50 dass das Quattrocento seiner Malerei, die Antike ihrer Plastik wegen kulturvoller genannt wird als andere Jahrhunderte, während Michelangelo schuf, als verbrecherische Päpste lebten, und Phi- dias, als das Volk Sokrates töten Hess. Der Unsicherheiten würden nur desto mehr, je weiter das Denken in die Geschichte zurückgriffe. Der Gegenwart zugewandt, findet es, dass jeder Dritte Goethe kennt und jeder Fünfte auf Menschen schiesst, dass dieselbe Zeitung mit denselben Lügen, die sie unterm Strich ver- läugnet, im Hauptteil hetzt, dass in Städten, deren Jammer nie grösser war, Schwänke gespielt werden, dass in Kirchen Priester für den Mord plädieren, ohne dass die, welche das Evangelium lasen, aufschreien, dass ein Zustand, der niemals seinesgleichen hatte, der kultivierteste sein will. Kann er das letzte Lob, das er sich selbst im grössten Masse zuspricht, erhalten? Winkt hier ein Ziel? Kultur? Das Wort ist fort, doch sein Begriff ist da. Kultur ist Moral. Es kann nicht zufällig sein, dass die deutsche Sprache für den Begriff, der den höchsten Wert bedeutet, kein eigenes Wort hat; dass allem, was ihm als Ausdruck dienen soll, Nebenbegriffe untergeschlüpft sind, welche dahin führen, wo Sittlichkeit ein Verein ist oder juristischer Jargon, und an jene Strassenecken, wo Sitte zum Angstruf derer wird, die dem Ur- begriff dieses Hohnwortes näher stehen als dessen Verwalter. Wird ein Begriff in der Sprache obdachlos, so fehlt er ihrem Volk. Er flüchtet in ein fremdes Woit, das ihm jene bereiten, für welche er noch da ist. Die übrigen aber, für welche er nicht mehr da ist, bereiten ihm ein anderes, in dessen schwanken Grenzen alles Platz hat, was ihn ersetzen soll, und das darum nichts sagt und alles bedeutet. Derselbe Weg, der vom vorhan denen Begriff zum fremden Wort führt, muss darum auch um gekehrt zurückgelegt werden. Ihn zu gehen vermag nur, wem zur Sprache auch der Geist, der sie ist, gegeben ward. Ihm redet er das Wort und ist Wahrheit. Den andern ist es klingende Schelle, die jeden Weg verläutet. Ihnen tönt das leere noch voller als das volle, das für sie auch leer ist und wenn hier Kultur genannt wird, so könnte auch Moral gesagt, wenn Moral gesagt wird, auch Kultur genannt werden. Welch eine Berührung! In ihr springt eine Perspektive auf, die in gerader Linie dort endet, wo die Granaten platzen. Nur die Phrase, die am tiefsten schuldig macht, weil sie wider den Geist ist, kann solch ein Unheil gebären. Nur wer ein Wort ausspricht, das ihn nicht so klar erfüllt, dass es ihn erschauern macht, vermag den Mord sich befehlen zu lassen. Nur wer vor dem Wort stumpf ist, bleibt es auch vor der Tat. Und nur eine Menschheit, deren höchstes Gut eine Kultur ist, die sich zusammenschiesst, hat Kultur. Denn sie hat keine Moral. Sie hatte sie nie, weil sie Kultur hatte. Für die unermesslich durch Jahrhunderte gehäufte