an einem Zaun vorbeigeht, in dem eine Latte fehlt; ob er diesen oder jenen
oder einen anderen Traum hat, welcher die Zahnlücke ausdrückt, das hängt
von Erinnerungen und Assoziationen ab, die mit der Zahnlücke nichts zu tun haben.
Man nehme als Beispiel für einen solchen Ausdruck des Gefühls die Lehre
vom ewigen Leben.
Die Zeit ist eine Vorstellungsform, ohne die wir in unserem Leben nicht
sein könnten. Religion geht aber auf etwas, das hinter unserem gewöhnlichen,
bewußten Leben liegt, und in seltenen Augenblicken einer Hochspannung des
Gefühls können wir dann sogar den Eindruck haben, daß die Zeit schwindet.
Ein mystischer Dichter versucht diesen Zustand auszudrücken durch den Vers
„wem Zeit wie Ewigkeit und Ewigkeit wie Zeit, der ist befreit von allem Leid".
Der Zustand ist nicht darzustellen; und wenn wir das, was hier gemeint ist,
und das jenseits unseres Vorstellungskreises liegt, doch sagen wollen, so müssen
wir das doch wieder mit unseren Vorstellungsformen sagen; wir schneiden ver
standesmäßig zwei Eigenschaften der Zeit ab: Anfang und Ende, und sprechen
dann von Ewigkeit. Vorstellen können wir uns diese Ewigkeit natürlich auch
nicht, wir können sie aber doch wenigstens durch jenen logischen Runstgriff
sagen; es ist das ein ähnlicher Vorgang, wie bei der Mathematik der 3+ n
dimensionalen Gebilde; man glaubt zu haben, wo man nie haben kann. Hat
die Menschheit aber erst einmal den Begriff der Ewigkeit, so beginnt sie mit
Ausmalen, natürlich wieder aus dem Gebiet des äußeren, des wirklichen Er
lebens, das mit der Religion gar nichts zu tun har: man verlegt Lohn und
Strafe in die Ewigkeit und stellt sich Gott vor wie einen kurzsichtigen Menschen,
der etwa Richter ist, indem man sich dabei natürlich in unlöslichem Widersprüche
verwickelt; und je nach Seele und Geist des Volkes, der Zeit und des Einzelnen
wird dann dieses „Jenseits" mehr oder weniger sinnlich ausgemalt als eine
Art Diesseits, das nur nach den wünschen und Neigungen des Betreffenden
neu eingerichtet ist. So kann denn zulegt, was ursprünglich Ausdruck des
religiösen Gefühls war, sogar antireligiöse Lehre werden, im besten Glauben
natürlich. Lehren etwa wie Prädestination und Gnadenwahl sind doch eigentlich
das Grausigste von antireligiösem Geist, was man sich denken kann, und sie
sind ausgegangen von religiösen Denkern. Ich glaube, daß die religiösen
Dichter ein reineres Gefühl haben wie die Denker.
Da das Gefühl das Ungreifbare, der Ausdruck aber das Greifbare ist,
da das Gefühl häufig schwindet, der Ausdruck aber bleibt, so wird der Ausdruck
immer so hochgeschätzt und mit der Religion selber verwechselt.
wir sahen nun am Anfang dieser Auseinandersetzung, daß ein neues
religiöses Gefühl offenbar durch unser Volk geht, .welches bei Vielen in den
SL