hörte an seiner Stimme, daß er es nicht befehlen würde. Er richtete eine letzte verzweifelte Bitte an mich. „Für alle in der Heimat bin ich schon lange tot, sie tragen seit Wochen Trauer, sie sind gefaßt, wer wollte ihnen und mir ein so entsetzliches wieder sehen zumuten?" Da sprach ich ihm von meinem Fläschchen. Er verlangte, ich solle ihm das Gift geben, Gott und die Menschen würden mich freisprechen. Ich selbst konnte es ihm nicht eingeben, aber ich kratzte das Schild mit dem Totenkopf ab und löste die Schnur über dem Pfropfen. Am nächsten Morgen fand man ihn tot. Der Oberstabsarzt sah mich an. Ich hielt den Blick aus. Er fragte nicht und steckte das Fläschchen zu sich. Dann stellte er den Totenschein aus. Hatte ich Recht? Nein, hatte ich Unrecht, großes Unrecht? Otto Flake ros