näher und machen sich mit einem neuen Realismus gel- tend. Auch dafür bietet unser Bild bestes Anschauungs- material: vorn und in der Belle-Etage komplimentierende Höflinge und disputierender Klerus, sodann reichlich gaffende Bürger und Volk, vor allem aber die Bauhand- werker, die Steinmetzen rechts und die Fundamentarbei- ter links, in der Mitte vor der Bauhütte wohl der leitende Stadtbaumeister Johann Georg Schmid mit einem Polier, auf dem Turm selbst der Maurergeselle Künzelmann, der mit dem Zimmermann Stephan mittels einer speziell kon- struierten einholmigen Leiter am 2. Juli auf die Ruine klet- ;erte und gegen eine Entschädigung von fünfzig Thalern - was zwanzig Wochenlöhnen entsprach - den Abbruch eförderte. Drei Tage später soll übrigens auch Bellotto auf den Turm gestiegen sein, um sein Objekt aus unmit- telbarer Nähe zu studieren. Ameisengleich wirken Hilfs- kräfte in dem Schuttkegel, und wie 1945 schleppten schon damals «Trümmerfrauen» mit Hutten den Abraum weg. Dahinter bildet schliesslich die besonders trostlos wir- kende Brandruine der Kreuzschule eine düstere Folie?®. Damit nähern wir uns wieder dem durchaus unge- wöhnlichen Charakter des Gemäldes; es ist ohne Zweifel die dramatischste Darstellung einer durch Kriegseinwir- kung entstandenen Ruine der älteren Kunst. Nicht in auf- wendig gemalten Veduten, sondern allenfalls in meist schlechten Kupferstichen, zeitungshaft rapportierender Gebrauchsgraphik, wurde solch Unerfreuliches, Ruhmlo- ses abgebildet. Man hat in Bellottos grossen Stadtansich- ten eine neue Form der Darstellung des «buon governo», der «Guten Regierung», wie sie in allegorischer und reali- stischer Form seit Lorenzettis Fresken im Palazzo Publico in Siena vorkam, erkennen wollen!’: nicht mehr im rhe- torischen Schwulst barocker Allegorik wollten die aufge- klärten Herrscher die Früchte ihres Tuns sehen, sondern in der unmittelbaren Tatsächlichkeit volks- und gewerbe- reicher Städte mit eleganten Neubauten, wohlangelegter und trutziger Befestigungsanlagen, prächtiger Lustschlös- ser wie Schönbrunn, Nymphenburg oder des Dresdener Zwingers, Und nun dies: eine spektakuläre Ruine, ein frontaler, gespaltener Turm mit offenen Eingeweiden. Und so Mmonumental ragt er zum oberen Bildrand über dem Schuttkegel seiner eingestürzten Hälfte auf, dass das von unausweichlicher Objektivität getragene Pathos dem Gemälde eine bezwingende expressive Qualität, ja den Charakter einer «allegorie reelle» verleiht!®. Es wird zum Bild des Ruins des sächsischen Staates im Fiasko des Sie- venjährigen Krieges, zum Mahnmal für die Zerstörung der Städte überhaupt, deren Darstellung Bellotto sein Leben gewidmet hatte. Die volle Schärfe dieses kühlen und zugleich visionären Realismus tritt aber erst in der kri- tischen Differenz zu den damals beliebten Ruinenbildern hervor, die zunächst nostalgisch Grösse und Vergänglich- keit Roms evozierten und bald zu einem dekorativen Genre verkamen: dieser Beliebigkeit wird hier die brutale Wirklichkeit ohne arkadische Hirten und Schäferinnen, sondern mit hartem Alltagsleben entgegengesetzt. Dass das Leben auch in den Ruinen weitergeht und das Zerstörte wieder aufgebaut wird, wenn auch mit Schwie- rigkeiten und Rückfällen, wird allerdings gleichfalls gezeigt. So müssen für die Zeitgenossen wohl besagter Künzelmann und seine Gesellen die heimlichen «Hel- den» des Bildes gewesen sein, deren Heldentat ironischer- weise in mutig-zweckmässiger Abbrucharbeit bestand. Und diese Aspekte standen wohl im Vordergrund, als das Gemälde in der ersten Ausstellung der nach dem Frie- densschluss von Hubertusburg gegründeten Akademie gezeigt wurde: denn hier sieht man, wie von Kunst gelei- tet der Gewerbefleiss die Ruinen überwindet - und genau dies war der Zweck des neuen Institutes, in dem Bellotto Perspektive unterrichtete. «Aus Mitleid» kaufte der Hof das Gemälde für 200 Thaler dem verschuldeten Maler für die berühmte Galerie ab; als einziges wird es in deren Katalog aus dem gleichen Jahr erwähnt, und tatsächlich scheint es dort bis um 1830 seine Kunst allein vertreten zu haben. Auch das Professorengehalt erhielt er als einzi- ger aus der Hofschatulle; mit 600 Thalern war es unter den höchsten und doch nur noch ein Drittel des einstigen Salärs des Hofmalers. So widmete Bellotto die Radierung nach dem Gemälde der Witwe Augusts III., während das Gegenstück mit den Ruinen der Pirnaer Vorstadt vom Prinz-Administrator Xaver, der die Regierung für seinen minderjährigen Neffen führte, erworben wurde. Doch die wirtschaftliche Situation des Malers blieb bei seinem Aufwand in dem verarmten Dresden unhaltbar, und da auch sein Professorengehalt auf drei Jahre befristet