30 Pf. 1. Jahrgang, Nr. 4
Der Malik-Verlag, Berlin-Leipzig
1. Mai 1919 30 Pf.
Wie lange noch
wird RADEK im Kerker der deutschen sozialistischen Republik sitzen? Radek — angeklagt der „Aufreizung zum
Klassenkampf“ von regierenden Sozialisten, die sich Schüler von Marx nennen — Schüler von Marx, dessen Lehre der
Klassenkampf ist. (Radek im Moabiter Gefängnis — das ist die tägliche Mitteilung an die Entente, daß sie sich alles
gegen Deutschland erlauben darf — daß kein Fußtritt die deutsche Regierung dazu bringen wird, sich mit dem Proletariat
zu vereinigen — daß diese Regierung nichts anderes wünscht, als von der Entente eine Anstellung als Gefängniswärter
zu erhalten.)
Wie lange noch wird ein deutscher Rätekongreß nicht wissen, was zu tun ist, wenn Strafkammern wagen, entgegen seinen
Beschlüssen, sich an LEDEBOUR zu vergreifen? — zu tun ist, daß jeder Mann des Rats so lange auf sein Pult schlägt, bis
der Kongreß sich auf 4 Stunden vertagt und danach, wenn dann Ledebour noch nicht zur Stelle ist, die Stimmkraft findet,
dem Proletariat seine Entrechtung unaufhörlich zuzuschreien, bis mit Ledebour alle politischen Gefangenen freigegeben
sind. — (Und wenn die Regierung schon den großen Minenwerfer aus der Westentasche ziehen will: Kinder, die mit dem
Revolver spielen, bringen sich selbst in Lebensgefahr.)
Wie lange noch werden die Unabhängigen sich verpflichtet fühlen, ihr Bedauern auszusprechen, wenn das Verhalten dieser
Regierung zu so katastrophalen Folgen führt, wie sie die Unabhängigen selbst prophezeit haben, — wenn z. B. ein
Kriegsminister so umkommt, wie es sonst Revolutionären Vorbehalten ist? (Und wie lange noch wird so ein — vielleicht
noch lebender — Minister seinen Regierungsposten so grob mit einer Lebensversicherung verwechseln, daß er meint,
ohne Risiko den Verwundeten ihre Rente auf den Friedensstand herabsetzen zu dürfen, während die Freikorps auf
Überkriegssold bleiben ?)
Wie lange noch werden die deutschen Arbeiter die Ordnung ihrer eigenen Lebensangelegenheiten anderen überlassen (und
es vielleicht noch für ein Recht halten, wenn sie alle Jahre einmal von zwei unterschiedslos gleichen Übeln das kleinere
„wählen“ dürfen.)
„Die Idee ist Alles.“
Ein Brief und eine Betrachtung.
Aus der bürgerlichen „Frankfurter Zeitung".
Ein deutscher Offizier hat mit der Gehilfin des
Mannes gesprochen, der in einer von deutschen
Soldaten überwachten Straße den General v. Eich-
horn niederschoß.
Der Offizier schreibt dann an seinen Bruder:
Mein lieber Bruder!
Draußen vor den Toren Kiews tobt seit drei Tagen
das Ringen zwischen den Hetmann-Truppen und den auf-
ständigen Bauern, alias Bolschewiki. — — —
Da ich heute Abend Ronde habe, bin ich im poli-
tischen Gefängnis der deutschen Kommandantur. In einer
kleinen Eckzelle ist die Helferin des Eichhorn-Mörders.
Ein Blick durch das Sprechloch. Sie liegt gekrümmt
auf der Pritsche, anscheinend schlafend. Sie merkt mich
und hebt den Kopf, um ihn gleich darauf wieder zu senken.
Bücher liegen zerstreut.
„Sie lesen Bücher?“ —- „Ja.“
„Was sind das für Bücher?“ — „Lauter russische.“
„Sind Sie eine Russin?“ — „Meine Eltern sind
Russen. Nur meine Mutter lebt noch in Moskau, ist alt
und sie wartet auf mich. Sie wartet und ich kann sie nicht
sehen. Ich fühle den Schmerz in ihr. —---
„Von welcher Philosophie gingen Sie aus?“ — Sie
lächelt mit verklärten Augen: „Kant. Seine Ideen sind
es, und es gibt nichts Schöneres, als für Ideen leben.“
„Kant gilt doch so viel bei uns Deutschen, und daß
Sie zu solchen Resultaten kamen, Terroristin wurden?“ —
„Ja, wenn Sie in Rußland gelebt hätten! Wenn man sieht,
wie das Volk geknebelt ist.“
„Ja, glauben Sie, daß man ihm so hilft, wie Sie es
anfangen? Da muß man arbeiten, Schulen gründen.“ —
„Nützt nichts, so muß man durch die Tat ihm die Augen
öffnen.“
„Sie kennen doch Kants Wort: vom Gewissen in uns
und dem gestirnten Plimmel über uns.“ — Sie ergänzt:
„Und von der Pflicht, dem kategorischen Imperativ.“
„Was sagt Ihr Gewissen?“ — „Es regt sich nicht,
aber das Leben in der Idee ist ja das Schönste auf dieser
Welt.“ Ihre Augen glänzen und sie lächelt, daß man die
schönen Zähne sieht.
Unvermittelt sage ich: „Eichhorn war immer doch
ein guter Mensch!" — „Er war schrecklich grausam.
Wie hat man die Bauern unterdrückt.“ —--------
„Können Sie sich auch noch freuen und nach dem
Himmel sehen? Sind Sie unglücklich? — „Nein, ich bin
nicht unglücklich. Aber meine alte Mutter in Moskau, sie
wartet, sie ist alt.“
„Haben Sie sich Gedanken über den Tod gemacht?“ —
„Ja, viele. Aber immer wieder; die Idee ist alles! Wir
ehren das Leben, und fürchten nicht den Tod. Sehen Sie,
wir eilen nicht weg, wenn wir Bomben werfen.---------
„Können Sie auch noch singen?“ — „Aber ja —“.
Ich senke den Kopf. „Lassen Sie sich’s gut ergehen.
Auf Wiedersehen!“
Sie antwortet: „Auf Wiedersehen!“--------
Lieber Bruder! Denke und fühle mit mir. Hier er-
lebte ich zum ersten Male, wie eine Idee, ob recht oder
nicht — Religion und tatvolles Leben eines Menschenkindes
ist. Ja, dieses Rußland ist nur einmal auf dieser Welt.
W.
Hierzu ist zu sagen:
Es ist keine revolutionäre Forderung, von dieser
Regierung zu verlangen, daß sie Beziehungen zu
Rußland aufnehme.
Was sollte sie dieser Gesinnung: „Die Idee ist
alles“ entgegensetzen, wie sollte sie ihr gegenüber“
treten können? — Vielleicht mit einer verlegenen
Geste, daß es in Deutschland gar so schwer sei,
einer Idee zu leben und dabei nicht vor „Tatsachen“
zu kapitulieren, hinter welchen die Gegenrevolu-
tionäre von jeher verschanzt sind — oder mit dem
— wenigstens ehrlichen — Bekenntnis, daß diese
deutsche Regierung keine Idee hat, für welche zu
leben, sich verlohne?
Hier ist eine Grenze zwischen Menschen, die
gewahrt werden muß: die einen, in denen eine Idee
so stark ist, daß sie für die Idee, nur für sie leben
können, — die anderen, die eine Idee nur als Maske
benutzen, um dahinter um so ungestörter in ihren
Geschäften zu sein. Diese Anderen sind es, die
zwar alle „Tatsachen - Schwierigkeiten“ über-
winden, wenn es gilt, einen solchen Krieg seit 1914
und ohne Ende zu ermöglichen, — die aber, wenn
endlich eine neue friedliche Welt sich errichten will,
sofort beweisen, daß die „Tatsachen“ es leider nicht
zulassen.
Wahrt diese Grenze, denn es ist zugleich die
Grenze zwischen Revolutionären und denen, für
welche die Revolution ebenso nur ein Objekt der
Ausbeutung ist, wie vorher das Elend, das Ver-
trauen, die Hoffnungen und die Blutopfer des Pro-
letariats. In Deutschland aber wird das Proletariat
noch jetzt so verachtet, daß „Führer“ ihm eine
neue Regierung anzubieten wagen, die wieder nur
diese Grenze durch einen neuen Kompromiß ver-
decken soll.
Wenn das deutsche Proletariat amtliche Be-
ziehungen zu Rußland aufnehmen will, so wird es
nicht ablassen, bis eine neue Regierung da ist, aus
der alles ausgeschlossen sein wird, was heute dort
oben schwankt.
Die
Man lasse sich nicht täuschen!
Das deutsche Volk, das nach des Tages
Frohn abends ein Recht auf Kunst besitzt,
weise Nachahmungen zurück!
Nach den „Belgier-Greueln“ sind die „Ge-
fahren des Bolschewismus“ das kassenfüllende
Stück.
Hat auch die Firma gewechselt, die Leitung
liegt in altbewährten Händen, und die Titel
verbürgen den durchschlagenden Erfolg. Vom
einstigen Trickfilm: „Zeichnet Kriegsanleihe!“
bis zur „Komödie der Nationalversammlung“
eine komplette Serie blutigster Schlager. Das
Gaunerstück „Ich kenne keine Parteien mehr“
in seiner Neubearbeitung: „Wir kennen nur
noch zwei Parteien: das zahlungsfähige Publi-
kum der kapitalistischen Bourgeoisie und die
unbezahlten Statisten der Massen-Abschlach-
tungen“. Das gesamte Proletariat in dem
riesig spannenden Drama „Eure Armut schän-
det uns nicht“.
Größter Aufwand an Munition. Von nie
dagewesener Naturtreue. Auftreten der be-
rühmten Sozialexcentrics Ebert- Scheide-
mann. Der Flieger von Tsingtau und der
Sieger von Tannenberg haben ihr persön-
liches Erscheinen zugesagt. — Zum Schluß
die Posse: „Wie — einst —im —Mai-Feier!“
Lacherfolg sicher! Kein Deutscher darf
fehlen! — Wer nicht Statist sein will, melde
sich sofort zu den Freikorps unter den be-
kannten Bedingungen.
amüsieren
neuen Werbefilms der Antibolschewisten!
Zweierlei Maß.
Die Morgenausgabe des „Berliner Tageblatts,,
vom 3. April 1919 bringt untereinanderstehend:
®as iSjaupitJcrfaljrsn gegen -ßabinettsrat t». 23el)rs
ipinwott» nbgetcfjni. ©as ©trafoerfahren gegen ben ^abinettsrat
v. Vehr* Viuuoro unb ©enoffen tuegen Striegsmudjcrs, bas feiitergeit
fo großes üluffeljeit erregte, hat jeftt burci) rechtskräftige Vufjer*
oerfolgungfetsung (amtlicher Vefdjulbigten feinen 2tbfci)lufj gefunben.
Sen ^Beteiligten mar gur Saft gelegt roorben, bafj fie bem Vaterlänbi*
fchen Sraucnoerein unb ber Seutfdjcn flllanfabrik ©.nt.b.$., an ber
fie geitweife als ©efellfcljafter beteiligt roaren, bei ber 2lusfü£)rung
uoit Sanbfacltüefcrungen übermäßige ©eroittne in fehr erheblicher
,§öhe hätten gukommen laffen.*) Vad) langer Vorunterfudjung hotte
ber Staatsanwalt beim Sanbgeridjt I bie ©inftellung bes Verfahrens
bewirkt. 2lnf Vefcfjwerbe bes Oberftaatsanwalts hatte bann bas
Äatnmcrgericht eine ©rgänguitg ber Vorunterfudjnng angeorbnet.
Vach ihrem Vbfchluß hat ber Staatsanwalt gegen (amtliche ^Beteiligte
bie Dinklage wegen Äriegsmudjers erhoben, wobei er fid) insbefonbere
auf ein ©Machten bes Ätonkursuerwalters Sdjmibt ftiitjte. Sie Vedjts*
anwälte ©r. SUsberg unb Sr. ©örres hatten ben Vachweis gu führen
gefucht, bafe Qegen ihre Klienten meber redjtlich noch ntoralifd) ber
geringfte Vorwurf gu erheben fei, unb fie hatten fid) babei auf ©ut*
adjten non Vrof. Schär unb (prioaibogent Sr. ©erftner berufen, bie
einen bem Sachoerftänbigen ©d)mibt oötlig entgegengefetpen ©tanb*
punkt uertraten. Sie Strafkammer h'at barauf bie (Eröffnung bes
£jauptucrfaf)rcns ab ge lehnt, uitb bas 3tammergerid)t hat biefen
Vefchtufj be(tätigt.
©in 2XlitgIieiS her „(Eichhorn* föarbe“. ©as ©djrour*
gericht bes Sanbgeridjts I uerhanbelte geftern gegen ben ©cfjloffer
griebrid) «pieitg wegen Sanbfriebensbrudjs unb Vnfrufjrs. Ser
Angeklagte, ber nach feiner Eingabe mit ber Vegicruitg ©iert*
©cheibemann ttngufrieben war, hat fid) in ben Sagen oom 6. bis
12. Januar eine oolte 2Bod)e Iflnburd) an ben Fiktionen, bie in
gewalttätiger QBeife gegen bie Vegierung unternommen würben, be*
teiligt. Unter anberem war er auch Vtitglieb ber (Eichhorn*©arbe.
©r beftritt, bas Vewußtfein gehabt gu haben, etwas Unrechte» unb
Ungefetjlidjes gu tun, benit es fei ihm gefagt m*rben, „bie Veoolution
macht fid) bie ©efetje felbft“. ©as Urteil lautete auf brei 3af)re
©efänguis unter Vnredjnung oon gwei SJltonaten unb gmei QBochen
Unterfuchungshaft.
*) Herr v. Beer-Pinnow lief sich unter Hinw«s auf das
Eiend der Sandsack -nähendan Kriegerfrauen vom Kriegs-
ministerium erhöhte Löhne bewilligen. Davon haben aber die
Arbeiterinnen nichts gesehen. D. k.
für Breslau und Schlesien
2mal wöchentlich Monatlich 1,50 M.
Bestell, an Schumann, Breslau, Rosenstr., „AchtSchwalben“,
•jr"
1.
Von Berlin bis Oberbayern
Soll’n wir ’n ersten Mai jetzt feiern
Jleich befiehlt die Reichsregierung:
Arbeitslosen-Dezimierung!
Todesmutig, Mann für Mann
Rückt das Freikorps Lüttwitz an.
Der Erfolg is janz enorm,
Stike! Mensch — Sozialreform!
Hurra jroßer Sieg errungen
Proletarier bezwungen,
Jeder, der nach Essen lungert
Oberschlesien ausgehungert
Strenge Zucht und gute Kost
Melder Euch beim Grenzschutz Ost.
Der Erfolg is janz enorm
Stike! Mensch — Sozialreform!
3.
Und so wächst sozial und schnieke
Man sich aus zur Republike
Läßt am ersten Mai verkünd’gen:
Jahrestag der Schlacht bei München
Ding wird eben umbenannt
Kleinigkeit für ’n Leutenant
Der Erfolg is janz enorm
Stike! Mensch — Sozialreform!
4.
Freikorps Dohna, Freikorps Hülsen
Und am Ende kommt der Wilson
Jeder wäscht sich rein vom Blute
Trieft nur noch von Edelmute
Und nach altem deutschen Brauch
Kriecht Germania auf dem Bauch
Ja die Pleite is enorm
Stike! Mensch — Sozialreform!
und zwar mit Musik. Auch in Braunschweig
ist sie einmarschiert, da hat man sie sogar
mit Blumeu überschüttet. Eisen an den Ab-
sätzen, Blech am Kragen, verschobene Lebens-
mittel im Bauch, marschiert sie. Mit und
ohne Tritt. Unentwegt durch Rebellenblut —
und Äpfel der Leutnants-Stute. Gegen bayer-
ische Polen, Berliner Russen. Die Sozialisie-
rung marschiert aber nicht allein; Dienst-
mädchen, feinste Damen, Lehrerinnen, Kinder,
Greise, Gymnasiasten: alle marschieren be-
geistert ihr zur Seite, — ganz wie anno 14.
Aus allen Fenstern winken die Bewohner (zum
Teil noch im Nachthemde), glotzen ihr nach,
feuchten Auges und stolz zugleich. O, die
Sozialisierung ist eine der wenigen Errungen-
schaften der vorjährigen Revolution, die — weil
sie marschieren kann — den gebildeten Schich-
ten kein Dorn im Auge ist.
Sie kostet zwar massig Geld. Darum
meinte Ebert auch: „Immer langsam“. Aber
Noske schlug auf den Tisch: „Zum Donner-
Zentralorgan
der kommunisi.schan Part»! Deutsch-Österreichs
2 mal wöchentlich Monatlich 1,90 Kronen
Administration: Wien IX, Pulverturmgasse 7.
Prepapaflastelle lür Wellkommnnismus
Geschäftsstelle z. H. A. Seehof
Kassel, Wörthstraße 23,1.
wetter, meine Herren, was sein muß, muß
sein!“ „Natürlich — sagte Scheidemann —
so pleite oder so pleite.“
Neuerdings haben auch die Studenten,
denen es nicht vergönnt war, auf dem Felde
der Ehre zu fallen, sich der Sozialisierung
geschlossen zur Verfügung gestellt. Werden
auch infolgedessen wahrscheinlich Trinksucht,
Syphilis, das Nicht-bezahlen von Schulden
und der Kretinismus sozialisiert (d. h. all-
gemeines Volksgut), so können wir das ruhig
in Kauf nehmen, nämlich deswegen weil
andererseits die hochdeutsche Aussprache,
sämtliche Goethe - Forschungen, U - Boots-
kalender und antibolschewistischen Geheim-
wissenschaften dem Volksvermögen zugute
kommen. Überdies lassen sich leerstehende
Universitäten zu Werbe- und Sozialisierungs-
büros, zu Offizierslazaretten, Munitionslagern,
Reservegefängnissen und akademischen Mai-
feier-Baulichkeiten verwandeln.
Die Marsch-Erfolge der Sozialisierung sind
glänzend — (übertreffen fast 14/15). Ganz
Deutschland ist soweit schon „fast soziali-
siert“. Dafür sorgt die Bclagerungszustands-
methode. Nämlich, was sich auf diese Weise
nicht im Marschtempo sozialisieren läßt, —
na, das wandert eben ins Gefängnis, ver-
hungert, wird an die Wand gestellt oder
sonstwie ausgerottet. Daher ginge der
Sozialisierung allmählich die Arbeit aus,
wenn nicht unsere Generäle sie zu Reklame-
zwecken, Ebert’s oder Ludendorff’s Geburts-
tag, am 1. Mai oder an ähnlichen sozialisti-
schen Jubeltagen zum Parademarsch kom-
mandierten.
Lediglich in Bayern und — in den Fach-
schulen für Spitzel und Reporter sind die
Arbeiten der Sozialisierung noch nicht ganz ab-
geschlossen. Zwar sucht man, seitdem die
Ruhrstreiks der Sozialisierung erlegen sind,
in ganz Norddeutschland mit Eifer und Hin-
gebung geeignete Objekte — für, gegen,
auf, über, durch die man die Sozialisierung
marschieren lassen könnte; es finden sich
bloß keine mehr. Ihre Erfolge sind ja auch
allzugewaltig: Stumpfsinn, Schwindsucht, Ver-
logenheit, Schiebung, Niedertracht alles, alles:
Proletarier-, Revolutionärs- und Säuglings-
sterblichkeit, Proteste an die Kulturmensch-
heit, Osterbotschaften und Justizmorde sind
bereits deutsches Nationalgut geworden.
Neuerdings zieht man aufs Ernsthafteste die
Sozialisierung des Selbstmords in Erwägung —
sollte es gelingen, sie zu verwirklichen, so
wäre das Problem der Sozialisierung endgültig,
einfürallemal gelöst: alles wäre tot — bis auf
die marschierende Sozialisierung, in die man
tunlichst eintritt, wenn man nicht auf diese
oder jene Weise krepieren will.------------Daß
sich der Geist der Toten zuguterletzt an der
Weimarer Sozialisierungs - Methode rächen
könnte, ist eine lächerliche Behauptung solcher
bezahlter ausländischer Hetzer, die in Deutsch-
land einen Geist entdeckt haben wollen, der
*rcht mitmarschiert.
Filter tmb neuer xifrer^laime
Sn früheren Seilen l'c&iente man beä SeafsJäglau&enS, heb bic llöUes in S’tej'jjeK 3« f>alten. • ©ieße öiefer gaujSid) oecfeUeten ©rfns«
bisrtg tsiti jttjt bet JSöisfcrt bei- Siegelt. 91Ke '»efferen Staaten teeröen mU 'sein $tna?<t»iftenmSt$en aaSgeftaUet.
(„Simplicissimus“, 23. 1. 1911.)
Slrfreifecfcbw^
„Siife, &err Sfölnifler! SletCen Sie ssnä for biefen gierigen 9?aub-
cögdn I«1
„©efndje tnüfTen immer fd)nft(id> unb in fxsfienber ftorm eingerei^t
jperben, merien 6ie fn§ bafi!'
(«5. Jieine»
»Sn QEroSgung 3bccr (Eingabe wirb Sbnen an&eimgefteUt, ben 91aö-
g eiern mit Siebe unb Qkrtrauen au begegnen, ba bie Snäufrieben^eit
mit ben beftei>ent>en 3uftanben, jeber tatfäd;Iid)en .©runbtßge ent-
bebrenb, nur auf 93ert)ct)ung oon Seite gewiffenlofer Sigitatocers
jnrüc^ufübten fein bürfte."
„®ie öufrübrerifd?e 93anbe bat Jisf> HnfereS 'ZBo&tooüenä unwürbtg
emiefen. — ©ebt fjeuer \‘‘
(„Simplicissimus“, 27. 12. 1909.)
nuu 11 cniö Lin um öiiuiiu.
Sehr geehrte Redaktion!
Sie geißeln in der Pleite u. a. das Verhalten,
der Presse während des Krieges und der Revolution
Wenn Sie wüßten, was die Presse dazu treibt,
zwingt — gewiß würden Sie milderem Tadel Platz
machen. Da Sie in der „Ehrenrettung“ (Pleite No. 3)
einer Rechtfertigung der Freiwilligen-Truppen die
Spalten öffneten, so darf ich wohl bitten, folgende
Ehrenrettung des „Simplicissimus“ neben bei-
liegenden zwei Zeichnungen in der Pleite zu ver-
öffentlichen.
Der Simplicissimus wird heute von denselben
Herren gemacht, wie damals. Es ist also ganz klar,
daß sie die Schwarze-Mann-Geschichten vom Bol-
schewismus weder glauben oder auch nur ernst neh-
men. Wenn sie sie trotzdem heute wider besseres
Wissen kolportieren, ausschmücken und auf diese
Weise die deutschen Gewalthaber gegen das Pro-
letariat aufputschen, so muß es tieferliegende Gründe
haben. Betrachten wir nur die persönlichen Erfah-
rungen der Herausgeber des Simplicissimus von 1909
bis 1919. Wir werden finden, daß sich das damals
mutigste satyrische Kampfblatt der sozialen Be-
wegung ganz unverschuldet, sozusagen dem Zuge
der Zeit widerwillig folgend, zum korrupten Organ
deutscher Reaktion verwandelt hat.
Zehn Jahre sind eine lange Zeit, die Herren
beim Simplicissimus sind alt geworden. Und ein-
sichtig, rundlich und kränklich. Ach sagten sie,
die ewigen Scherereien mit der Staatsgewalt. Und
auf die inserierenden Geschäftsleute muß man auch
Rücksicht nehmen. Wenn man vom 20.—30. Jahr
Revolutionär war, dann hat man’s wohl verdient zu
ruhen und die Sonne des Publikums und der Mächte
auf^sich scheinen zu lassen — die man bislang ge-
mieden und bekämpft hat wie die Pest.
Solche privaten Erwägungen allein hätten aber
vielleicht nicht genügt, um den Kurswechsel des
„Simplicissimus“ hervorzurufen, auch wäre es dann
ja fast unmöglich, ihn zu rechtfertigen. Aber da
war vor allem der Krieg. Im August 1914 ist eben
auch auf der Simplicissimus-Redaktion der neue
Geist erwacht. Und, liebe Pleite, Sie werden zu-
geben, damals gabs weder Spartacus noch U.S.P.D.
die S.P.D.-Leute schrieen tagelang ununterbrochen
Hurrah — da müssen [sich selbst Leute wie Th»
ThQHeine gesagt haben. „Es gibt ija gar keine
Arbeiter es gibt nur Helden, also ist doch die ganze
Arbeiterbewegung Quatsch, Jund unser Kampf für
den Sozialismus erst recht. Na, und dann: — die
Front bzw. der Hilfsdienst: — brr! da läßt man sich
doch besser für sein Blatt reklamieren im Dienste
kaiserlich deutscher Kultur. Wenn nicht — legt
die Zensur ja*'doch den Betrieb still.
Und das ist heute doch noch gerade so. —
Wozu sich von Noske oder Epp die Redaktion
demolieren lassen, lieber von Spartacus, das macht
Reklame bei“ der Kundschaft, denn — da staunt
man — das Arbeiterblatt war im Laufe der „großen
Zeit“ zum Blatt der Finanz- und Schlotbarone nebst
Anhang geworden. Und — wen die einmal in den
Klauen haben, der ist verkauft. Wenn heute der
Simplicissimus seinen einstigen Kampf für die Ent-
rechteten wieder aufnähme, — morgen wären die
Inserenten fort, dieFreikorps säßen ihm imNacken,
er selbst wäre entrechtet, — das heißt bankrott —,
aus wär’s mit den guten Einkünften, — tja und wer an
die erst ’mal gewöhnt ist, der gewöhnt sie sich schwer
ab, schwerer als den Suff und das Hurrah schreien
— vor allem wenn ihm das Elend des Kriegs, Unter-
ernährung und zunehmende Verarmung — andrer,
den letzten Rest von Charakter und Aussicht auf
die Kaufkraft des Proletariats geraubt haben.
Aber dafür kann er doch nichts, der arme Sim-
plicissimus. Das müssen auch die Pleite-Leser zu-
geben. Schuld sind lediglich die Ebert scheide
man -Leutejmit ihrem Dauerhurrah und — na und
eben die ganzen Verhältnisse.
Ein früherer Abonnent des Simplicissimus.
Sozialistische Tageszeitung
Berlin NW.6, Schiffbauerdamm 19
Bezugspreis: monatlich 2 M., Anzeigenpreis pro Zeile 1 M»
Politische und kulturpolitische HalbmonatssGhritt
Vierteljährlich 5 M. Einzelheft 1 M.
Verlag „Die Erde“, Breslau 16, Lutherstraße 20.
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