50 die Albernheit abgewöhnen, Menschlichkeiten eines Dichters mit der Philister-Elle zu messen. Bleibt Goethe nicht Goethe, weil auch er Verse geschrieben hat, die wegen ihrer Sinnlich keit lange unter Verschluß gehalten und erst vor wenigen Jahren seinen Verehrern gezeigt wurden? Es ist ein Abstand zwischen Goethe und Verlaine, natürlich: aber die braven Bürger, die sich an den glücklichen Goethe" nicht herantrauen, sollten auch etwas Achtung für den unglücklichen Verlaine beweisen. Statt dessen wird muckerisch gesagt, Verlaines Buch „Frauen“ sei ein pornographisches, ein schmutziges und verwerfliches Buch. Ob der Staatsanwalt schon bemüht ist, weiß ich nicht; aber er wird wohl nicht auf sich warten lassen. Staatsanwälte haben auch Boccaccio und Casanova, Zola und Lemonnier verfolgt. Ein Staatsanwalt hat den genialen Panizza ins Gefängnis gesteckt. Warum sollte ein Staatsanwalt vor Verlaine Respekt haben, zumal da besagter Verlaine ein Franzose ist, noch dazu ein toter? Ob nun aber der Staatsanwalt kommt oder nicht; ein für allemal muß gesagt sein, daß Verlaines grausames und verwildertes Al tersbuch keineswegs als ein Kosthäppchen für Liebhaber ero tischer Bücherfreuden zu betrachten ist. Es ist derb und zynisch, ein Dokument tiefer animalischer Erniedrigung, aber in ihm ist keine Spur jener kitzelnden Lüsternheit, die sich in vielen an deren öffentlich feilgebotenen Werken findet — besonders in jenen verwerflichen Bilderblättchen, die heut in jedem Kiosk zur Schau liegen. Und es ist das Buch eines Dichters, dessen selbstzerfleischende Leidenschaft bei aller Hingerissenheit un säglich traurig stimmt. Wer Verlaine ganz verstehen will, muß auch dies menschlichste seiner Bekenntnisse schaudernd gelesen haben. Diese schmerzens- volle Passion der Leidenschaft ist nichts für empfindsame Seelen, ganz gewiß nicht. Sie ist brutal, wie das Leben. Sie ist krank, wie der alternde Mann krank war, der diese Verse schrieb. Dennoch: dies Werk bleibt Blut vom Blut Verlaines. Die Me lancholie der holden Zeilen aus den Ariettes oubliees: II pleure dans mon coeur Comme il pleut sur la ville . . . bebt klagend auch durch diese wilden Rhythmen. Nein, wir wollen es nicht dulden, daß Paul Verlaine noch im Grabe beschimpft wird! Paul Block Diese Sätze des Feuilletonredakteurs Dr. Paul Block brachte das Börsenblatt am 10. 7.1920 auszugsweise zurechtgestutzt, und hängte einen Schwanz an: