139 Dieses Weib habe ich in einem frühem Leben bereits gesehn. In Umbrien, bei Perugia, oder im Mugello/ Giotto hat ihr den Schritt über Gras abgelauscht. Dann gingen alle seine Bauern so einfach und leicht aus Selbstverständlichkeit. Hundert Jahre später war sie die Magd der Judith bei Sandro Botticelli. Unwissend wie heute als russische Bäuerin. Ent weder sind beide die Gleiche, oder verwandt. Man muß nur ein wenig tief atmend nach- denken, dann erinnert man sich. Also Verwandtheiten über Weltteile hinaus, durch Jahr hunderte hindurch! Marc Chagall: welch ein herrlicher Regenbogen durch die Nacht ge spannt! Als Mann im Mond können wir Chagall sehn. Er schwebt mit Gießkanne und Stern augen auf dem Kleid, als solcher, über die Kuppeln orthodoxer Kirchen dahin. Eine ge träumte Eselin steht da als Wahrzeichen künftig sanfter Zeiten / denn Zwillinge, der erste Halbmensch und das beste Vieh hängen an der Eselin Eutern. Rußland wird keine Wölfin haben, die das Stadtgründer-Zwillingspaar säugt. Chagall ist voll von wundervollem sarmatischen Bauerntum. Chagall kommt aus Paris. Das Pyramidale der Großhauptstadt sieht er durch das Fen ster. Der Eiffelturm ist bloß ein Eisenobelysk neben den astralen Riesenkristalltetraedern an den Seineufem. Nur Chagall kann sie sehn: er ist ein Sonntagskind. Die Werktäglinge müssen sich mit dem Eiffelturm begnügen. Chagall ist ein Januskopf: er sieht zugleich Paris und blickt davon weg. Folglich ein Hirn mit zwei Gesichtern. Er bricht sich durch, ins Gegenwärtige, und hängt ab vom Obergegenwärtigen. Sein Tier schleicht oft auf dem Fensterbrett umher. Halb Schleichkatze, halb Menschenantlitz. Nachts verkriecht sie sich zumeist in Chagalls Schädelstube und fängt an behaglichst darin zu schnurren. Dann schnarcht Chagall für die Anwesenden. Seine silberblaue Bauernmaus schlüpft dabei aus dem Kopf und knistert im Winkelgerümpel herum. Seine Gemütswürmchen schwirren glühend aus. Seine Sorgenspinne kennt das Hirngespinst des Tages und klebt nachts darin, entweder im Fensterrahmen oder imGegitter des Eiffelturms. Bis der Mond zu hoch kommt. Chagall hat das siamesische Zwillingspaar gemalt. Er versteht sich auf Dopplungen. Goldne Stanniolsonnen gehn über vierfachen Purpurhorizonten auf. Bäume aus Mond schein blühen lila Geheimnisse in die Nacht. Sie werden blaue Ruhefrucht tragen. Chagall hat seine ganz eigne Nacht. Theodor Däubler