HInNwEIS AUF EINIGE NEUERWERBUNGEN CHTHONISCHES Rubens’ «Orpheus» ist also wieder aus der Unterwelt emporgestiegen: Unterwelt — das heisst hier im Klartext: ein Schliessfach im Keller der Stadtsparkasse von Neu-Isen- burg bei Frankfurt; Pluto waltet dort nicht als Totenrichter, allenfalls als Gott des Reichtums. Ebendort wohnte übri- gens lange Zeit Karl Binding, dessen Stiftung wir den Rück- kauf der Ölskizze verdanken. Unterwelt —was heute Mafia und anderes organisiertes Verbrechen heisst, bedeutete einst das Reich der Toten, das die Gedanken der Lebenden erfüllte — doch seit der Aufklärung haben wir dafür Geschichtswissenschaft und Museen. Und so fehlt es denn im Kunsthaus nicht an Darstel- lungen chthonischer Mächte: Christianisiert lodern die höllischen Flammen auf dem «Engelsturz» des grossen Michaelsaltars des jüngeren Zürcher Nelkenmeister; wie nach dieser Katastrophe Satan aus dem Feuermeer Beel- zebub aufruft, gestaltet Füssli nach Miltons Vorstellung. Im Hintergrund von Delacroix’ Bild des sein «Paradise lost» diktierenden Dichters sieht man nach Raphaels Vorbild, wie Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben werden: Rubens paraphrasiert und adaptiert das Paar zu Orpheus und Eurydike, liegen doch die Elysischen Felder mit den seligen Geistern ebenso im Jenseits wie das Feuermeer, das hinter Pluto lodert. Ausgeburten der Unterwelt geistern auch durch andere Gemälde Füsslis: die Sünde vom Tod verfolgt, die rächenden Erinnyen, die Alkmaion von der Leiche seiner Mutter vertreiben, der Schatten des Patroklos, nach dem Achill sehnend die Arme reckt. Lieblicher malt Angelika Kauffmann die von Amor wieder auferweckte und getröstete Psyche, nachdem sie auf Befehl der Venus bei Proserpina Schönheitssalbe holen musste; noch sieht man links den Eingang zur Unterwelt, aus der sie stieg. Aufeiner lieblichen Wiese spielte auch Eurydike, als der Biss einer Schlange sie tötete. Untröstlich strebte ihr Gemahl Orpheus in die Unterwelt und bezauberte mit seinem Gesang alle chthonischen Mächte. Ein grosses, erst neulich bestimmtes Frühwerk von Mattia Preti, das im Kunsthaus der Restaurierung harrt, zeigt nach Ovids Schil- derung im 10. Buch seiner «Metamorphosen» den Sänger vor dem Höllenfürsten, während selbst die unendliche, sinnlose Wiederkehr der Qualen der Verdammten — der Stein des Sisyphos, das Rad des Ixions, der Durst des Tan- talus —durch die Macht der Töne unterbrochen wird. Und bereits erscheint Eurydike hinter dem Rücken ihres Geliebten. Merkwürdigerweise glaubt man in dieser antiken Gesellschaft den mittelalterlichen Sänger der aus- serirdischen Orte zu erblicken: unverkennbar ist Dantes adlernasiges Profil unter dem Lorbeerkranz, der ihn mit seinem archetypischen Vorgänger vereint. In Kunst und Jenseits herrschen offensichtlich andere Gesetzmässig- keiten der Zeitlichkeit: immer wieder versuchen göttliche Sänger die Zeit aufzuheben, das in den Abgrund der Ver- gangenheit und des Vergessens Entschwindende beschwö- rend zu retten. Gegenüber Pretis breit erzählenden, im lyrisch Zuständ- lichen aufgehobenen Szenerie konzentriert Rubens das Geschehen auf die psychische Interaktion der vier Hauptfi- guren. Dem griechischen Thema entsprechend, entwickelt er die Komposition in der Art antiker Reliefs in bildparal- leler, isokephaler Reihung; die Abweichung von der damit gesetzten Regel wird dadurch um so sprechender. Die sinn- volle Zuordnung der vier Hintergrundzonen zu den vier Personen unterstreicht diese Bildorganisation: Während dem ins Freie strebenden Orpheus der schmale Streifen offenen Raumes am linken Bildrand zugewiesen wird, um- flammt die Höllenglut den finsteren Fürsten, dessen Bei- trag zum Geschehen offensichtlich nur darin besteht, dass er nicht eingreift; in der grossen Ausführung fand Rubens mit einer in sich kreisenden Verspannung der Arme dafür ine sprechendere Haltung. Das eigentliche Drama aber findet zwischen den beiden Frauen statt, der hell leuchtenden Eurydike vor der Rustika-Mauer und der dunklen, Trauer tragenden Proser- pina. Sie öffnet mit weisender Geste dem Paar den Weg zu- rück aus der Unterwelt, in die sie einst selbst von Pluto ent- führt wurde. Die Erinnerung an das schreckliche Ereignis