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Abhängigkeit.
H eutiger Demokratien Inhalt; deren Bedeutung
im Erschlagen des Ursprünglichen besteht.
Demokratie belastet mit Abhängigsein von allen;
eine vorgestapelte Masse — Umschreibung für die
Interessen Besitzender und irgendwie Zahlender —
wird als bestimmende Autorität ergaunert. Man ist
solange Masse, als von sich aus zu handeln man
unterläßt. Masse ohne Zeichnung und Akzent ist
eine jener gefährlichen Ideologien, als deren tat
sächliches, lebendes Instrument halbtote einzelne
Menschen betäubt umherlaufen.
Abhängigkeit enthält alle Merkmale tödlicher Ideo
logie, da sie Einheit vortäuscht; dies eignet
Ideologie — Metapher eines Wunsches — zum
Werkzeug der Demokratie. Ideologie verbürgt dem
Nichtzusichentschlossenen Grund und logischen Ab
lauf seiner Existenz. Abhängigkeit ist aller Ge
schichte Essenz, in der vorgeschrieben wird, jegliches
stehe mit allem wie Ursache und Folge zusammen.
Geschichteschreibung ist Katalog der Menschheit
Sklaverei, Belastung mit Gestorbenem; Apologie
der Erbsünde, des indirekten Bürgers. Der Un
mittelbare hat nie Geschichte besessen; lehnt Be
ziehung ab. Geschichte einer Funktion des Gesell
schaftlichen, dieser erlebt nicht sich, sondern Vor-
und Umstände und wünscht nach jeder Seite
Garantie durch Autorität, durch Prämissen, da von
Sich aus zu leben ihm unerträglich ist. Abhängig
keit garantiert die sichernden Autoritäten, denn
Empfinden der Abhängigkeit schafft und verbürgt
Macht.
Ohne Person und Geschick hängt also der Bürger
von Autorität ab, die er aus seinem Bedürfnis nach
Objekt, Hängen ohne einschließlich Verantwortlich
keit, erwirkt. Pflicht heißt UnVerantwortlichkeit,
heißt, der Bürger überträgt seiner Handlungen
Kontrolle dem Andern. Der Andere, das distan
zierte greifbare Objekt, das ist die moralische Ideo
logie des Bürgers; er erwirbt Lebensgefühl durch
die Beziehung zum andern; der Andere wird zur
Metapher konsterniert, zur Einrichtung. Mittel viel
fältiger, zugleich personersetzender Beziehungen —
das Geld. Der Bürger treibt handelnd sich auf
dem Umweg der Metapher, der Einrichtung, der
Autorität umher, und erschwert es somit geschickt,
das Fehlen der Person und des Lebens an ihm
feststellen zu lassen. Andererseits steht hinter dem
Gauner der allgemeinen Metapher die Ideologie
der Masse, des vorgetäuschten consensus omnium
auf. So redet der Bürger nie von sich, die Ideologie
schützt ihn und setzt Masse hinter ihn; der Un
mittelbare wird erschlagen, dessen Handlungen
direkt, unideologisch geschehen. Handlung des
Bürgers muß im andern begründet sein, abhängen.
Hierfür besitzt er das relegiös benebelte Wort
»notwendig«; der Bürger schleicht sich in die er
logene Kausalität der Geschichtsidolatrie ein;
äternisiert sich. Sein Vorleben ist Geschichte,
seine Gegenwart möglich vielfältigste Beziehung
zu Objekten, Besitz.
Der Bürger erklärt und verdunkelt sein Leben
in der Metapher des Allgemein-Menschlichen, er
weist seine Abhängigkeit, Rationale inlphigenie nach;
er funktioniert fatal im Kreis der autoritären Me
taphern; flieht vor dem Ursprung. Sieg der Be
ziehungen, Einrichtungen, Angst vor sich selbst
ist eben bürgerliche Freiheit. Abhängen, Intimität
mit Autoritativen, Anbetung gibt Würde, Gewicht
und Macht. Man verquillt und vergißt sich (nie
gewesene Person) in der herrschenden Ideologie,
trägt sie und zwingt andere.
Aus seiner Autoritätsverehrung leitet der Bürger
Recht zu eigener Autorität ab. Der gesellschaftlich
Eingeübte, Feste hängt von den Ideologien selbst
ab; der Arme, Sprachlose, der gegen jede Ideologie
hungert oder sich müht, hängt von den Personen
und den Ideologien ab, die jene nach Bedarf auf
ihn loslassen. Diejenige Klasse herrscht, die ihre
Ideologien im weitesten Umfang materialisierte,
herrschende Klasse besitzt immer die am leichtesten
materialisierbaren Ideologien. Sie leistet sich nicht
nur den tattötenden Besitz von Gegenständen, der
jedes Ändern als Verbrechen zeichnet, sondern
das verbrecherische Aneignen lebendiger, zur
Sprachlosigkeit verurteilter Menschen. Der Arme
steht wehrlos, da er keine Ideologie, keine Sprache
besitzt. Diese liegt als Eigentum der Herrschenden
wohlverwahrt und wird im Dienst dieser verfälscht
verabreicht.
Nur der Herrschende besitzt die Objekte, an
denen er wollen kann; der Arme könnte nur sich
wollen. Änderung seiner Selbst versuchen, Sturz
der Paraphrase. Darum: man hänge ihn. Ich
spreche hier nicht mehr von der gewollten ge
meinschaftlichen Sklaverei unter Metapher und
Ideologie, ich rede von der Sklaverei leiblicher
Menschen, denen keine fälschende Metapher hilft,
die noch als Natur umherdösen. Wird mit ge
schwollener Historie, triefender Sentimentalität sie
ihm endlich ausgestellt, hat der Arme für die be
ruhigende Paraphrase seines Elends zu danken.
Mit Vorliebe benutzt man Fest- und Gedenktage
zum Feiern und Anfeuern solcher Sklaverei, die
nur im viehischen Rausch der Presse betäubt
werden kann. Die Familie stellt unter anderem
eine beliebte Art des Besitzes an Personen dar.
C. E.
Ein Fragment aus dem Buch »Abbruch«, geschrieben von
Einstein und Sternheim.