104 lichtspielhaus. Doch neben der Schaulust, die er bis über jene Grenzen hinaus befriedigte, wo sie nach Blut und letzten Gräueln gierig ist, lieferte er ein Spiel, das nicht mehr den Schein eines Lebens, das nur vorgetäuscht wurde, erwecken wollte, sondern den, der das Leben nicht einmal mehr war, projizierte. Und wie stets, wenn das Gegensätzliche am weitesten auseinander tritt, es einander wieder näher kommt, so wurde der Kino, indem er stumm blieb, für jene Allzuwenigen, denen wieder alles über lassen blieb, zum Bilderbuch. Wohin aber war das Leben ent flohen? Wohin eine Menschheit, die nach dem Wort das Leben verloren hatte und, als sie dessen Schein nicht einmal mehr für das Leben nahm, selbst diesen? Soweit sie Herrn Franz Blei zum Wegweiser sich erkor, in die Sternheimsche Komödie. Denn von dieser behauptet jener Herr, dass sie das Leben nicht mit dem „modernen" Leben ver wechsle, sondern diesem auch ein Teil des Lebens gebe, es ganz nur als dessen Schein und Zweck sehe. Müsste nicht an genommen werden, dass Herr Sternheim diese Interpretation vor ihrer Veröffentlichung richtig geheissen hat, so könnte eine heftig berichtigende Verwahrung erwartet werden. Denn Herr Sternheim könnte immerhin das Drama der Schauspielerei, die Komödie von gestern, haben schreiben wollen. Da er aber doch wohl die von heute hätte geschrieben haben wollen, wäre sie es allerdings gleichfalls nicht geworden. Wie nämlich Herr Blei mitteilt, hat Herr Sternheim „kurz gesagt, in diesem modernen Leben keinen Standpunkt" und definiert das Bürgerlich-Moderne bloss. Zu diesem Zweck lässt er, wie Herr Blei weiterhin mit teilt, die Personen seiner Komödien nach seinem grammatischen Willen sprechen, und ist mit Herrn Blei wohl der Meinung, dass „die Sachlichkeit dieses Redens bei faktischer Unwirklichkeit des Geredeten dieser Scheinwelt die dichterische Realität gibt.“ Daraus geht hervor, dass Herr Sternheim die Komödie von gestern, welche das „moderne“ Leben zwar als Schein und Zweck des Lebens sah, aber auch so erlebte und gestaltete, nicht geschrieben hat. Hätte er sie geschrieben, so hätte er dem „modernen“ Leben gegenüber den Standpunkt haben müssen, dass es nur der Schein und der Zweck des Lebens sei, und hätte es so erlebt und gestaltet. Da er aber, kurz gesagt, keinen Standpunkt hatte, das „moderne" Leben bloss definierte, es also nicht erleben und gestalten konnte, Hess er die Personen seiner Komödien nach seinem grammatischen Willen sprechen und gab durch die Sachlichkeit dieses Redens bei faktischer Unwirklichkeit des Geredeten dieser Scheinwelt nicht dichterische Realität, sondern eine noch nie dagewesene undichterische. Deshalb konnte Herr Sternheim auch nicht die Komödie von heute schreiben. Hätte er sie geschrieben, so hätte er ihr dich-