HINWEISE AUF EINIGE NEUERWERBUNGEN EIN ZEITLOSES STILLEBEN VON PIETER CLAESZ Vor einem Jahr hatten wir bereits Gelegenheit, an dieser Stelle ein beispielhaftes niederländisches Stilleben des 17. Jahrhunderts zu besprechen. Das reife Stilleben mit Hummer von. Jan Davidsz de Heem, ein Prunkstilleben in seiner knappsten und präzisesten Form, kann als Inbegriff dessen gelten, was im dritten Viertel des 17. Jahrhunderts, dem Höhepunkt des Gouden Eeuw, unter Stilleben ver- standen und hoch geschätzt wurde; entsprechend zogen wir zur Interpretation vorzugsweise Gesichtspunkte aus jener Zeit bei. Das Gemälde, das heute betrachtet werden soll, stammt aus der vorangehenden Stilstufe, die auch de Heem in den Dreissiger Jahren durchschritten hat; ihr Hauptmeister ist aber neben dem mehr lyrischen Heda der strenge und kraftvolle Pieter Claesz. Bereits im späteren 17. Jahrhundert erschienen diese sogenannten «mono- chrome banketje» als zu streng, zu nüchtern, zu leer, eine Wertung, die sich heute völlig gewandelt hat und zumal in Zürich, wo unter den Kunstliebhabern die zur Abstraktion tendierende klassische Moderne geschmacksprägend wirk- te, Deshalb versuchen wir im Folgenden, eher die zeitlosen ästhetischen Qualitäten dieses Gebildes zu verdeutlichen. Einfachheit ist nach der dinglichen Präsenz wohl das auf- fälligste an diesem Stilleben: wie sonst nur bei geometrisch- konstruktiven Bildern überblickt man hier sofort die wenigen Elemente und ihre Struktur vollständig. —In eine schon seit je unübersichtliche, bedrohliche, verwirrliche Welt ausgesetzt, ist dem Menschen das Einfache Halt und Beruhigung; ohne die Komplexitätsreduktion ordnender Strukturen kann er nicht überleben. Religion, Philoso- phie, Naturwissenschaften unterwerfen die chaotische Fülle des zufällig Vorhandenen ihren einfachen Gesetz- mässigkeiten: was nicht in ihre Raster passt, lässt man beru- higt als irrelevant beiseite. Diese individuellen Reg zu denen als naheliegendste der pausenlose Strom der Sinnes- eindrücke und damit die Oberfläche alles Wahrgenom- menen gehört, werden allenfalls von der Kunst aufgehoben — in doppeltem Sinne: gerettet und in ihrer Verwandlung ins Kunstwerk zugleich vernichtet. Denn nur in ihrer Verein- fachung in eine gestalthafte Form kann diese Transforma- tion gelingen. Kunstgeschichte kann so als Geschichte von Vereinfachungen geschrieben werden: einerseits als Folge der Bestimmungen dessen, was zugelassen und was ausge- schlossen ist für die Grenzen ihres Umfanges, andererseits als Wandel ihrer formalen Strukturen für die innere Organi- sation der Werke. «In der Kunst besteht der Fortschritt nicht in der Erweiterung, sondern in der Erkenntnis der Grenzen», stellt Georges Braque als erster Punkt in seinen «Gedanken über die Malerei» (1917) fest. Dass hier der Kubist nicht von «Definition», sondem von «Erkenntnis der Grenzen» spricht, zeugt von dem Glauben der formali- stischen Avantgarde an eine vom inneren Wesen der Kunst bestimmten Fortschritt zum immer Einfacheren — in extremis fällt folgerichtig die Grenze mit der scheinbar notwendigen Definition ihrer Grundbestimmungen zu- sammen: es sind die Grenzfälle der Minimal Art, auf die notwendig die Postmoderne folgt. Doch so einfach ist die Kunst, geschweige denn das Leben, nicht. Von Adolf Loos’ moralischer Entrüstung über das Ornament als «Verbrechen» beflügelt, purgierte das Bauhaus die Architektur, bis seine Epigonen in Ven- turis «Complexity and Contradiction» ihre berechtigte Kritik erfuhren. Einfachheit scheint ihre eigenen Gesetze zu haben: als hohe Kunst gelingt sie vorzüglich im Durch- bruch aus komplizierteren Bedingtheiten; ihre Energie springt gewissermassen aus der Fallhöhe der erzielten Komplexitätsreduktion. Analogien mit der Quantenphysik oder der Lösung aus dem Freudschen «Unbehagen in der Kultur» drängen sich auf. Doch die neue, frappante Einheit verflacht bald, im besseren Fall zu einem erfreulichen «Ver- nacular», im schlechteren zu öder Langeweile. Denn die neue einfache Lösung eröffnet, wenn sie fruchtbar ist, neue Fragen, neue Spielfelder, und enthüllt so gewissermassen Ihren komplexen Kern: der Übergang von der Vielheit zur