Jahrgang 1915-16 Zürich, den 1. November Nummer 2
Herausgegeben von Walter Serner
Sphinx
Der ihr Menschenzüge gab und einen Tierrumpf, war einer
jener ganz Grossen, für die in dieser Symbolik alles beschlossen
ist, was menschlich ist und unergründbar. Er sah auf dieses
Antlitz wie durch alle hindurch und wie durch sein eigenes und
die Sage, dass er und manch einer nach ihm für immer erstarrte
im Schauen auf diese Züge, ist so tief wie ihre Wahrheit. Hier
ist der Anfang und das Ende. Hier sucht jene aufrüttelnde Sehn-
sucht, die nicht einmal ein Lächeln findet und versickert, da ihr
das eigene sich versagt. Hier ist die quälende Starrheit der
Ewigkeit erlösender als das böse Spiel der Ohnmacht.
Es hat von je zerrissen und geschmerzt. Doch der Trieb,
ihm auf den Grund zu kommen, stieg nie noch über die schwäch-
lichen Versuche vieler und das stark Erschaute Einzelner hinweg.
Jene suchten ein Gesetz, nachdem ein Dogma gesetzt war. Diese
fanden Erkenntnisvolles, das zwar Dogma und Gesetz unter sich
liess, aber bildmässig und ahnungsvoll blieb. Sie hofften nicht
wie jene, das unabsehbar verknüpfte Netz der Schlüsse und Wahr-
scheinlichkeiten entspannend, den Wert in der Form zu ergründen,
und damit das Gesetz ihrer Bewegung. Sie pirschten sich nicht
an den Schlaf des Gesichts, um ihn zu silhouettieren, von der ge-
fundenen Form aus Moral und Geist zu werten und für deren
Bewegungsreflexe ein Schema zu konstruieren. Sie sahen das
Heer der Wirkungen, die als Geschick und Krankheit, Klima und
Nahrung mehr entstellen, als das kombinierte Spiel, das mit einem
Bart verbirgt, mit einer Farbe fälscht und mit Parafin polstert,
zu korrigieren vermöchte. Für sie revoltierte der Umstand, dass
Sokrates ein hässliches Alltagsgesicht hatte, ebenso gegen das.
Dogma einer regelsicheren Beziehung zwischen Form und Wert
wie das Vorkommen lebenslänglicher Berufsfriseure mit Goethe-
köpfen und die Lüsterne, welche eine überstattliche Mannesnase
hoffend beäugt, trieb ihnen eine aussichtsvollere Physiognomik als
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Herr Lavater, der da auf Genialität schwur. Den Weg vcn einer
Anzahl Köpfe, deren Träger Auserlesene waren, zu einer Unzahl
ähnlicher, welche Tröpfe sind, hielten sie nicht weniger für ver-
fehlt als das Unterfangen, in einer Kutschervisage einen Dichter
zu wittern. Doch sie erkannten nur im Bilde und wenn Dosto-
jewskiy seines Peter Alexandrowitsch Niedertracht durch eine er-
tappte Grimasse in den Spiegel so ganz menschlich gestaltet,
schwebt die Wahrheit wie eine weisse Ahnung hernieder.
Alle Mimik ist böse. Sie ist der fulminanteste Ausdruck
der Unklarheit, der Ueberhebung, der Gottlosigkeit. Sie macht
verwirrt, verhasst, vertiert. Schon das Kind, das hell und freudig
auflacht, horcht sekundenlang ratlos diesem Lachen nach und wird
hinterher rasch wild und böswillig. Und der Erwachsene, der
stets, wenn ihm ein Jubel in die Kehle kommt, eine deutlich
auffahrende innere Hemmung überwinden muss, welche nach
ihrer Ueberwindung noch wie drohend nebenher zu fühlen ist,
wird still sofort verwirrt, darüber ärgerlich, bald mürrisch und
schliesslich boshaft. Sein Schmerz verzehnfacht sich, wenn er
ihm ins Gesicht tritt und nähert er sich der Unerträglichkeit,
so schlägt er in fauchendes Grinsen um, dem ein klirrendes
Lachen nachspringt, welches augenbliks zornig macht und grau-
sam und ein Leben lang schmerzt die Erinnerung daran breiter
und tiefer als der Schmerz selbst es vermochte. Der des Kindes
steigt bis zur letzten Kraft des Kreischens, bricht dann jäh zu-
sammen und lässt, leise verwimmernd, eine entsetzensvolle Leere
in den nassen Augen. In solchen Minuten können Kinder morden.
Freude und Schmerz sogar, die ursächlichen Pole der Mimik,
sind vom Bösen und zwischeninne rollt die lange Reihe der
Triebe und Schwächen, die in der Axe ihrer Grenzen scharniert
sind. Sie alle sind mimisch und es ist kein Zufall, dass der
Ausdruck des Guten dort falsch ist, wo er mimisch wird. Demut
und Mitleid, Güte und Scham haben nur eine Geste und sind
sie ganz tief, nicht einmal diese. Gier aber und Grausamkeit,
Verachtung und Hohn werfen Falten und bleiben sie glatt, so
sind sie falsch. Zwischen den Polwirkungen der Mimik, Ent-
stellung und Glätte, schwankt das weite Feld der Verstellung.
Sie ist souverain und fast überall, wo Menschen beisammen sind.
Wer sie beobachtet hat, wenn sie sich unbeobachtet glauben,
weiss, dass sie ihre Züge als verwahrlost empfinden und sie im
Spiegel glätten, bevor sie unter Menschen gehen. Hier ist es
ihnen stets, als verbärgen sie sich, wenn sie lächeln, als lögen
sie, wenn sie weinen, als verrieten sie sich, wenn sie ihr Gesicht
vergessen. Trifft sie in solchen Momenten ein klarer Blick, so
zucken sie tieferschreckt in sich hinein und ihrer Verwirrung
folgt ihr Hass. Sie jonglieren mit diesem Wissen, wenn ein
starker Intellekt es ihnen vermittelte, und wird es ganz nieder-
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trächtig, so jonglieren sie mit dem Intellekt. Und eine hämische
Befriedigung, die nicht ihresgleichen hat, überrieselt sie, wenn
es ihnen gelingt, dem andern keinen Anhaltspunkt zu geben oder
ihn zu nasführen, denn es ist ihnen Menschenwürde und Meister-
schaft zu tun, als wüssten nur sie allein, worum es geht, als
stünden sie fest und hätten einen Punkt. Und fühlen doch auch,
wenngleich in Tagen nur oder Sekunden, dass sie Stückwerk
sind und schuldbeladen und verzweifelt und tiefinnen voll einer
seltsamen Furcht. Aber sie übergaukeln dieses bohrende Fühlen,
sich selbst und vor den anderen und die andern tun ebenso. Und
so lauern sie einander in die Gesichter, peitschen ihre gestellten
Masken von Stufe zu Stufe, um gelb vor ihrem Tiertum einhalten
zu müssen oder mit höhnender Hand ihre Glätte zu servieren und
ihre feste Haltung, wenn ihnen der böse Triumph ihres ohn-
mächtigen Spiels misslang.
Auch die es erkannten, vermögen nicht, es aufzugeben. Denn
es ist übermenschlich. Und wenn auch ein Gesicht nicht lächelt,
wenn es lächelt und wenn es trauert, nicht trauert, so lächelt
und trauert es doch und noch der Schmerz dieser Schwäche, der
Verwirrung schaffen muss, hat seine Mimik und schliesst den
Zirkel. So schiebt zwischen Menschen, die sittliches Erkennen
erhob, die Ohnmacht immer wieder ihr Spiel und je tiefer das
Erkennen war, desto grausamer wird das Spiel; denn für den
Guten beginnt das Böse dort schon, wo der Böse sich noch gut
glaubt und ein fast unmerkliches Kräuseln der Lippen, das über
einer Allzumenschlichkeit entsteht, ekelt ihn ebenso wie es den,
der es beging, mit Hass erfüllt. Und das Böse ist da und die
Schuld. Beide wollten es nicht und da sie es nicht ungeschehen
machen können, verstellen sie sich aus Verzweiflung. Es ist die
furchtbarste Verstellung, da sie das gross und ganz Erkannte ver-
stellt und ist doch die menschlichste: sie schlagen sich vor die
Stirn und lachen, toben, schimpfen, schreien, werfen alles um,
Worte und Dinge, weinen und betteln und möchten ein Tier
töten oder einen Menschen oder den andern und wenn ihnen
Entsetzen in die Lunge bricht und die Brust zu zersprengen
droht, heucheln sie Irrsinn, grimassieren, tanzen und lallen. Und
niedergebrochen glotzen sie auf die zuckenden Hände und fühlen
brennend, dass die Last, mit der sie nun wieder ausgehen müssen,
sich zu finden, drückender geworden ist, dass es immer schwerer
wird und hoffnungsloser. Aber was über ihrem Ringen ersteht,
ist die Demut vor dem eigenen Menschsein und vor dem der
andern. Sie hoffen nicht mehr, ein Lächeln zu sehen. Hier ist
alle Sehnsucht zu Ende. Und nur aus jener Tiefe, in der, was
Geist ist, sich zum Glauben läuterte, steigen einsame heilige
Stunden, da nichts mehr Ausdruck wird oder Wollen und wie
nach innen gerissen sinkt es tief hinunter und zugleich weit hi-
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naus: eine grosse schwere Erstarrung.
Wessen Gesicht sie einmal erlebte, ist unheimlich für die
andern und heimlich gezeichnet für den Gezeichneten. Er ver-
liert Form und Bewegung aus dem Auge und weiss, dass eine
hohe Stirne, ein schöner Mund erst nachher mitbeweisen, dass
ein mimisch zerstörtes Gesicht noch einem Besseren gehören
kann als ein glattes, das oft von dem bleichen dünnen jenes
Geläuterten nicht sofort zu unterscheiden ist. Und es gibt Tage
für ihn, wo jeder ein dummes Gesicht macht. Er sieht keine Ge-
sichter mehr. Er sucht das Gesicht. Und er findet es: einmal
in einer grossen Stadt auf einer Strassenbank, in der Dämmerung,
wie es geradeaus starrt und angesprochen plötzlich fort ist; oder
nach einem langen Gespräch, das aus zwei Monologen bestand,
in einer kleinen Kneipe, wenn lange schon geschwiegen wird
und die Stille dick und saugend ist und der Lärm wie eine Mauer
um sie; oder an einem Totenbett. Und er schaut auf dieses
Antlitz wie durch alle hindurch und wie durch sein eigenes und
die quälende Starrheit der Ewigkeit ist ihm erlösender als alles,
was Spiel ist und Ohnmacht und böse.
Walter Serner.
Nächtliches Dorf
Totenstille weit im Raum.
Dunkle Dächer sind wie Mützen,
Unter denen müd vom Traum
Blind und stumpf die Häuser sitzen.
Selbst die Kirche auf dem Hügel
Glotzt verschlafen in die Nacht.
Englein hängen jetzt wohl Flügel
Und ein hölzner Heiland wacht.
_________ Ernst Frey.
Das gemeinsame Mittagessen war schon beendet, als Frank
aus dem Gymnasium nach Hause kam.
Ernst stand auf der Strasse im Sonnenschein, an die weisse
Mauer gelehnt und haschte Fliegen. Ein heimtückisches Grinsen
schien sein Gesicht zu entstellen. Franks Augen wurden unsag-
bar hilflos. Wie gehetzt lief er durch die Bierstube, in der seine
Mutter über einem Buch sass, das sie hastig mit schmerzlicher
Heimlichtuerei im Pult verschloss. Er höite Ernst, einen Gassen-
hauer pfeifen. Dann stürmte er die Treppe hinauf.
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Die Köchin blieb mürrisch. Die Suppe war kalt. Aus dem
Nebenzimmer quoll das aufreizend regelmässige Mittagsschnarchen
des Vaters. Frank überkam das Gefühl eines unerklärlichen
namenlos wehmütigen Ekels. Er musste aufhören zu essen. Er
wollte seine Hündin Batry mit den verschmähten Speisen füttern
und begann, nach ihr zu rufen. Sie war nicht da. Das nervöse
Prickeln einer bösen Ahnung beschlich ihn. Er lärmte mit der
Köchin. Die zuckte höhnisch die Achseln, biss die Zähne aufei-
nander und machte widerwärtige Lippen. Frank stiegen die
Tränen auf. Er rang sie nieder. Er schrie vom Flur aus durchs
ganze Haus nach Batry. Seine Stimme überschlug sich. Von
irgendwoher echote Gelächter.
Er raste hinunter und prallte vor der Mutter zurück, die
wieder das Buch zuklappte und im Pult verschloss, verlegen
blinzte, hysterisch tat, zu schimpfen begann.
Vom Hof sickerten seltsame Geräusche: erstickte Schreie,
Flamme, Angstrumoren, Vergewaltigung. Frank stürzte vors Tor.
Ernst lehnte grinsend an der weissen Mauer im Sonnenschein,
zeigte auf zwei ineinander verwebte Fliegen und flüsterte etwas,
das Batry, die zwei Fliegen und die Mutter auf eine eigentüm-
liche Art in Zusammenhang brachte. Frank bekam wieder seine
hilflosen Augen. Weinen bezwang ihn, unbewusst, lautlos. Dann
drehte er sich brüsk um und sagte hart, gepresst: „Schwein 1“
Ernst lauerte. Fast war ein überlegenes Mitleid in seiner
Stimme: „Haben wir nicht zusammen Photographien angeschaut?
Hast du mir nicht solche Verse vorgelesen?“
Frank wurde starr. Seine Lider schlossen sich. Dann hob
«r mit schwerer Gebärde die Faust und trieb sie ingrimmig,
stumm, verbissen, mit nachtwandlerischer Treffsicherheit ein paar
Mal hintereinander blitzschnell in Ernsts Fratze.
Der schlug wie ein Stamm aufs Pflaster.
Die Mutter hatte sich mit endgültiger Resolutheit in ihr
Buch gerettet.
Der Lärm der Hunde sprang Frank wie ein Wolf an den
Hals. Sein hilfloser Blick umschleierte sich. Er wankte trunken.
Sein Herz flog. Aufsässiges Schluchzen.
Gäste warfen mit den Türen. Gläser polterten auf die
Tische. Ein Phonograph zotete heiser. Bisweilen schwoll
Wiehern an.
Max Herrmann (Neisse).
Christian Schad
V • . -1 . *' H .. .♦ I
Das Kunstwollen aller Zeiten steht zwischen zwei Pfeilern:
seine Verkörperung stellt der Griechenplastik und dem Cinquecento
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die Kunst des alten Aegypten gegenüber. Die grosse Isis hat
mit der Venus von Milo nicht nur das Material nicht gemeinsam
und von Leonardo da Vincis Oelgemälden trennt die ägyptische
Vasenmalerei ein Wille, neben dem naturalistische Meisterwerke
als Spielzeug gelangen. Die Eroberung der Mittel hat in Wahrheit
nicht stattgefunden; sie ist lediglich die Erfindung jener Schwach-
gehirne, welche die Kunst als eine manuelle Angelegenheit be-
trachten und es bestenfalls bedauern, dass dem ägyptischen Vasen-
brenner kein Raffael lebte, der ihm das Zeichnen hätte lernen
können. Was den düstern Aegypter von dem sinnenfreudigen
Santi scheidet, ist kein Exerzitium. Es ist eine Welt, vor der
dieser liebend auf den Knieen liegt und jener in wildem Schmerz;
die genommen dort zum Fetisch wird und verschmäht hier zur
Qual; deren Diesseits dort nicht jenes kennt, das ein Jenseits ist.
Aphrodite ist ein Leib, in dem der höchste irdische Wunsch
sich selbst erhört; die Isis ein Phantasma, zu dem der Ekel vor
dem Leben floh, um in der Angst vor den Gestirnen nicht zu
vergehen. Die Madonna, die abendländische Venus, in deren
mildem Lächeln die Sünde zu Gott heimfindet, hat zwar nicht
jene Erdnähe. Von dieser Sonnenhöhe aber ist sie immer noch
so weit entfernt, dass sie keine Mitte ist. Einsam geistert am
Eingang der katholischen Jahrhunderte die altägyptische Kunst
und alles, was Antike und Papsttum an Kunstwerten schufen,
findet in ihr kein Gleichnis. Es ist, als zöge ein halbes Jahr-
tausend Menschenschmerz vor der allesumfassenden Liebe der
katholischen Kunst schweigend in die Historie sich zurück.
Der Naturalismus siegt ohne Kampf und nur der gewaltige
Erlösungsgedanke verhindert das Versanden der Entwicklung in
technischen Problemen, die, in der breiten Pracht des Cinque-
cento zwar gelöst, von der tiefen Weihe des Sujets dennoch nicht
ganz gedeckt werden und über die Sixtinische Madonna eine
Glätte legen, die zu sehr von dieser Welt ist. Lediglich Miche-
langelos Plastik erreicht eine Höhe, die über den kirchlichen
Himmel hinaus an den Geist rührt. Die spätere italienische
Kunst ist denn auch nur auf ihr technisches Rüstzeug gestellt
und tritt hinter Grünewald und Dürer ab. Dieser bringt in seine
unermesslich schweren Bilder den faustisch-deutschen Zug und
so seine ererbte Liebe zum Gegenstand auf ein Niveau, das die
bürgerlich-fromme Zufriedenheit der italienischen Faltenziseleure
hoch überragt. Und Grünewald vermag, was nur ein Deutscher
vermochte: er malte die grösste Kreuzigung, indem er dem gläu-
bigen Schauder den persönlichen Schmerz des Gottsuchers verwob.
Damit gelangt er neben Rembrandt, dessen trotz allem welt-
schmerzzerissenes Hirn ihn alle Zeiten stellt; und das in den
„Schülern von Emaus" Christus einen Blick emportun lässt, der
in den höchsten Himmel will und aus der tiefsten Verzweiflung
k.
23
Originalholzschnitt
Christian Schad
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kommt. Mit dem Sinken des religiösen Empfindens beginnt die
eigentliche Aera des Naturalismus: die Beziehung des Gegen-
standes zum Himmel fällt zugunsten der optischen zum Maler
und Licht und Schatten werden die alleinseligmachenden Gefilde,
auf denen Auge und Pinsel so lange einander hetzen, bis sie
in der Sackgasse des Impressionismus für immer niedersplittern.
Michelangelo, Grünewald, Dürer, Rembrandt: was der Na-
turalismus hier erreicht, hebt ihn nur darum so hoch über die
Reihe seiner anderen Jünger, weil das mit am Werk ist, was
bereits ausserhalb des naturalistischen Empfindungskomplexes
fällt. Es ist bezeichnend, dass gerade hier trotz aller Popularität
jene Bürgerliebe ausbleibt, die Raffaels Madonnen ins Schlaf-
zimmer hängt; verwunderlich aber, dass es diesen Männern in
der Zwangsjacke naturalistischer Traditionen, nicht zu eng wird.
Dennoch sind hier schon befreiende Striche, wenngleich sie noch
nicht an das streifen, was den naturalistischen Gegenpol erreicht
und dessen Ausdrucksmittel, den Stil. Und es ist zweifellos,
dass dieses Gehirnniveau es ist, das diesen Meistern die unent-
wegte Schätzung einer Zeit einträgt, die, die Kunst fast eines
Jahrtausend überspringend, zu den Abstraktionen Aegyptens zu-
rückfindet, deren Grösse, deren Stil. Diese Umkehr, so rapid
und ganz sie auch sich vollzieht, meldet sich gleichwohl deutlich
an: Cezanne, van Gogh, Gauguin. Dieser wird zum Wieder-
entdecker der Fläche und Farbe und schafft auf Tahiti Bilder,
deren technischer Abkehr von der Natur aber noch nicht ganz
die entspricht, die reingeistig ist. Van Goghs Farbenvisionen,
deren glühhhsse Intensität ihre Gegenständlichkeit noch zu wenig
verformt, zeugen von einem Befreiungsbedürfnis, dessen verzwei-
felte Kraft des höchsten Staunens wert ist und der Hauptbestand-
teil des geistigen Inventars der neuen Malerei. Cezanne hat für
sie das wenigste getan: er übertrifft zwar die beiden andern an
Klarheit und Sicherheit der Farbe, sein Gehirn aber ist unpro-
blematischer und nicht von jenem wilden Schmerz gerüttelt, der
van Gogh verzehrte. Und dieser Schmerz ist es. der in gerader
Linie zu den Pyramiden führt und in das Herz der neuen Kunst.
Sie ist wie alle wahrhaft grosse Kunst der Drang, von der
Qual des Daseins dadurch sich zu befreien, dass sie es, geistig
tief erlebend, transformiert; und nicht wie der Naturalismus ver-
klärt. Dje unausweichliche Liebe zum Gegenstand erleichtert
diese Transformation; sie erschwert sie nicht, da es ohne sie
keinen Anfang gibt. Diese Transformation setzte als Expressio-
nismus ein, übernahm sich als Kubismus und überschlug sich
als Futurismus. Dennoch wird es an der neuen nicht nur-
kubistischen und nur-futuristischen Malerei klar, dass Kubis-
mus und Futurismus nur weniger überschraubt zu sein brauchten,
um zu enthüllen, wie viel die expressionistische Malerei von
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ihnen in sich hat. Jedes gute neue Bild hat kubistische und
futuristische Elemente und es ist ein Rufzeichen, dass die ägyp-
tische Kunst schon die eckige Flächenvernichtung kannte; nicht
nur in ihren Pyramiden, die grösser sind und mächtiger als
sämtliche Bauwerke des Abendlandes; auch in ihren Bildwerken,
deren oft fast geometrische Auflösungen, deren unanatomische
Gliederverrenkungen an Picasso gemahnen und konzentriert das
enthalten, was alle wahre Grösse in der Kunst bedeutet: Stil.
Er ist das geistige Auflösen des Gegenstandes in der Idee, um
von ihm sich zu befreien und in ihr zu erlösen. Diese Idee,
völlig intuitiv, ist letzten Endes ein Mysterium. Sein Vorhanden-
sein ist dann unanzweifelbar, wenn jene seltsame Ruhe über das
Auge ins Herz kommt, die selbst ein Mysterium ist.
Es wirkt aus den Werken Christian Schads. Dieser Maler
hat früh den Wort- und Bildwust der Kunstmacherei von heute
niedergetreten, indem er den Gegenstand nie fallen Hess wie
jene aus Schwäche Zuweitgegangenen, die dem Auge eine Farben-
und Flächenmusik machen wollen, für welche das Organ zu
haben man sie behaupten lassen muss; vielmehr im ersten An-
fang schon ebenso wie in der ersten Reife den Gegenstand so
aufzulösen strebte, dass es ein Exempel wird, dessen Resümee
an den aufgerichteten Teilergebnissen sich von selbst kontrolliert.
Die Idee ist da, denn sie ist geworden. Für jene ist sie geworden,
weil sie da ist. Aus diesem klaffenden Unterschied steigt sich
selbst beweisend die Kraft, sich unnahbar verhüllend die Schwäche.
Christian Schads Kraft bewies sich, nachdem sie, gleichsam prak-
tisch sich orientierend, fast alle Stilwege sicher begangen hatte,
um freiwillig wieder umzukehren, erstlich in einer schon weit
zurückliegenden Arbeit, dem „Heiligen Sebastian", dessen Linien
und Flächen zerrissen und zerhackt werden, als müsse der Schmerz
des Märtyrers in viele kleine Fetzen und Splitter zerstücken, und
nur die Pfeile sitzen scharf und fest. „Absalom“, der wollüstig
gekrümmt an seinen Haaren schaukelt, ist wieder straffer und
linearer gleich der „Illustration“ und der „Geisselung“, die um
den stets reizenden Rythmus der Bewegung sich nküht und ihm
bis auf die Haut der Leiber nachjagt, wo sie ihn schwarz er-
trinken lässt oder weiss verflimmern. Die „Verkündigung“, die
die Fläche windet und wie verknüllt und so sehr viel Entgegen-
gedrängtheit und Zurückweitung aus ihr herauszieht, ist eine
grosse Stufe, welcher, obwohl scheinbar ohne entwicklungsmässigen
Zusammenhang, eine Reihe durchaus kubistischer Holzschnitte
und Radierungen folgen, die dann erklärend ?upi ersten völlig
reifen Werk führten, dem Porträt auf Seite 23. Hier ist die
Kontur mit verblüffend sicherer Kraft zerschlagen und durch kurzes
Zerschneiden der Linien und eckiges Auflösen der Flächen die
unterirdische Richtung eines Gesichts so ununterbrochen herauf-
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geholt, dass sie als die Idee im Raum ruht und unerklärbar
dennoch sich selbst erklärt. Eine Komposition, die mehr der
Gelegenheit entsprang als einer innern Folge, führte Schad mit
einem Male vor eine neue Aufgabe: sechs Männer auf einer
Plakat-Fläche zu vereinigen. Doch sofort mit der Aufgabe stellte
sich die Kraft zur Lösung bereit und errang sie sich so, dass
ein neues Werk entstand, das Köpfe von aufregender Durch-
spürung, welche bis in die Körper nachgetrieben wird, in ein
unerbittlich separierendes Nebeneinander bringt. Wie hier der
Gegenstand und die Fläche überwältigt wird, um aus ihr
Raum und Ringen zu reissen, lässt wissen, dass hier einer am
Werk ist, der ein Starker ist.
Walter Serner.
Zeichnung
Hans Arp.
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Aus den Briefen
Friedrichs des Grossen
— Was die private Politik angeht, so kenne ich keine
andere als die, Liebe zu üben und meinen Freunden treu zu sein.
— Leider habe ich nur einen sehr schwachen Glauben und
muss ihn oft durch gute Gründe und sichere Beweise stützen.
— Ein Missetäter braucht nur erlauchter Herkunft zu sein,
um auf den Beifall der meisten Menschen zählen zu können.
— Glück gibts für den Menschen nur in seiner eigenen
Brust.
— Könige sehen die Menschen niemals, wie sie in Wirk-
lichkeit sind, sondern nur so, wie sie erscheinen wollen.
— Gesandte, die von ihren Fürsten an fremden Höfen ge-
halten werden, sind privilegierte Spione.
— Ein guter Kopf leistet auf allen Gebieten gleich Tüchtiges.
— Es ist besser, zwanzig Schuldige freizusprechen, als einen
Unschuldigen aufzuopfern.
— Das Kennzeichen des Genies ist die Unbelehrsamkeit.
— Voltaire ist ein Elender. Ich schäme mich für die Mensch-
heit, dass ein Mann, der so viel Geist hat, so voll Bosheit sein
kann.
— Zwei Hauptbeweggründe regieren die Menschen: Furcht
vor Strafe und Hoffnung auf Belohnung.
— Aus grossen Versammlungen gehen keine weisen Be-
schlüsse hervor
— Die guten Absichten der Eltern wollen den Sohn zum
Musterbild machen. Die guten Leute begreifen nicht, dass er
ein Trottel wäre, wenn er keine Leidenschaften hätte.
— Mit Ausnahme der Königin (Maria Theresia) von Ungarn
und des Königs (Karl Emanuel III.) von Sardinien sind alle Fürsten
Europas nur erlauchte Trottel.
— Mein Ruf würde in den Rauch gehen, wenn Sie mich
nur eine Viertelstunde sprächen... Käme die schöne Helena
wieder zum Vorscheine, so würfe man ihr, anstatt ihr den Hof
zu machen, vielleicht Bratäpfel an den Kopf.
— Es wäre für den Fortschritt des menschlichen Wissens
zu wünschen, dass man, statt neue Bücher zu schreiben, vielmehr
gute Auszüge aus den schon vorhandenen machte. Dann brauchte
man nicht zu fürchten, seine Zeit mit unnützer Lektüre zu verlieren.
— Was sind wir doch für armselige Menschen! Die Welt
beurteilt unser Verhalten nicht mach unseren Beweggründen, son-
dern nach dem Erfolge. Was bleibt uns da übrig? Man muss
Glück haben.
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— Ich verbiete Euch bei Todesstrafe, einen Kriegsrat ab-
zuhalten.
— Den Botschaftern soll die Mitnahme von Konkubinen
untersagt werden, da man den weiblichen Sinn für wenig fried-
fertig hält.
— Obgleich meine Gesundheit nicht fest noch blühend ist,
so lebe ich doch; und ich bin nicht der Meinung, unsere Exi-
stenz sei so viel wert, dass man sich Mühe geben müsse, sie
zu verlängern.
— Das Völkerrecht, dem jede Vollstreckungsgewalt fehlt,
ist ein leeres Phantom, das die Herrscher in ihren Streitschriften
und Manifesten heraufbeschwören, selbst dann, wenn sie selber
es verletzten.
— Prägt es Euch wohl ein, dass es keinen
grossen Fürsten gibt, der nicht den Gedanken
mit sich herumtrüge, seine Herrschaft zu er-
weitern.
— Nicht auf die Meinung der Andern kommt es mir an,
sondern auf die unsägliche Befriedigung, die ich fühle, wenn
ich einem vernünftigen, menschlichen, wohl-
wollenden Wesen gleiche.
— Es gilt gleich, ob man mit der Zunge oder mit dem
Dolche meuchelt.
Otto van Rees
Zeichnung
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Die Stoppelfelder
Viel Prozessionen gehen um
Wie Herden Laub, die Herbstwind weidet.
Der Welt verweintes Witwentum
Ist ganz in klanglos Grau gekleidet.
Die Stoppelfelder sterben. Tot,
Verlassen liegt das Letztgemähte.
Am Rain verderben Blum und Brot
Wie Opfer, welche Gott verschmähte.
Die Bäume, ihres zerschlissenen Kleids
Letzte Fetzen zusammenraffend im Fieber,
Schluchzen Hymmen des Herzeleids.
Herzlos reitet der Himmel vorüber.
Max Herrmann (Neisse)
Im Weltgesang
0 Dunstgestade am Himmelsrand ...
Ihr sammetschwarzen Inselschatten
Der Wälder im zerfliessenden Land!
Wie sich nun Turm und Ebne gatten
Zu einem Klang!
E i n dunkler Körper die ganze Welt ...
Aufrauscht als Stimme aller Dinge
Der . Wind . . Was alle Atmenden schwellt,
Spannt auf der Riesenwolke Schwinge
Sich himmelentlang . .
Auch ich entflohen schon in den Raum . .
Ich fühle kaum mir selbst mich bleiben . .
Der Geisterheerstrom schieiert von Saum
Zu Saum, bis alle mit ihm treiben
Im Weltgesang . . Leo Sternberg
Bücherbesprechungen
Franz Werfel: „Einander“. Oden, Lieder, Gestalten. (Kurt Wolff,
Vlg., Leipzig.) Zuspruch der paar guten Menschen aus der Ferne blieb immer
um meine verstörte Seele wie Flügelschlag eines Schutzengels. Aber wenn
die Zeit doch einmal kommen sollte, wo unser Fähnlein marschieren müsste,
wer würde uns die wunderwirkende Losung geben und den Segen der Kraft,
Fanfaren und Fahne und Heilandsstern? Ich irrte im Gebrige umher; mit
den Nebelgnomen und Wolkennornen stiegen Gespenster des Zweifels und
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kleinmütiger Anfechtung aus den Gründen; bunt lagen die Städte und
Wälder und Wiesen im Tal, aber sie hatten kein Echo, und auf den Graten
stand ich allein dem Gotte gegenüber, dem ins Antlitz zu schlagen nun Alles
stolz war, und hielt die Hände empor, wie ein Opfer darzubringen, aber
meine Hände waren leer. Leugneten die, so jetzt Sieger schienen, ihn noch,
wo er sich ihnen ganz ohne Mantel, Maskenzwang und Marter offenbarte,
und schämten sich nicht, in seinem Allerheiligsten ausgespieen zu haben, wie
sollten unsere verrosteten, zagen, dünnen Stimmen die Kraft besitzen, Feind-
liches niederzusingen, wie sollte unser Glaube die innerste Erfülltheit be-
kommen, leibhaftig Zeugnis abzulegen? Wer wäre gegürtet und gerüstet
genug, Prediger in der Wüste zu sein, und, da schon Rufe von Unten ver-
worren zu beginnen schienen, wo war Der, geläutert genug, als ihr Chor-
führer vor ihnen zu reiten, dass er die Hohen antrieb und den Niedrigen
Bestätigung gab und sich aus den Einfältigsten selbst — ein anderer Or-
pheus — ergriffen Volk schuf?
Da wogte es durch den Forst wie durch Harfenphalanx, und die Sonne
floss in Fenstern wie eine Hostie, die klingt, und Orgelfugen bauschten sich
über mir, dass mein Atem hochging wie Silberkugel im Springbrunn. Mir
entgegen schritt Einer mit leuchtender Stirn, die aller Dinge Geheimnis ge-
spiegelt hatte und nun aufflammte steil in den Himmel hinauf, der auch
mein Himmel ist:
„Jetzt sing ich Dich, mein Vater,
Mein Vater, Dich sing ich jetzt!“
Vor ihm her schwebten mit Palmen in den Händen drei Auserkorene,
weiss in Weiss, den Weg zu bereiten: Laotse, Dostojewskij und der Jüng-
ling im feurigen Ofen, Novalis; und er umarmte mich und ich trat ein in
seine unermesslich weite, weltenumwindende Umarmung. Und so hob er
an, über alle Massen zärtlich und hüpfend und den Kranz über dem be-
sternten Haupte schwingend und sich in den Staub werfend und die nackte
Brust weisend wie einen Schild: „Die Welt fängt im Menschen an. Im
Lächeln, im Atmen, im Schritt der Geliebten ertrinke! Weine hin, kniee hin,
sinke!“ und um seine Mundwinkel blühte es wie junger Klee: „Zartsein ist
Weisheit und Milde ist Sinn“ und die Narben in seiner Stirn bestätigten
sein Berufensein: „Rein will ich sein und Geist, das ist Schmerz“. Alle
Waffen hatte er, waffenlos der er war, im Blitzen des Auges, das hiess:
„Der Krieg“ und „Wortemacher des Krieges“ und „Der Weise an seine
Feinde“, und nicht war Lächeln ihm fremd, und manchmal verweilte er und
holte eine Flöte hervor und spielte sich so Süsses, dass die Lerchen über
ihm schwiegen, das hiess: „Tempel-Traum“ und „Malcesine“ und „Mond-
lied eines Mädchens“. Und oft kniete er nieder und ballte sich selbst im
Gebet und hatte sein Gethsemane: „Warum mein Gott —“, und seine zweite
Bitte: „Komm heiliger Geist, Du schöpferisch!“ Oft auch gab er jeglicher
Kreatur ihre Wegzehrung und redete der Demut zu und wusste Verflogenes
mit grosser Güte zu erlösen, weiser als unsere Weisheit, und um ihn flat-
terten immer Genien, die Hessen farbige Bänder wie Wimpel wehen, von
denen es grösste: „Spruch eines gestürzten Saturnus“ oder „Eines alten
Lehrers Stimme im Traum“ oder „Luzifers Abendlied“ und „Sterbender im
Verbrecherlazarett“ und „Romanze einer Schlange“. Und wenn er sich
bückte und etwas aufhob, schwangen sich welche vor, die trugen Solches:
„Alte Dienstboten“ oder „Hekuba“. Und das Verworfenste noch, das sich
nicht getraute, aus Höhlen lugte, die letzte Eitelkeit nicht vom Halfter lassen
wollte, nahm ein Hymnus über alle Hymnen in die Arme, und dessen Ueber-
schrift verlosch nie und blieb wie Arion oder Aldebaran, das war „Jesus und
der Aeser-Weg“.
Wir aber wussten jetzt, dass wir uns erleben würden, und Gewissheit
war mit Eins um uns wie Pfingstfeuer, und unsere Zuversicht betete ihr
Bekenntnis mit, wie Koppensturm laut und in tausend Zungen;
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„Der Strömende allein, der sich nicht staute,
Mit süsser Hand für jeden Stahl zu leise,
Er wird am Ende diese Welt zerschmeissen“.
Und das war uns mehr als: Amen! Amen! und wunderwirksamer
als aller Manifeste schielendes „Wir wollen und der bestgemeinten Kate-
chismen verhallende Vernunftsartikel. Dem letzten Thomas unter uns aber,
der den ewigen, von Goethe her sich wölbenden Regenbogen nicht sehen
konnte, oder der taub blieb für diese unendliche Symphonie und Noten und
Kontrapunktik rechtens auseinanderklaviert und „bewiesen“ haben wollte,
wussten wir vor Ergriffenheit nichts zu sagen — denn wie könnten Worte
den berühren, der die nächste Nähe der Seelen nicht fühlt? —, sondern
schlugen stumm Zeilen von Fechner auf, die unsre bebenden Finger unter-
strichen : „Die Geschwindigkeit der Planeten ist ungeheuer und nimmt noch
mit der Sonnennähe zu. Wenn daher die lebendigen Planeten sich rasch
um die Sonne oder auch um andere drehen, so muss von selbst ein Ton
dabei entstehen, und dieser Ton muss der Bewegung entsprechend sein.
Wenn also Engel tanzen, so komponiert sich das Musikstück von selbst dazu,
sie tanzen dessen Klangfiguren. Dies ist die wahre Harmonie der Sphären,
der wunderschönen Augen, der Engel“.
Max Herrmann, Neisse.
Franz Jung: Sophie, Roman (Verlag der „Aktion“, Berlin). Es ist
im Grunde immer unvermeidlich gewesen und seit etwa zwei Jahren wohl
allgemeiner selbstverständlich geworden, dass jeder neue Roman, dem
Verlag oder besondere Umstände das Signum guter Literatur applizierten,
an dem Titanenwerk Dostojewskiys gemessen wird. Denn hier ward eine
Höhe erklommen, die alle noch möglichen unsichtbaren so nebenweglos
beherrscht, dass in ihre Richtung fallen muss, wer über sie hinaus will;
hier wurde das jüngste Mal bis in unaufspürbar geglaubte Verästelungen
vorgeschrieben und damit dem Menschen von heute so viel mit dem Hauch
des Allerletzten beschert, dass das Gefühl, es bleibe nur mehr zu helfen
übrig, wie unabweisbar bleibt. So trifft jeder neue Roman in seinem guten
Leser eine stereotype innere Einstellung an, die auf eine heilige Erfüllung
weist und die Achseln heben darf, wenn man sie ausschalten will. Deshalb
kann ein Romancier, der ehrlich die grosse tiefe russische Richtung bekennt,
grösserer Anteilnahme sicher sein als einer, der anderswo hinaus will. Der
starke Zweifel, der diesem gegenüber seine persönlich mächtige Berechtigung
hat, wandelt sich von jenem in freudige Erwartung. Franz Jung weckte vor
vor drei Jahren solch eine Erwartung, als sein „Trottelbuch“ erschien, in
dem Eheerlebnisse von erschreckender Brutalität bis an die Grenze einer
Sensibilität hin gehoben wurden, die einen Abgrund erfühlen Hess, fast
schon sehen und begierig machte nach seinen Klüften, Klingsteinzacken und
kleinsten Rissen. Der Roman „Kameraden“, der diesem Buch folgte, bezeugte
auf jeder zweiten Seite, dass sein Verfasser die Therapie der Psychoanalyse,
deren Entdeckung bis zur Heilung körperlich, wenn auch unorganisch lei-
dender Hysterischer segensvoll und epochal bleibt (bis hierher! nicht weiter!),
wie viele andere allzu enragierte Ideenverliebte zur Methode der Menschen-
Erkenntnis par excellence hinauftrieb. Doch der Mensch ist so tief ange-
kettet, dass es niemals eine Methode, deren Wert nicht eng begrenzt wäre,
geben kann oder gar einen Sonderschlüssel und wenn einer so etwas zu
haben meint, muss es ihn unehrlich machen oder verworren. Es ist darum
ein einprägsamer Umstand, dass in den „Kameraden“ und in dem Roman
„Sophie,“ der noch um vieles mehr psychoanalytisch basiert ist, die Stellen,
welche die Bewusstseinsform bringen, in die das Gegenständliche, Optische,
Gefühlte dieser Personen gerät, scharf Umrissen und hell sind, die Dialogen
aber fast durchwegs unentwirrbar, allzu oft orphisch-lückenhaft und
manchmal sogar recht deutlich arrangiert. Diese Mängel, die gleichwohl
nicht ganz in das Konto der Freudschule gehören, wären wohl weniger zahl-
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reich und nicht so breit geworden, wenn der Verfasser die Richtung seines
„Trotelbuches“ nicht verlassen hätte. Hier war er ungefesselt nach innen
gerichtet und mit aller Jugendstärke bestrebt, höher, immer höher zu fassen.
Dann trieb ihn die Hoffnung, einen neuen besseren Weg gefunden zu haben,
anderswo hinaus. Auf einen Irrweg. Möge er zurückfinden. Und die grosse
Richtung seines Anfangs wieder bekennen.
Sagitta: Die Bücher der namenlosen Liebe (Verlag J. Frangois, Haag
i. H., W. de Zwygerlaan 99). Dieses Buch, das vor seinen dumm-dreisten
Verfolgern aus Berlin nach Holland fliehen musste, hat noch heute denen,
für die es kämpft, nicht allzu viel Interesse zu entreissen vermocht. Der
Grund liegt tief und an der Oberfläche zugleich. Die männliche Homosexuali-
tät, deren Verachtetsein hier durch eine erotisch-ideelle Dichtung zerschmet-
tert werden soll, ist sicherlich so wenig verachtungswürdig wie die Sexuali-
tät überhaupt. Aber sie ist Sexualität und ideell konstruiert sentimentaler
als alle Sentimentalität; denn gerade das Mannesbegehren des Mannes ist
am unverlogensten: der Friseur betrachtet es flott und bieder, der Geistige
ernst und ablehnend. Beiden ist darum ein Werk, das die Verpönung ihrer
Menschlichkeit dadurch aus der Gesellschaft schaffen will, dass es sie zum
selbstbetrügerischen Mumpitz („Verlorenes Glück“) erhebt, unwichtig, wenn
nicht lächerlich. Besser ungerecht verstossen, als verlogen umarmt. Gleichwohl
bin ich weit davon entfernt, Sagittas Dichtungen verlogen zu heissen. Wer
sein Erleben so rein persönlich zu fassen weiss, ist kein Lügner. Doch,
dass es für ihn keine Lüge sein mag, beweist nichts weiter als einen bedauer-
lichen Einzelfall, der auf Verallgemeinerung nicht mehr Anspruch hat als ein
Kommis, der sein Dummerchen für einen Engel hält. Der Dichter Sagitta
aber, dem die Strophen „Wer sind wir“ und die Novellen „Fenny Skalier“
gelangen, ist ein Dichter. Trotz allem; und deshalb: Shakespeares „Romeo
und Julia“ hat nicht seinen „Hamlet“ verhindert.
Rudolf Leonhard: Ueber den Schlachten (Verlag A. R. Meyer, Berlin-
Wilmersdorf). Auf den vierzehn Seiten eines Flugblattes etwa über ein Dut-
zend Kriegsgedichte, von denen ich nur das erste gelesen habe. Der Schlüss-
vers, der mir lange in den Ohren hing, lautet: „Wir lieben den Krieg, wir
wollen das Böse.“ Nachträglich bemerkte ich auf dem Titelblatt das Motto:
„Im Taumel der ersten Wochen geschrieben — Der Rausch ist verdunstet,
die Kraft ist geblieben — Wir werden uns wieder besinnen und lieben.“
Das ist keine Entschuldigung, Herr Leonhard. Wenn Sie dem Anfang, den
ihre „Angelischen Strophen“ bedeuten, ein Weiter retten wollen, müssen Sie
für Ihre böse Schaffensperiode ein ärztliches Attest sich beschaffen, das Sie
für unzurechnungsfähig erklärt. Aber man wird das Attest für erschlichen
halten. Herr Leonhard, man wird Ihnen nie wieder glauben.
Walter Serner.
Inhalt der vorigen Nummer:
Ludwig Bäumer: Somnium mortale; Max Herrmann: O läg ich herz-
los; Else Lasker - Schüler: SennaHoy; Angela Hub er man: Der
Weg; Walter Serner: Inferno; Walter Serner: Goethe und Napo-
leon; Leo Sternberg: Erwachen; E. Woronow: Der wahnsinnige
Pierrot; Rabelais: Wie Stehauf, der Philosoph, die schwierige
Heiratfrage behandelt.
Mit einem Originaiholzschnitt von Christian Schad.
Das
von Christian Schad ist vom Verlag für Fr. 5.— zu beziehen. 20 Exemplare
wurden auf Pergament gedruckt ä Fr. 10.—. Bei Franko-Zusendung in bruch-
sicherer Rolle erhöht sich der Preis um Fr. 1.—.
In kurzer Zeit erscheint im Sirius-Verlag eine
Schad-Mappe
10 Holzschnitte. Das Exemplar kostet Fr, 20.—20 Exemplare werden auf
Kaiserlich-Japan gedruckt ä Fr. 40„—
Für die Herausgabe, Schriftleitung und den gesamten Inhalt verantwortlich:
Dr. Walter Server, Zürich 6, Stapferstr. 21. — Abonnements kosten halb-
jährlich durch die Post, den Buchhandel oder direkt vom Verlag (unter Kreuz-
band): 2.— Fr., für das Ausland 2.50 Fr. — S i r i u s - V e r 1 a g (Dr. Walter
Serner) Zürich 6, Stapferstr. 21. — Für unverlangte Manuskripte wird keine
Verantwortung übernommen. Rücksendung erfolgt nur, wenn Rückporto bei-
liegt, — Gedruckt bei J. Heuberger, Zürich.
Äi 1 e Rechte vorbehalten.