fassenderen Sinne ist Picassos gestaltendes Schaffen stets ein kreativer Akt gewesen, der Akt eines Schöpfers. Bei nicht wenigen Künstlern gilt der Satz: «Er lebte, um zu malen, er malte, um zu leben.» Bei Picasso indessen verdichtet sich die zweite Hälfte der Sentenz in exemplarischer Weise. Malen als lebenspendender und lebenserhaltender Akt! Unter diesem Vorzeichen muss die dauernde Auseinandersetzung des späten Picasso mit der lebenspendenden Liebes- vereinigung, mit dem Motiv des Kusses gesehen werden, dem ja das Moment des «Zum-Leben-Erweckens» durchaus eigen ist — man denke nur an die zahlreichen diesbezüglichen Schilderungen aus der Welt der Sage und des Märchens. Wobei der flüchtige Augenblick des Kusses bei Picasso zu gefühlsbetonter Vereinigung, Ja zum recht brutalen « Ineinander-Verbeissen» der beiden Gesichter (Avignon 1970, Nr. 102) oder zu formaler Monumentalisierung oder Ornamentalisierung (Avignon 1970, Nr. 105) gesteigert werden kann. Das Bild der Jenny und Georges Bloch- Stiftung ist, was die emotionelle wie die formale Seite betrifft, zurückhaltender. Auch in diesem Bild werden die beiden Gesichter in enge Verbindung gebracht; die Furcht ausdrückenden grossen Augen der Frau, die Lippen, die sich nicht berühren, die über- grosse Hand des Mannes, der den Ober- körper der Frau an sich presst — dies alles sind Gesten der (inneren und äusseren) Bewegtheit, die in den eingesetzten Stil- mitteln ihre formale Bestätigung findet. Auf den ersten Blick würde man das Bild für unvollendet halten. Der spontan und zufällig wirkende gelb-grüne Farbfleck in der rechten oberen Ecke, der nur skizzierte grosse Schlapphut und die übergrosse Hand im Vordergrund am untern Bildrand heben sich von den vergleichweise durch- modellierten Gesichtern ab und erwecken möglicherweise den Eindruck, als ob der Maler das Interesse am Bild vorzeitig verloren hätte. Davon kann allerdings keine Rede sein, denn es ist gerade ein charakte- ristisches Merkmal von Picassos Altersstil, dass er die Leinwand in der Regel nicht mehr gleichmässig ausmalt, sondern die ver- schiedenen Grade der Vollendung einander bewusst gegenüberstellt. Bereits mit der kubistischen Collage hat der Künstler ein erstes Mal die Homogenität der Bildober- fläche in Frage gestellt. Jetzt, gut ein halbes Jahrhundert später, erreicht er denselben Effekt allein mit Pinsel und Farbe. Die absolute Freiheit, deren sich Picasso in seiner letzten Schaffensjahren in der Handhabung der Bildmittel bedient, ist Merkmal dieser Bilder, die gerade dank dieser Freiheit als Alterswerke zu bezeichnen sind. Alterswerke allerdings nicht im Sinne einer beruhigenden Abgeklärtheit. Picasso bleibt bis zuletzt dynamisch, expressiv. Dramatisch gestaltet er das Hintereinander räumlicher Staffelungen holt einzelne Darstellungsgegenstände — eine Hand etwa! — ganz nah zu sich heran und lässt andere Motive zurücktreten. Der fliessende Blickpunkt des Malers, der sich nicht auf eine einzige Perspektive festlegen Jässt, ist wiederum seit den Tagen des Kubismus ein bekanntes Phänomen. Wie denn überhaupt zu sagen ist, dass Picasso In seiner Spätzeit häufig auf Erfahrungen seiner heroischen Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückgreift, dies nicht in bewusster Anlehnung, sondern in freier und um- deutender Weise. In diesem Sinne kann auch die Verbindung von Frontal- und Profil- ansicht der Gesichter gesehen werden: 175