279 weit nirgends zu finden ist, die Moral, 'das heißt die auf tausendjährige Erfahrung aufgebaute Lehre, daß nur dann ein menschliches Zusammenleben möglich ist, wenn die eigenen Wünsche und Begierden Halt machen vor dem Lebensrechte des Nächsten. Warum soll diese Lebensregel nur Menschen binden und nicht auch die aus Menschen zusammengesetzten Nationen'? Warum sollen die Lenker der Staaten in ihrem Ver kehr untereinander einer andern Weisheitsregel fol gen? Vor unserer Zeit ist es der Regierungsgewalt ge lungen, den ewigen Kämpfen der Stände eines Staates ein Ende zu bereiten durch Ablösung des Faustrechts durch ein jedermann bindendes Gesetz. Heute denkt niemand mehr daran, Städte oder Herrensitze durch Umwallung mit Schutzgräben abzuschließen. Trotzdem es noch bösartige Menschen auf der Erde gibt. Die Zeiten haben sich eben geändert. Die Staatsbürger verlassen sich auf den Schutz des Gesetzes. So wird auch in das internationale Leben der Völker nur dauernder Friede kommen, wenn ein erzwiingbares übernationales Gesetz dem Grundsatz überall Geltung verschafft, daß Recht vor Macht geht, daß kein stär kerer Staat den schwächeren unbestraft vergewaltigen darf. So lange wir aber zu dieser höheren Rechtsstufe nicht emporgestiegen Sind, sollte die Diplomatie wenig stens versuchen, durch eine anständige aufrichtige Politik das Vertrauen der Völker zu gewinnen, an statt durch Geheimtuerei und Schliche aller Art das Völkerleben zu vergiften. Mit Recht bezeichnet schon Kant die „Fähigkeit der Publizität“ als das wahre Kennzeichen einer ehrlichen moralischen Politik. Und selbst ein Realpolitiker wie Bismarck war beim Zu rückschauen auf sein Lebenswerk zur Erkenntnis ge kommen, daß „in den meisten Fällen eine offene und ehrliche Politik erfolgreicher als die Feinspinnerei früherer Zeiten“ sei. (Gedanken und Erinnerungen II, 253.) Der Ein wand der heutigen Diplomaten, daß man Staatsgeheimnisse anderer Kabinette nicht verraten dürfe, ist grundlos. Eine moralische, den eigenen mit