114 Das Kunstwerk ist wie jede Einheit nicht Summe, sondern Zustand, wie ein chemischer Stoff nicht die Summe seiner Elemente ist. HaO bedeutet nur das Verhältnis von je 2 Teilen Wasserstoff zu je einem Teil Sauerstoff. Es bedeutet, daß sich je 2 Teile Wasserstoff und je ein Teil Sauerstoff das Gleichgewicht halten. Addiere ich SO3, so erhalte ich als H2SO4 einen neuen Stoff, der nicht mehr Wasser, sondern Schwefelsäure ist. In gleicher Weise ändert sich das Wesen rein künstlerischer Gestaltung, wenn ich zu dem Rhythmus der Teile etwa die Wirkung für oder gegen irgend etwas hinzunehme, und aus Kunst wird Kompromis. Man sieht, daß ich als Künstler mich nicht dazu bereit erklären kann. Nur Gleichgewicht ist das Ziel des Kunstwerks, und Kunst ihr Zweck. Kunst will nicht beeinflussen und nicht wirken, sondern befreien, vom Leben, von allen Dingen, die den Menschen belasten, wie nationale, politische oder wirtschaftliche Kämpfe. Kunst will den reinen Menschen, unbelastet von Staat, Partei und Nahrungssorgen. Man hält mir entgegen, daß ich die Zeit nicht miterlebte, wenn ich sie nicht irgendwie im Kunstwerk wiederspiegelte. Ich behaupte, daß die abstrakte Kunst, und nur die abstrakte Kunst, unsere Zeit spiegelt, denn sie ist die letzte logische Phase in der Entwicklung der Kunst in der ganzen uns bekannten Zeit, und sie ist keine An gelegenheit von Jahren oder Jahrzehnten, sondern sie ist voraus sichtlich die Kunst der nächsten Tausend Jahre. Die sogenannte neue Sachlichkeit in der Malerei ist eine vorübergehende, zeitliche und parteiische Reaktion; zudem ist der Name total verkehrt an gewendet, denn die neue und sachliche Kunst unserer Zeit ist die Abstraktion. Jede folgende Entwicklung kann nur aufbauen auf dem Grunde der Abstraktion, darstellende Kunst ist in Zukunft nur als Reaktion möglich, da die Entwicklung über sie hinweggegangen ist. So stehe ich als abstrakter Künstler, zwar dem sozialen und politischen Zeitgeschehen fern, aber ich stehe in der Zeit, mehr als die Politiker, die im Jahrzehnt stehen. Man hält mir vor, ich beachtete nicht die Jugend, die, ganz gleich, ob sie rechts oder links steht, in unserer Zeit nichts von der abstrakten Kunst wissen will, weil es bei ihr um andere Dinge geht. Ich glaube nicht, daß es bei der Jugend ausnahmslos um andere Dinge geht. Aber ich bemerke, daß beide Extreme, die rechten sowohl wie die linken Parteien, sich alle erdenkliche Mühe geben, die Jugend in ihrem Sinne für Politik zu erziehen. Da kann es dann geschehen, daß die so erzogene Jugend, die hier ganz im Sinne der Erwachsenen denkt, an der Kunst nicht viel Gefallen findet; aber das ändert sich. Denn es gibt nichts dem Menschen so wertvolles, als das Sichversenken in die strenge Gesetzmäßigkeit der Kunst. Fassen Sie es nicht als Lästerung auf, daß der Begriff der Gottheit, der die Menschheit Jahr tausende lang beglückt hat, über alle nationalen und sozialen Schran ken hinweg, mit dem der Kunst nahe verwandt ist. Das Sichver senken in Kunst kommt dem Gottesdienst gleich in der Befrei ung des Menschen von den Sorgen des Alttags. Gerade deshalb gibt die Kunst um so mehr, je ferner sie sich vom Nationalen und Sozialen hält, je mehr sie das rein Menschliche will, das Sichversenken, das Schauen und Hören, das Sichselbstvergessen. Zwar ist die Kunst nicht ausschließlich für die Sinne geschaffen, aber Darstellen und Aussagen sind nicht Ziele des Kunstwerks, wenn sie auch lange Zeit zu ihren Mitteln gehörten. An sich kann jedes Mittel und jedes Material im Kunstwerk gewertet und ausbalanciert werden, aber es kommt nicht auf das Mittel und das Material an, sondern auf die Kunst, die durch Wertung im Rhythmus entsteht. Nachdem nun die Entwicklung gezeigt hat, daß man beim abstrakten Bilde, d. h. beim Bilde, welches nicht darstellt sondern da-stellt, ein Kunstwerk schaffen kann, ist wieder eine weitere Stufe der Kunstentwicklung erreicht worden, und die Entwicklung kann nicht rückwärts gehen. Ich betone hier ausdrücklich, daß dadurch in der neuen Entwicklungs stufe nicht etwa wertvollere Kunstwerke entstehen, als in früheren Ent wicklungsstufen, sondern nur die zeitgemäßen; denn das Kunstwerk jeder Entwicklungsstufe ist unendlich, und da unendlich gleich un endlich ist, kann man Kunstwerke untereinander nicht werten. Es ist in der Litteratur schwer möglich, die Abstraktion rein durch zuführen, dazu genügen die heutigen Voraussetzungen noch nicht. Von meinen Dichtungen ist die am reinsten abstrakte die Ursonate, von der ich das Scherzo hier abgedruckt habe. Ich möchte hier auf