278 ohne von der strafenden Gewalt des Staates ereilt zu werden. Diese sittliche Errungenschaft haben wir uns im bürgerlichen Leben erworben durch die Erfahrung von Jahrhunderten, die uns lehrte, daß die Unmoral des einzelnen Staatsbürgers das Gemeinwesen schädigt, daß nur ein moralisches Verhalten der Bürger unter einander einen Staat stützen und in der Welt vor wärts bringen kann. Sollte nicht auch für die Staaten gesellschaft endlich die Zeit gekommen sein, in ihren auswärtigen Beziehungen die sittlichen Grundsätze der bürgerlichen Gesellschaft anzuwenden? Sollte es in Zukunft nicht als strafwürdiger, internationaler Rechtsbruch gelten, wenn ein Staat, nur weil er die größere Macht besitzt, einen schwächeren vergewaltigt oder knechtet? Wie im bürgerlichen Leben die Moral erfahrungsgemäß sich noch immer auf die Dauer als beste Beraterin erwiesen hat, so würde auch ein Staat aus einer moralischen auswärtigen Politik letzten Endes im Völkerleben weit größeren Nutzen ziehen, als wenn er um eines augenblicklichen Vorteiles wil len die Bahn des Rechtes verläßt. Manche meinen aber, daß es der Natur des Men schen entspreche, sich gegenseitig zu bedrohen und zu bekämpfen. Zur Begründung dieser Theorie, die den Menschen mit- dem Tiere gleichstellt, wird Darwin ins Treffen geführt. Sein „Kampf ums Leben“ soll die Unmoral im politischen Leben rechtfertigen. Mit Un recht! Darwin hat nur die Lebenskonkurrenz im Auge gehabt als Mittel zu einer immer größeren Vervoll kommnung. Den Ausdruck „Kampf ums Leben“ hat er äußerst selten und höchst ungern gebraucht, gerade weil er das Gewalttätige aus seiner Lehre verbannt sehen wollte. Wie sich aber auch der Sprung des Menschen aus dem Tierzustande vollzogen haben mag — falls über haupt ein solcher Sprung jemals stattfand —, eins ist sicher: Das höchste lebende Wesen auf der Erde, der Mensch, besitzt die Vernunft, eine Fähigkeit, welche mit keiner Eigenschaft tierischer Lebewesen ver glichen werden kann. Sie ist göttlicher Essenz. Sie hat dem Menschen etwas geschenkt, das in der Tier