155 L?er Begriff „Volk" setzt sich in Friedenszeiten eigentlich aus vielen Handlungen, Äußerungen und Werken zahlloser Einzelner zusammen und das geistige, wie das sinnliche Antlitz des Volkes enthüllt sich mehr in höchstpersönlichen Taten seiner geistigen Führer, als in allgemeiner, schlüssiger Bedeutung der Gesamtheit. Aber Augenblicke verraten dieses vielfältige, doch im wesentlichen streng be stimmte Angesicht einer Nation, an dessen Zügen die Großen und weithin sichtbaren Einzelnen ebenso schaffen, wie jeder geringe und unter der Scholle seiner Tage verborgene Alltagsmensch im Volke. Die ferne Vergangenheit schlägt ebenso ständig mit an diesem gewaltigen Steinblock, der die Form des Bildes „Volk" enthält, wie die Gegenwart, und die Zukunft wird weiter daran schaffen. Dieses Antlitz und diese Seele waren in Urzeiten, als die Geschicke der vielen Stämme, die noch unzusammenhängend in sehnsüchtigen Wander zügen ihre Wohnsitze wechselten und suchten, gegeneinander und mit fremden Völkern kämpfend, mannigfache Verbindungen eingehend und wieder lösend, Verwandtschaften und Blutmischungen anstrebend und abstoßend, vorbestimmt und gegeben, wenn auch gleichsam noch im rohesten Felsen mit starrer Unver brüchlichkeit schlummernd, sie waren ebenso gegeben, wie heute, wo sie durch die Arbeit vieler, in unzähligen Gräbern ruhender Geschlechter, deutlicher, seelen- hafter, mannigfaltiger ausgeformt erscheinen. Die Züge seyen sich, wunderbar, widersprechend, vielfältig und dennoch in großen Augenblicken eindeutig, mit der Erhabenheit einer Offenbarung zusammen, und wenn die Stunde kommt, da das Volk aus irgend einem großen oder kleinen Anzeichen — gibt es ein großes oder kleines Wunder? — sich als solches offenbart, wissen wir alle: „das ist deutsch" und können die Erscheinung mit keiner andern irgend einer andern Nation verwechseln, das größte Werk, wie das kleinste kann, wenn es dem Herzen des Volkes angehört, keinem andern eignen, als eben dem seinen. Deutsch ist das Rechtssprichwort, das deutsche Volk schlägt sein blaues Auge auf, wenn sein uraltes Märchen mit dem geheiligten Wortlaut erzählt wird, den die Brüder Grimm für unsere Ewigkeit gesammelt und aufbewahrt haben, die diesen stillen Sinn besaßen für das Angesicht und den gesunden Heldenkörper der Deutschen und die mit ihren treuen Händen an den Zügen mitgebildet haben, die wir erkennen. Deutsch ist das Volkslied, das in jedem Tal, auf den Höhen, am Meer, in den vielen Mundarten ersonnen und gesungen wird, die doch in der einen, einzigen Einheit der Sprache zusammenfließen, welche die unsrige ist. Deutsch und nur deutsch ist und kann sein die zugleich so viel sinnliche und so überirdische, aus dem Einzelnen ins Jenseitige hinab—hinauf langende Zeichnung eines Albrecht Dürer, die erhabene Vielfältigkeit und klare Verfchlungenheit Sebastian Bachs, die barocke Großheit und einfache Massigkeit