HERAUSGEBER: LUDWIG RUBINER
3. JAHRGANG / 1. UND 2. MAI HEFT / 1917
INHALT:
ORGAN / NEUER INHALT
EUROPÄISCHE GESELLSCHAFT
MITMENSCH
MENSCHEN / BÜCHER / ZEITSCHRIFTEN
HANS RICHTER: SCHWARZWEISSES VOLKSBLATT
(EreJS des 9feftes: 50 Pfennig oder 50 Centimes
ZEIT-ECHO-VERLAG:
BENTELI A.-G., BÜMPLIZ-BERN UND LEIPZIG
HERAUSGEBER: LUDWIG RUBINER
ZÜRICH VI • HADLAUBSTR. 11
ie Zeitschrift ist keine biblio-
phile, sondern eine moralische
Angelegenheit. Nicht aufgenom-
men werden Werke irgend einer
Unterhaltungsabsicht, beschrei-
bende Zeichnungen, Gedichte,
Novellen und Betrachtungen, die
allein der Erklärung und der Bil-
dungdienen. ZurVeröffentlichung
zugelassen sind nur fordernde
Formulierungen von europäischer
Gesinnung.
Manuskripte und alle Zusendungen, die nicht
das Abonnement betreffen, sind einzig
an die Redaktion, Zürich VI,
Hadlaubstraße 1 1
zu richten.
ORGAN
Eine Zeitschrift hat heute gar keinen lebendigen Sinn. Sie ist ein
Konversationsmittel geworden, wie es vor hundert Jahren das Lexikon war.
Zeitvertreib mit Betrachtung.
Aber Geschriebenes, Gezeichnetes, Gedrucktes hat nur noch Wert, wenn
seine Formulierung äußerste Notwendigkeit ist; wenn es so notwendig ist,
daß es aufreizend wirkt durch den Mut zum Schlagwort; wenn seinem Ur-
heber die Hingabe so wichtig ist, daß er auch vor der Einfachheit der Platitüde
nicht zurückschreckt. Also das Gegenteil von Bibliophilie.
Eine Zeitschrift hat auch im besten Fall noch das Unglück, leicht
bibliophilen Charakter zu tragen, immer noch nicht unmittelbar zu sein.
Dies eingestanden.
Aber gerade der Inhalt, der Wert, das Geistige, das Wort, das die
Menschen vor die Entscheidung zur Unbedingtheit stellt, muß auf die
unmittelbarste, direkteste Art unter die Menschen gebracht werden. Das
Ideal ist: das Flugblatt, der bibliothekarisch ganz wertlose Wisch, der ein-
fache bedruckte Fetzen Papier, den man in die Tasche stopft. Oder man
wirft ihn weg, und nur darauf kommt es an, daß man ihn nie wieder ver-
gessen kann, wenn man einen Blick auf ihn warf: so tief hat er getroffen.
Eine Zeitschrift wird oft ein Organ genannt. Aber die einzige, die
allereinzige Existenzberechtigung? die eine Zeitschrift heute noch haben
kann, ist, daß sie ein Organ ist. Ein wirkliches Organ, unsymbolisch gemeint.
Ein Organ wie Kopf, Augen, Mund, Arme, Beine des Menschen, eine Fort-
setzung und Erweiterung der menschlichen Glieder bis zur lebendigen
Berührung des andern Menschen.
Eine Zeitschrift ist nicht zur Erkenntnis da. Nicht zur Betrachtung,
nicht zum Genuß. Sie ist auch keine Tribüne, an der Meinungen zur
Diskussion gestellt werden. Sie hat Lebensrecht nur, wenn sie Bewegung,
Griff und Darreichung dieser letzten, unbedingten und verzweifelten
Menschen ist, die bereit sind, ihre Person völlig mit ihrer Sache zu identi-
fizieren; die ihr Ziel des Geistes mit jedem Mittel ihres Körpers durch-
setzen wollen; denen Reden, Handeln, Schreiben keinen Unterschied be-
deutet, sondern bloße verschiedene Äußerungsformen der menschlichen
Liebestätigkeit. Und die zuletzt gedruckt werden, nicht um des Veröffent-
lichens willen, sondern nur weil sie so gleichzeitig zu mehr und verschie-
deneren Menschen gelangen, als allein durch die gesprochenen Worte im
kleinen Zimmer.
Jeder weiß heute, daß in allen Ländern die Menschen nur schweigen,
weil sie glauben, von den andern nicht gehört zu werden. Aber es gilt nur,
ihnen ein Zeichen zu geben, daß das Klopfen ihres Herzens drüben unter
den fernen, unbekannten Brüdern wahrgenommen wird, daß ihre Sprache
wie ein Händedruck herüberkommt, daß vor dem Geiste die Entfernungen
nichts sind: Und Grenzen, Drahtverhaue, Heere sind überholt.
NEUER INHALT
Im Moment des Kriegsendes muß die geistige Welt dieser Erde bereit
sein. Sprechen wir gar keine großen Worte aus; lassen wir die Schwüre,
daß dieser Krieg der letzte sei. Das haben wir den kommenden Generationen
als Geburtsgeschenk mitzugeben: die Verneinung, Verlachung, Verachtung,
Verunmöglichung des Krieges. Aber dies kann erst eine Folge der ganzen
Haltung und das Ziel im kommenden Zeitalter sein.
Für den Moment des Friedensschlusses geht es nicht um die Entschlüsse
der Zukunft, sondern um eine ungeheure verödete, ausgesaugte, Schritt für
Schritt grauenhaft isolierte Gegenwart. Wir dürfen unsere Aufgabe nicht
aufschieben; nicht kleinkrämerisch warten, bis die Verhältnisse im Laufe
der Zeiten wieder ins Menschlichere gerollt sind. Hier muß unser Wille
stehen. Die Geistigen aller Länder müssen in diesem Moment sichtbar vor
dem Auge der Völker sich die Hände reichen. Die Entschlüsse jedes
Einzelnen sind längst gefaßt; sie sind einander nicht fremd. Die Schöpfungs-
pläne der Einzelnen für die Zukunft der Welt stimmen alle in den Grund-
zügen so überein, daß man sagen muß, der geistige Weg für das Wollen der
Besten ist schon vorgezeichnet. Es handelt sich also nicht mehr um Dis-
kussionen. Es handelt sich um einfachste, reale Vereinigung der Wollenden.
Und nichts andres ist unsere kleine, harmlose, so bescheidene Zivili-
sationsaufgabe, als bis zu diesem Moment fest zu bleiben, nicht zu vergessen
und nicht vergessen zu lassen. Einer Welt (ihre namenlose Leidenszer-
bröckelung ist heute nur noch der eigenen, schwerfällig weiterrollenden
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Trägheit des Willens verschuldet) die Beharrlichkeit, Kontinuierlichkeit
und Zuverlässigkeit unseres Willens entgegenzustellen.
Dies alles ist: Den Moment des Kriegsendes geistig vorbereiten.
Aber das ist nicht zu machen, wenn der öffentliche Ausdruck der
geistigen Tätigkeit des Menschen so schwindelhaft bleibt, wie wir ihn bisher
als Leser gar nicht anders kennen.
Es ist nicht wahr, daß öffentliche, veröffentlichende Menschen in Wahr-
heit als letzten Schrei ihres Lebens, als verzweifeltste Mitteilungsnot vor
der Katastrophe sich in solchen Vorstellungen bewegen:
Beethovens Skizzenbücher und Debussys Notenschrank.
Die Ellipse bei Greco.
Die Quellen zu Flauberts Bovary.
Sind die Werke von Hölderlins Wahnsinnszeit echte Dichtungen?
Die siebzehn Ströme der Sozialdemokratie.
Irische, altdeutsche und flämische Mystik.
Zur Psychologie Cagliostros.
Über den Begriff des Tanzes.
Der amerikanische Mensch.
Der italienische Mensch.
Der deutsche Mensch.
Der kanadische Mensch.
Der französische Mensch.
Jeanne d’Arc und Deutschland,
Dickens, ein Spiegel englischen Wesens.
Der Panslawismus bei Dostojewski.
Es ist nicht wahr, daß die Gesichterettung, die letzte Augenhilfe der
verzweifelten Menschheit, die letzte Auslieferung an eine Seh-Mitteilung
zur Wiederbesinnung auf unser Geistiges, es ist nicht wahr, daß die uns
angehenden Gaben eines Malers, Holzschneiders, Zeichners so aussehen:
Komposition Nr. 1 3.
Landschaft mit Fahnenstange.
Akt I.
Akt II.
Akte III-X.
Nature morte (!! wo es schon nichts anderes mehr gibt).
Komposition Nr. 20.
Bildnis des Gefängnisdirektors, des Künstlers, des Generals z. D.
Dame mit Sonnenschirm.
3
Negerinnen.
Seinebrücke.
Komposition Nr. 30.
Es ist nicht wahr, daß dies Menschen angeht.
Es ist nicht wahr.
Das alles ist darum Betrug. Zeit-, Kraft-, Raum-, Interesse- und
Talentvergeudung, weil es in dumpfer Unbewußtheit den Versuch macht,
heutiges Empfinden auszudrücken durch einen alten, abgelebten, erstorbenen,
nicht mehr existierenden Inhalt (der vielleicht vor Zeiten einmal wirklich
so lebendig war, Menschen auf sich zur Besinnung zu bringen, der aber
heute nur noch historisch-lexikalische Bildungssache ist). Ein Schein-Inhalt.
Lebens- und Aktivitätsströme werden in Kadaver geleitet, um der Mitwelt
das Schauspiel des galvanisierten Zuckens toter Glieder zu zeigen. Irrtum,
Selbstmord, Betrug und Selbstbetrug!
Die Themen des Dichters, Schriftstellers, Publizisten — des öffentlichen
Menschen — sind die, die uns Kraft geben, für die Zukunft feste zu stehen.
Ungefähr so, und wem eines das Herz bedrängt, der soll es laut aussprechen:
Wir dürfen nie wieder vergessen.
Bund der Geistmenschen.
Neuschaffung der Welt aus dem Wissen in Wirklichkeit.
Die neue Wirklichkeit.
Aus der Nationalität zum Erdballmenschen.
Aufruf an die Verzweifelten.
Aufruf an die noch Lebenden.
Aufruf an die Geretteten.
Dreitausend Aufrufe an die Frauen der Erde.
Dreitausend Aufrufe an diese Überhälfte des Menschengeschlechts (in
allen Graden).
Die Musiker der neuen Zeit komponieren die ‘Huba mirum des jüngsten
Gerichtes, und das Gforia in excefsrs des Menschen. Die Tänzer tanzen die
Tänze ,,Gegen den (Krieg“, „(Himmei und (Hotte“ und „‘Das cfc6weben
des Geistmenschen“.
Die Maler der Zukunft zeichnen Flugblätter, als Vorbilder zum Leben,
so intensiv heutig brennend gedacht, wie die — auch ihrer Zeit nicht
kunstgenießerisch, sondern lebendig vorbildlich und zeitungshaft wirkenden!
— Holzschnitte Dürers und seiner Genossen aus einer damals neuen Re-
ligionsepoche, diese Apokalypsen und Marienleben, Erschütterungen und
Verantwortlichmachungen für jeden Menschen, dem sie in die Hand fie-
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len. Mit allen Fähigkeiten des neuen Auges hat der Maler heute wiederum
Vorbilder in die Öffentlichkeit zu zeichnen. Vorbilder für die Aufpeitschung
und die Aufrichtung, in denen kein Stück der Kcmpositicn aus Gefällig-
keit und Formenspaß gemacht ist, sondern jede Form die Tatsache eines
Dinges vertritt, das den Menschen wesentlich ist. Und es gibt hier das
große, den Ateliers ncch sc unbekannte Mittel, das längst allen Völkern
bekannt und vertraut ist und auf“ sie unendlich aktiver wirkt als die
empfindungsreichste Spezialität der Kunstsalcn-Maler: Dies ist die Malerei
der Propaganda für und gegen. Erinnert euch an die Reklame-Prospekte
der Geschäftshäuser mit den Zeichnungen „Vor dem Gebrauch — nach
dem Gebrauch!“ Was dort von Dilettanten entworfen, kindlich ausgefühit
schon auf hunderttausend wirkte, wie wird es erst Menschen umschafftn
im Antrieb wahrer Fähigkeiten, in der Kraft der Erfindung, schöpferisch.
Heute gilt das ungeheure Werk Giottos als Kunst. Aber zur Zeit, da
es geschaffen wurde, war es genußlosestes, erhabenstes, verantwortungsvoll-
stes Vorbild für eine Nachfolge vom Heiligenleben des Franziskus unter
allen Menschen, die Augen hatten zu sehen.
Und nun, Dichter und Maler, ihr habt euch zu stellen. Entweder ihr
arbeitet für die Rente; dann wundert euch nicht, wenn ihr nächstens noch
bei lebendigem Leibe nach Verwesung stinkt. Oder ihr arbeitet für die
Menschheit, dann habt ihr Vorbilder zu entwerfen, nach denen Hundert-
tausende sehnend zielen werden, Vorbilder über euch hinaus, und ihr
werdet euch eines Tages mit dem Musiker verbündet sehen, diesem bisher
idiotischesten aller Selbstgenußparasiten, der euch seine hohe Messe bringt,
unzweifelhaft mit dem ersten Hauptstück unzerbrechlichster Festigkeit: <5f
in terrapax; und der aus den neuen, von euch geformten Menschen seinen
Chor aufstellt zur singenden Aufweckung der Gemeinschaft.
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EUROPÄISCHE GESELLSCHAFT
Wir leben noch.
Es ist kein Stolz, kein Ruhm, keine Ehre. Auch dies nicht, daß uns
nichts anderes übrig bliebe. Sondern es ist unsere letzte Selbstverständ-
lichkeit. Unsere erste Forderung.
Es gab die langen Zeiten, denen der wissende Gang zum Tode Mär-
tyrertum war. Es kann eine Frage sein, ob Märtyrertum heute noch den
Wert des Wirkens hat. Aber die Zusammenballung zum Leben, der
unaufhörliche Widerstand gegen das Vergleiten in willenlosen Tod, der
alltägliche Gang auf dem schmälsten Grat des Lebens, die einfache Be-
wahrung des Lebenbleibens, das ist das Märtyrertum dieser Zeit. Wir
legen Zeugnis ab für das Leben. Und selbst wenn wir umstellt und
niedergemacht werden: unser Wille wird weit in die Jahrhunderte greifen,
unvergeßbar.
Unsere Brüder zum Leben sind da. In allen Ländern wissen wir sie.
Niedergeschrien, mundtot, scheu gemacht von künstlich aufgeblähten
Majoritäten, deren Massengeschrei schlau verstärkt wird durch die amt-
lichen Schallrohre der Informations-Schlagworte.
Unsere Brüder vom Leben sind da, man umstellt sie mit stacheldräh-
tigen Nationalwänden, man schlägt ihnen die Augen blind wie gemarterten
Pferden, aber dennoch wissen sie von uns. Und sie sind jederzeit bereit,
uns die Hand zu drücken.
Es kommt einzig darauf an, daß niemand von uns den Mut sinken
läßt. Es kommt darauf an, jederzeit eingedenk zu bleiben, wie viele der
Geistesbrüder in allen Ländern da sind und aufeinander warten. Es
kommt darauf an, manchen Versprengten Mut zu machen, Mut zum Wider-
stand, und ihnen zu zeigen, daß sie nicht allein sind.
Wir werden nicht warten, bis die Wissenden dieser Zeit alle tot sind
und eine neue Generation erwachsen, die der Kriegsdinge von Kindheit
auf gewohnt ist! Das Einzige, das Geringste und das Schwerste, was uns
auferlegt sein muß, ist, aus diesem Kriege hervor, durch ihn hindurch
den Menschen zu retten.
Es wird nicht sein, daß das Geistige — welches allein den Menschen
formt unter allen Wesen der Erde —,daß die göttliche Würde des Menschen
überkarrt werde von den Rädern der Kriegsmaschinen. Das wird nicht
sein. Aber wir alle, die wir wissen, daß dies nicht sein wird, die wir wissen,
daß unser Ziel ist, den Menschen für den Menschen zu bewahren, uns
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darf das bloße, heimliche Wissen nicht mehr genügen. Wir müssen es laut
aussprechen!
Man kennt die Formel einer vorgegangenen Künstlerepoche, die For-
derung l’art pour l’art, die Kunst für die Kunst.
Aber unser neuer Ruf für die kommende Zeit über alle Länder hin-
weg ist die Forderung: £ fromme pour Pfromme, der ffllenscfr für den
ffllenscken !
Die vergangenen Jahrhunderte sahen drei Epochen, in denen man ver-
suchte, die Grenzen der Völker geistig zum Verschwinden zu bringen:
Das Weltbürgertum, den Kosmopolitismus, den Internationalimus.
Das Weltbürgertum war eine Sache der persönlichen Einsicht. Der
Versuch, den Angehörigen derselben geistigen Klasse des fremden Landes
als gleichberechtigt zu erkennen.
Der Kosmopolitismus war schon eine Sache der aktiven Bemühung.
Der Versuch, sich im fremden Land durch Angehörigkeit zu einer be-
stimmten Klasse als gleichberechtigt erkennen zu lassen.
Der Internationalismus war die höhere Einheit seiner beiden Vor-
gänger. Er war endlich die bloße Technik, Weltbürger und Kosmopolit
zu sein.
Aber diese drei grenzüberschreitenden Zustände sind jeder doch nur
Konstatierungen einer subjektiven Einzelsituation. Sie verpflichten zu nichts.
Sie sind Mitteilungen, aber keine Forderungen. Wie innerlich leer, relativ
bedingt, ungeistig materiell und nicht bindend die letzte, nächste Phase,
der Internationalismus, ist, sieht man aus der bekannten Tatsache, daß
gerade die nationalistischen Führer aller Länder miteinander befreundet,
verwandt, Ehrenregimentskameraden, also mit einem Wort so international
verbunden sind, wie sonst nur das Kapital. Wie müssen die unter Tränen
kichern ! Der Internationalismus hat uns nicht geholfen, nicht einmal zur
Aufrechterhaltung des Internationalismus.
Dennoch ist das Erste, Dringendste die Verbindung der Menschen
eines Volkes mit denen des andern, unabhängig von den Grenzen und
der Aktualität des Krieges. Und welche ist die Forderung, wenn selbst
der Internationalismus versagt hat ?
Die Forderung der neuen Zeit heißt: Grdbatfgesmnung ! Es han-
delt sich um nichts anderes, als daß im Moment des Kriegsendes
die Übervölkischen, die ‘Panfrumanrsten, die Menschgesinnten auf der Erde
zusammenstehen. Die Geistigen. Hier aber kommt es auf die Reinheit
an. Diese Armee wird niemals durch die bloße Zahl siegen — weder
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durch die Wucht einer Übermasse, noch durch das Mysterioso der
Minorität —, sie wird allein durch die ewige Sprengwirkung der unzwei-
deutigen, öffentlichen Gesinnung der Menschen helfen können.
Wer ist unser nächster Freund ? Der wahrhaft Geistige. Der Mensch,
welcher ohne Veranlassung durch natürliche Familien-
interessen, Geburtsbande, Geschäftsangelegenheiten:
nur durch seine Überzeugung, durch seinen Entsc hlu ß
und seine Entscheidung die Menschen der andern Länder für
seine Brüder hält.
Mit ihm im Bunde, mit dem Reinen, werden wir die Gesinnung des
neuen Zeitalters nach dem Kriege heraufführen.
*
Zu welcher Zeit, wenn nicht jetzt, hatte das Wort <Suropa seinen
tiefsten, aufwühlend nachhallendsten Klang ! Niemals schwangen so hellste
Erdparadiesbilder in den Wünschen der Menschen, die an Europa dachten.
Vielleicht war erst heute, nach der Krisis, Europa möglich. Vielleicht
schreitet erst heute — in allzugroßem Inkognito noch — der Europäer
vor uns her.
Wir Europäer wissent mehr als andere, daß die Forderung «Europa»
die geringste von allen ist. Wir wissen, daß Europäismus ein Zustand
ist, der nur die allererste Voraussetzung und selbstverständlich ist für
ein Bewußtsein von der Rundung des Erdballs, auf dem überall fühlende,
denkende, sprechende Menschen leben.
Und ist das etwa neu ? Ist das etwa nur ein weltgeschichtliches
Apercu ? Ist das ein Trick von Modeköpfen ? — (Wie man es in der
Idiotenpresse lesen kann !)
Nein, es ist nur so unendlich selbstverständlich ! Es kommt nicht
darauf an, daß diese drängendste aller geistigen Notwendigkeiten auch
Ahnen habe. Aber käme es nur auf Stammbaum an? 0, wir Europäer
haben auch das, eine Vorläuferschaft der Edelsten unter den Aktiven zweier
Jahrhunderte. Der Schweizer Muralt, der um 1 700 das Denken der Schweiz
mit seinen Briefen aus England europäisierte. Rousseau, der zwei Jahrhun-
dertdrittel später Europa selbst zur Besinnung rief. Der deutsche Anacharsis
Cloots, der inmitten der französischen Revolution den europäischen Gottes-
staat durch Frankreich verwirklichen wollte. Schweigen wir von den
großen ringenden Denkern des neunzehnten Jahrhunderts, die noch in
aller Gedächtnis sind.^ Nur er noch sei erwähnt, der selbst den Versuch
anstellte, die europäische Idee in vollster Realität zu verwirklichen: Mazzini,
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unter dessen Auge von Genf aus das 3unge 3taßen, das 3urige ‘Deutsch*
[and, das 3unge (Frankreich entstand, und 1834 das 3unge Guropa.
Mißglückte Handstreiche waren das, mißglückte Welten, zu früh geborene
Ideenstaaten, aber von denen, trotz der endlichen Verjournalisierung eines
kleinen Haufens der Mitläufer, ungeheure Energiekräfte zu den Bewegungen
der vierziger Jahre strahlten. Es twar zu früh. Auch der sozialistische
Europäismus Mazzinis verlief zuletzt in einen modernen Nationalismus.
*
Aber heute ist es nicht mehr zu früh. Das Erfühlen Europas, das
liebende Zusammenhangs wissen mit diesem zer hungerten, zerhackten, zer-
bluteten Erdland ist heute bis in die starrsten Bürgerherzen gedrungen.
Nichts ist schlimmer, als daß es erst einer überirdisch-unterirdischen
Riesenfleischermaschine bedurfte, um die Herzen der Menschen für die
europäische Idee zu erschüttern. Doch obwohl der letzte Antrieb Abscheu
vor dieser Zeit ist: Wert und heilig ist uns, daß Europa sich durchsetzte.
Der letzte, unabweisbare Augenblick ist da, nichts brennt stärker auf
unserer Haut. Wir alle sind bereit. Alle sind bereit. Trennen wir uns
nicht mehr. Im Wissen, daß wir nach der höchsten Todesgefahr da
sind für
Das Junge Europa!
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MITMENSCH.
Und da nun endlich überall in der Welt vom Geist und von den Geistigen
die Rede ist, so wollen wir uns gewiß nicht bei dem bloßen Worte be-
ruhigen. Es geschieht noch nichts für den Geist, wenn ein Musiker Sinfonien
vor Musikfreunden klingen läßt, die nach seiner Hoffnung das Fühlen der
Menschen umheben; wenn ein Maler Bilder vor Eingeweihten ausstellt,
die nach seiner Überzeugung einen neuen Begriff vom Zusammenhalt der
Dinge geben; wenn ein Dichter Gesellschaftsromane schreibt, die seiner
Meinung nach aus demokratischen Ideen kommen; wenn ein Essayist alle
diese Fragen zur Erörterung stellt. Es geschieht nichts. Es wird nur viel
schlimmer. Denn eine Schicht von Menschen, deren Tatneigung ohnehin
nicht groß ist, glaubt, schon aus dem bloßen Mitmachen dieser Werke
etwas Geistiges getan zu haben.
Es ist aber heute nicht mehr zweifelhaft, was eine geistige Tat ist.
Diese Frage kann gar nicht mehr ehrlich gestellt werden. Sie ist uns allein
durch die Tat eines Volkes in ungeheuerster Weise beantwortet worden.
Vor unsern Augen.
Was dort geschah, ist kein „Ereignis“. Nicht ein Vorfall, der durch
einen neueren Vorfall, durch ein anderes Ereignis verdrängt werden könnte.
Es ist eine wirkliche Tat. Eine Tat ohne Symbolik, ohne Nebenbedeutung.
Tat, vorbereitet, gezeugt und geschaffen aus der tiefsten, langschwingendsten,
intensivsten Erhebung für den Geist. Und darum nicht mehr aus der Welt
zu räumen. Kein Mißerfolg, kein Verrat, kein Rückschlag mehr, so
Bitterstes auch noch eintreffen mag, kann die größte Entscheidung, die ein
Jahrhundert gesehen hat, wieder ungeschehen machen. Die Entscheidung
gegen die Macht, die Gewalt, die Unterdrückung; zum Geist, zur Freiheit
und zum Menschenrecht nach dem Plane der Idee.
Daß dies alles nicht Bluff, nicht Schiebung oder äußerlich auferlegte
Beeinflussung war, ersieht man aus der unglaublich vielfachen und frucht-
bar um sich wirkenden Lebendigkeit des neuen Organismus: Von dem,
was im Ostlande geschah, erwartet jeder etwas. Der Politiker erwartet eine
Beeinflussung der Weltteile, der Marxist erwartet einen Aufschwung des
Klassenkampfs, der Militär erwartet eine Veränderung der Kriegslage, der
Pazifist erwartet Frieden, der Agent erwartet neuen Zwischenhandel, der
Sozialist erwartet neue Gemeinschaft, der Reporter erwartet neue Sensatio-
nen, der Genosse der Finsternis erwartet sehr Böses für sich.
Jeder, der in den Handlungen der Menschen nicht nur Nützliches,
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sondern vor allem Menschliches sieht, wird wild vor der Unbescheiden-
heit, vor der aufdringlichen Unverschämtheit höchsten Grades, wenn er
sieht, wie Unbeteiligte mühelos der russischen Revolution lyrisch oder
wohlwollend auf^die Schulter klopfen. Es ist nicht die Zeit, weise Worte
über die Gemeinschaftstat eines Volkes zu sagen; es ist nicht die Zeit,
Dynastenhistorie zu erzählen; es ist nicht** die Zeit, den Leser oder den
Hörer mit der Feststellung von Erfolgen zu unterhalten, zu denen er nichts
selbst getan und gegeben hat!
Denn da drüben geschah nichts unerwartet Plötzliches. Aber auch nichts
von dem Narrenchaos, das bequeme hämische Propheten ansagten. Um
die neue, höhere Menschheitsordnung im Osten hat das edelste Blut dieses
Landes mehr als ein halbes Jahrhundert lang gekämpft. Durch Jahre hin-
durch haben Hunderttausende ihr Haus, ihre Familie, ihr Vermögen, ihre
Bequemlichkeit, ihre Genüsse, ihre Sicherheit, ihr Leben für nichts erachtet,
um der Hingabe willen an ein Gebild aus dem Geiste. Diese wahrhaften
Freiwilligen, die ihr Gesetz diktiert fanden von der Bruderliebe, schufen
an der Verwirklichung einer Idee. Diese wahrhaft Tapferen waren nicht
gedeckt|durch Befehl und Massenzwang, sondern jeder wußte sich in jedem
Augenblicke des Lebens ungeschützt, preisgegeben. Sie waren gestützt nur
auf das Vertrauen zu ihrem Gewissen, auf ihren festen Willen zur Unbe-
dingtheit, auf ihren Glauben an die dereinstige Leibwerdung ihrer Idee,
auf ihren Glauben an die neue Auferstehung des Geistes auf Erden. Sie
waren gestützt auf ihren Glauben an die Heiligkeit des Mitmenschen.
Derweile war in den andern Ländern der Erde Entmutigung, Skepsis,
Erörterung und Erwerb von bloßen Methoden, denen der Antrieb des
Geistes längst in Vergessenheit geraten war.
Aber der Puls dieses neuen Leibes der Menschheit aus dem Geiste
klopft [ so laut, daß ihn die ganze Erde hört. Einer, der einst Umstürzler
hieß, jetzt zur Hilfe am Aufbau seines Landes gebeten: Krapotkin, zeigt
in seinem Buch Gegenseitige ZHitfe (Abschnitt Gegenseitige 9£i(fe im
‘Ulitiefaffer), wie im 12. Jahrhundert eine ungeheure Freiheitswelle über
Europa stürmte; die Schöpfung von Bünden, Gesellschaften, Gilden, freien
Städten, Kommunen. Diese Geistwanderung über die Völker war Jahrhun-
derte lang vergessen, und nur die Dome und die großen Bauten der Städte
sind uns als erstarrte Zeichen der Geistesglut zur Gemeinschaft geblieben. —
Es kann Zeiten geben, in denen die Besinnung des Menschen zum
Geistigen schläft; unser Wesentlichstes, unser Brudertum und unsere Ge-
meinschaft kann verfressen und vergessen werden. Aber der Geist kann
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nicht vernichtet werden. Immer wieder richtet er sich weithin sichtbar
auf in Einzelnen und in kleinen Gruppen, den Frühen, den inspirierten
Eingeweihten der menschlichen Freiheit, jenen die nie Vergleiche mit der
Macht des Ungeistes schlossen, und die, märtyrerhaft geschmäht und ver-
folgt, noch im quallvollsten Tode verkündeten, daß sie Söhne der Idee waren.
Es gibt nichts, das heute allen Menschen der Erde, allen, so klar
geworden ist, als die Idee der Freiheit, der Bruderschaft und des Mit-
menschentums. Dieser Erde ist es so unglaublich schlecht gegangen, sie
hat so nichts mehr zu verlieren, sie ist so verschwistert mit der Verzweif-
lung, daß endlich auch der Träge und Böswillige als Heilung erkennt,
was früher nur erhabene Seelen, unter aller Gefährdung ihrer Sicherheit,
in eine stählern feindliche Welt zu künden wagten.
Wen schaudert der Rückblick nicht? zu sehen, daß durch Jahrhun-
derte unsere Brüder gehetzt, gemartert und als tolle Störer der Gesellschaft
ums Leben gebracht wurden, Menschen, deren Gemeinschaftspläne (um nur
einen zu nennen: Thomas Morus) wir längst als selbstverständlichste Vor-
aussetzung nehmen, während das Chaos ihrer Zeit uns als irrsinnig er-
scheint.
Auf einem neuen Erdreich werden diesen die Heldenmale gerichtet
werden, und das Bruderhaus der Menschheit wird eine Gedenkschrift
haben: ,,Zum Gedächtnis der Wiedertäufer, hingerichtet für ihren Kampf
um eine bewußte Menschengemeinschaft aus dem Geiste.“ —
Es ist nicht Zeit, diese Revolution im Osten zu betrachten. Betrachtet
nur erst euch selber, ihr geübten Betrachter! Betrachtet eure Voreltern,
Eltern, Verwandten, Frauen, Bräute, Freunde — ob sie so gläubig mut-
voll hingegebene Kameraden einer Idee waren, wie die dort drüben lange
Jahre, erbittert und langmütig weiten Herzens! Betrachtet euch, ob ihr,
ohne Rentabilitätsversprechen, ob ihr geistig das gewagt hättet! Es ist
nicht mehr Zeit, zu betrachten.
Es ist Zeit, vor dieser Neuordnung des Ungeordnetsten sich auf sein
Gewissen zu besinnen. Auf die eigenen sittlichen Fähigkeiten. Auf den
eigenen Trieb zur unbedingten Hingabe an das Geistige. Auf die eigene
Kraft zur Entfaltung des Willens für die Idee vom Mitmenschen. Für die
Idee allein? Für die Tatsache vom Mitmenschen! Und welche Tatsache
kennt die Welt heute besser, als daß jeder Mensch das Recht auf Existenz,
Platz, Leben hat, nicht anders als du selbst. So weit sind wir endlich.
Selbst in den Regierungshäusern des Erdballs.
Es ist Zeit, das Wort vom Mitmenschen laut auszusprechen. Aber
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wer es spricht, der rechne erst ganz mit sich ab, der sei gleichgültig be-
reit, alles zu verlieren, erst dann wird sein Wort eine Schwingung und
seine Idee der Gewinn eines Wagnisses.
Wir alle, zu unsern Lebzeiten, werden noch das Ungeheuerste sehen.
Die höchste Not der Menschheit wird ihre Gegenwage haben in der höchsten
Verwirklichung von Paradiesträumen. Niemand von uns braucht mehr
entmutigt zu sein.
Es gibt für den Menschen keine innere Leere mehr. Jeder hat sich
mit seinem Gewissen unter das Auge der Ewigkeit zu stellen und die
Sekunde jedes Lebensmoments hinzugeben an die Verwirklichung der
Mitmenschenfreiheit.
Diese Idee ist wahrhaft und wirklich schon so stark in die Welt ge-
drungen, daß keine Kriegsmaschine ihr mehr ein tatsächlicher Gegner ist.
Immer, wenn die Welt zwischen Dunkel und Licht schwebt, gibt es noch
Wirrnis, und die Gewalt dringt im letzten Zucken vor, aber sieglos, nur
im Todeskrampf. Es gibt keine Siege mehr. Vor dem Geist dieser neuen
Menschheit werden die Heere zersplittern.
Die Grde gehört zum Wien sehen, sie bildet einen organischen
Weil des Wlenschen. Die ganze Grdhugel, wie sie im Wluge um die
oTonne kreist, ist ein Weil, ein Organ des Wlenschen, jedes ein-
zelnen Wrenschen.
Si/v/o Qeseff
(Die natürliche Wirtschaftsordnung)
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MENSCHEN / BÜCHER / ZEITSCHRIFTEN
Q5er ehrfiche Qegner.
Immer wieder findet man, dass Leute, die sich eigentlich um Besseres zu
kümmern hätten, von irgendeinem aufgetakelten Drecklümmel Aufhebens
machen; irgendeinen niederträchtigen, nur gerade in Macht oder Aufsehen
stehenden Schweisskerl rühmen. Sie nennen gewöhnlich den anderen den
ehrlichen Gegner.
Wenn ein Unsicherer oder ein Verräter uns in den Rücken fällt und mit den
Feinden paktiert, dann versucht er das mit der Begründung zu entschuldigen,
dass der ehrliche Gegner zu achten sei.
Aber der „ehrliche Gegner“ ist immer ein Schuft.
Denn ist er ein ehrlicher Gegner, so sucht er euch auf dem schnellsten
Wege zu beseitigen; und da ihr das Gute wollt, so kann euer Feind doch nur
ein Genosse des Schlimmsten sein.
Sucht euch aber der Gegner nicht zu beseitigen, so will er euch benutzen.
Er ist also ein unehrlicher Gegner. Und der unehrliche Gegner ist immer ein
Mann des Hinterhalts. Wäre der Gegner irgendwo achtenswert, anerkennens-
wert, so könnte er das nur, indem er seine Macht-, Erfolgs- und Relativitäts-
einstellung zur Welt aufgibt und die eure annimmt, die geistig ist und der Idee
folgt.
Oder ihr gebt eure Sache auf, und folgt dem Gegner.
Es gibt nur eins von beiden.
Bis dahin ist der Cflegner ein Schuft oder ein Ausspäher.
ttfätfer für die ßCunfl.
Das edle Herz Romain Rollands hat in dem Menschlichkeitsbuche Au-dessus
de la melie nicht allein alle Stimmen zu hören gesucht, die sich gegen den
Krieg erhoben, sondern Rolland bat auch um die Achtung der Welt für alle,
die sich in Trotz oder Trauer mit bewusstem Schweigen fernhielten. Er nannte
als solchen schweigenden Gegner des Krieges die Blätter für die Kunst, jene
Sammelveröffentlichung, wie man weiss, der Freunde des Dichters Stefan George.
Eine ganze Generation von Deutschen wurde im Kunstdenken Georges
erzogen, und wo seit 1900 im deutschen Schrifttum künstlerisch geglückte
Beschreibung und edel geschulte Bildungssprache auftauchen, stehen sie unter
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HANS RICHTER: Der heilige Mitmensch
Widmungsblatt an die russische Freiheit
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dem Eindruck Georges. Romain Rolland, wie jeder wirklich grossmütige
Mensch, nimmt im vorhinein an, dass eine erhobene Sprache nur aus einer
erhobenen Menschlichkeit kommen kann. Wär es nicht schön, zu finden, dass
einmal wenigstens die Sprachformer einer Nation für die Menschheit fühlten?
Das würde die Erde ihren Kündern in ewiger Dankbarkeit gedenken. Denn
seit dieser Krieg herrscht, haben die Dichter von Namen uns Mitmenschen
im Stich gelassen, sie haben sich von der Attitüde plumpster Monumental-
representation treiben lassen, und sie wetteiferten mit den Maschinen, um
den Todeskrampf der Völker gewaltsamer noch zu stacheln.
Aber wir, in unserer höchsten Not, wir müssen endlich einmal das Dichter-
wort anschauen, ob es Rückgrat der einfachsten, unumgänglichsten Menschlich-
keit ist.
Der einzige Band, der während des Krieges erschien, der vom Ende des
Jahres 1914, sei geöffnet bei einem Verszyclus, der den auffallenden Titel
„Staatsgedichte“ trägt.
Da steht:
Das Menschentum, das deutsches Wesen schafft
Geduldig bis zur Trägheit, schwer vor Fülle,
Unscheinbar hinter Zucht und Wucht und Hülle,
Bricht nun aus dem bedrohten Herd als Kraft,
Die alle Schlacken auswirft und verschweisst.
0 Volk, geprüft durch Feind und eigne Schänder,
Geheimer Kern und Ausbund aller Länder,
Wie bist du wieder Erz und Glut und Kraft!
Also ganz simple alldeutsch-treitschkeartige chamberlainhafte Kriegslyrik
(ohne Angabe des Verfassers, wie alle Beiträge des Bandes).
Man fragt, wer sind die „eignen Schänder“ des deutschen Volkes. Der
namenlose Dichter gibt an einer andern Stelle Auskunft. Er sagt in, von ihm
gesetzten, höhnischen Anführungszeichen:
,,/sf’s nicht die Pflicht der Seher und der Fürsten
Geduld zu haben mit dem untern Dürsten,
Den Tisch zu öffnen für die dumpfen Haufen,
Die sich um Brot mit heftigen Armen raufen,
Gezeugt durch Not; dass Zahl die Not vermehre:
Die Ausgeburten gnadenloser Nächte,
Die für uns frohnden in dem Qualm der Schächte?“
Dieser Dichter meint also: nein, das sei nicht Pflicht. Doch er ist zudem
falsch informiert. Er will offenbar den Demokratismus treffen. Aber die
von ihm genannte Forderung, nämlich die Gnade, dass Minister und Fürsten
„Geduld“ mit dem Unterdrückten haben und ihm geschenkweise den „Tisch
öffnen“ mögen, also das Leben geschenkweise gewähren mögen: Dieses
kindliche Programm wagt nicht einmal mehr der bösartigste agrarkonser-
vative Politiker auszudenken. Selbst der ärgste Idiot weiss, dass die aller-
geringste Forderung Geschenke abzulehnen hat und mit dem Begriff „Rechte“
beginnt. Nur der „Dichter“ darf bei uns ahnungslos sein!
16
Aber der Staats-Rhapsode der „Blätter für die Kunst“ findet auch die von
ihm zitierte Forderung (die ihm doch nur ein Spassvogel als Volkswunsch
angegeben haben kann) noch abscheulich. Er sagt:
Die Gnade strömt nicht nach Bedarf und Zwecke —
Was kennt ihr sonst? — zur Atzung hohler Magen;
Sie schafft das Heil; doch lindert keine Plagen.
Das heisst: Der Antrag auf Linderung der „Plagen“ durch „Atzung“ (wie
menschlich ausgedrückt!) „hohler Magen“, selbst vermittelst irgendeiner
„Gnade“ wird von dem georgeschen Anonymus abgelehnt.
Indessen spricht dieser Dichtersmann auch kaltlächelnd aus, was im ganzen
kriegführenden Europa niemand laut zu sagen gewagt hat, einen Wunsch, den
stets jede kriegführende Macht der ihr feindlichen zugeschoben hat.
Er dichtet frohen Herzens davon, wie der Krieg alle Träger volkshafter Ideen
beseitige:
Nun fegt der Fluch sie wie verwelkte Blätter
In Not und Kot: Ihr Schreien ,,macht uns satter11
Ist kein Gebet, das den Erlöser wecke.
Der politische Versemacher der Blätter für die Kunst nenne sich. Er ist
uns allen Verantwortung schuldig. Wenn öffentliche Äusserung überhaupt
noch einen Sinn hat, dann hat dieser zeitgemässe Dichter nichts anders getan,
als einen Aufruf in Versen erlassen, die Ansage einer durch den Krieg unter-
stützten Bartholomäusnacht zur Ermordung aller Kameraden der Freiheit.
Aber, Ihr, meine Freunde, hat denn einer von uns je an dieser Möglichkeit
vor der Umgebung des Dichters George gezweifelt? Man entgegnet uns, dass
der gefundene Sinn hier überraschend und unbeabsichtigt sei. Um so schlimmer;
denn der öffentliche Sprecher ist das verantwortlichste Wesen. Man sagt uns,
dass die Sprache erst den Sinn im Leser und Hörer bilde; und dass der edle
Ausdruck der Form untrennbar von einem edlen Inhalt sei: Sehr richtig!
Legen wir Rechenschaft ab, wofür die Ausdrucksform dieser Dichter ein in-
neres Zeichen ist. Eine so abgetane, spezialistisch verweste und kleine lite-
rarische Provinzangelegenheit gegenüber jeder Weltdichtung heute auch die
Gedichte des George-Kreises sein mögen: Das haben wir doch schon lang
gewusst, dass die Verse des Meisters George selbst nur die Schulung, die Organi-
sation, die Herzlosigkeit und den Musiktakt einer uns wohlbekannten Ge-
sinnung darstellten, den Zwang, die Vergewaltigung der Menschheit und den
hochmütigen Hass, selbst in der Idylle noch. Wer von uns den Blick hundert
Jahre voraus einstellte, der hat es gewusst, dass nicht Dilettanten, sondern
ein Dichter in dichterischen Formen das Manometerzeichen des bourgeoisesten
Weltimperialismus war. Diesen Imperialismus gibt es heute nicht mehr. Und
nun mögen die Dichter, die jener Epoche angehörten, den Mund halten. Mögen
sie endlich offen in die Reklamebureaus der imperialistischen Warenhäuser ein-
treten, die uns diesen Krieg geliefert haben. Dort ist ihr Platz, als Preistitel-
schreiber für Massengrabsteine, als Drogenverkäufer von echtem Aasgeruch,
und als Schmuckhändler an den Leibern ihrer Mitmenschen.
2
17
Garf Sternßeim: Wleta.
Eine Erzählung (Leipzig, Kurt Woiff, Verlag).
Dass Carl Sternheim lebt und existiert, dessen müssen wir uns tief freuen.
Das ist in der Literatur der Mann mit dem bohrendsten Blick für Fassade,
Attrappe, Cache, und mit der festesten, erhabensten Gläubigkeit an den Men-
schen. Er schaut Personen an, und in Explosion fliegt Angesetztes, bequem
Geerbtes, umständlich Vorgetäuschtes. Frei wird der Menschenkern, das kleine,
schimmernde, zitternde Licht des Menschen, das zu allem Licht will. Die Ge-
sellschaft und jede Lagerung der Gesellschaft ist für Sternheim nur da, um in ihr
das Ziel der Unabhängigkeit, der Beugungslosigkeit, der Freiheit zu lehren.
Er ist der erste politische Dichter in heutiger deutscher Sprache. Die Unmittel-
barkeit, die Absolutheit des dichterischen Vordringens zur menschenhaften
Aktion seiner Figuren macht, dass Sternheim der klassische Dichter der Frei-
heit ist. (Das hat Sternheim zum ersten Male der neuen deutschen Dichtung
verliehen: den Sinn des Standpunktes; die Heiligkeit des Inhalts. Werke von
der handelnd enthüllenden Unmittelbarkeit seines Schauspiels „1913“ oder die
Kühnheit und politische Voraussage im absoluten Bekennntnistum des Dramas
„Tabula rasa“ kannten die Deutschen bisher nicht!)
Er hängt gar nicht mehr von der Kenntnis eines bestimmten Milieus ab.
Auch nicht von der umschreibenden Erklärung des Psychologischen. Er ist
direkt. Sein Wissen vom Absoluten des Menschdaseins ist so vollkommen,
dass er mit gleicher Einzelkraft in jede Schicht hineingreifen kann (Typus des
klassischen Dichters). Meta ist ein Dienstmädchen. Man lese, was Sternheim
von diesem Menschwesen sagt: „Zum Denken der Kopf, die Beine zum
Schreiten. Zwischen Hals und Hüfte ist der Rumpf, Sitz der Organe, die uns
das Himmlische vermitteln: durch Lungen und Herz den Odem Gottes, aus dem
wir leben.“ Diese ungeheure, einfache Wahrheit, die den Menschen als ein
Geschöpf des Willens hinstellt — wer hat das bisher gekonnt? Er ist Klassiker
(das heisst: einer der neue Normen gibt) auch in der Anschauung, in der
schöpferischen Anschauung des Menschen als Geistwesen.
Das Dienstmädchen Meta verliert ihren Bräutigam im Kriege. Sternheim
lässt sie aus dem Zusammenbruch hervorgehen mit ihrer eigenen Schöpfung im
Hirn, der Fiktion von dem Idealbräutigam. (Wie in einer andern Novelle den
Koch Napoleon mit dem Idealbild der gestorbenen Tänzerin.) Ihr Willenswesen
entfaltet sich stets im Dienstmädchenhorizont. Aus ihm beginnt sie ihre
Umwelt zu beherrschen. Überlegene Unversöhnlichkeit gegen die Gesellschaft.
Sie endet als die bewusste und, nach allen ihren Kräften, hoch menschenwürdige
Revolutionärin eines Altfrauenhauses. „Meta wie Jugend, Sturm und himm-
lische Überredung fuhr in sie. Rollte ihnen den Film des Lebens zurück, wies
die häufigen Höhen und zeigte einer jeden an der entsprechenden Stelle ihre
ganz unvergleichliche, irdische Wirksamkeit.“ — Diese sind die Schlussworte
Metas:,, Ihr seid nicht stolz genug auf euch, ihr klösterlichen Weiber. Mir gefällt
nicht die Demut, das Bedauern eigener Unzulänglichkeit und nicht Unter-
werfung unter hohe, unumstössliche Vorschrift. Schönste, irdische Wirklich-
18
keit bin ich mir selbst, und auch vor meinen Herrn will ich einst so treten, dass
er mich als das Höchstpersönliche erkennt, welches er, von aller Menschheit
streng unterschieden, einst schuf, und das er „Meta“ nannte.“ — Sternheim,
unerbittlicher Enthüller aller Verwelkung, ist der optimistischeste Lehrer der
wahren Menschenliebe und des Vertrauens zu den Kräften jedes Menschen-
wesens aus dem Geiste. Ein Händedruck dem Kameraden der neuen Zeit, diesem
Dichter der neuen Geistliebe.
ßeonßard Trank: Ter DCefiner.
Erzählung (in Nr. 11. Jahrg. 1916 der Zeitschrift „Die Weissen Blätter“,
herausgegeben von Rene Schickele, Verlag Rascher & Cie., Zürich).
Von grösstem Mut, schöner Besonnenheit, höchster Anständigkeit der Ge-
sinnung. Keine Erzählung. Die Erzählung (mit den Mitteln der psychologischen
Literatur) ist nur Vorwand. Ein Kellner verliert seinen Sohn, für dessen Er-
ziehung er die Lebensarbeit leistet, durch den Krieg.
Er wird der Führer der Friedensrevolution. Symbolistisch gemeint: der
Kellner ist kein Individuum, sondern nur Einer von den vielen. Das Hauptstück
der Arbeit ist die grosse Rede des Kellners in der Arbeiterversammlung. Daraus
ein paar Sätze: „Es gibt heute in Europa keinen Menschen mehr, der nicht ein
Mörder ist!----Nicht der Engländer, Franzose, Russe, und für diese nicht der
Deutsche, sondern in uns selbst ist der Feind. ... Das Nichtvorhandensein der
Liebe ist der Feind und die Ursache aller Kriege. Ganz Europa weint, weil ganz
Europa nicht mehr lieben kann. Ganz Europa ist wahnsinnig, weil es nicht mehr
lieben kann ....
„Wir dürfen uns nicht länger belügen und sagen: der Zar, der Kaiser,
der Engländer ist schuld.“ Robert legte langsam die Hand mit der Serviette
an die Brust: „Ich bin schuld. Und du bist schuld. Und du und du, nicht mehr
und nicht weniger als der Zar, der Engländer, der Kaiser und der Milliardär.
Denn auch die nur hatten, ebenso wie wir, die Liebe vergessen_
Und jetzt wisset: die Liebe trägt in sich ein hartes Gebot. Die Liebe sagt:
wer nicht liebt, ist schuldig und böse und soll weichen, damit der Liebe auf Erden
keine Schranken mehr gesetzt werden können. Wir wollen fallen und sterben
dafür, dass der Liebe die Regierung Europas übergeben werde.“
Die Absicht der Erzählung ist, den Leser, jeden Leser, so weit zu bringen,
dass er in ähnlicher Lage Ähnliches aus sich heraus sage. Grosse und edle Ab-
sicht: das vollkommene Bewusstsein des Zieles des Erzählens, das mehr ist und
höher steht als das Erzählen selber! —
Hier stehen also die Dichter Sternheim und Frank. Und drüben, auf der
andern Seite, wer steht da? Namen, die es gar nicht gibt, und die je nach
der Parole alles Gewünschte bedichten. Dann die Schar der geistig Feigen,
Unentschlossenen, Unsicheren, der Problemdichter; die sich nicht entscheiden
wollen und ihre Direktionslosigkeit für ein interessantes Thema halten. Und
zuletzt die alten berühmten Herren, die längst nur noch bei den Depeschensälen
der illustrierten Zeitungen in Achtung stehen.
19
Wir wissen heute: Wäre nicht manches Ereignis anders ausgegangen, als es
berechnet wurde, eine ganze Welt würde mit höhnischem Grinsen die Ermor-
dung des neuen Geistes in seiner Generation, und den Sieg des Alters feiern!
fflffred ‘Döbfin: 0/e drei Sprünge des dJOang=ßun.
Roman. (S. Fischer, Verlag, Berlin.)
Das Buch des bisher unbekannten Döblin gehört zur Weltliteratur. Mit
einem einzigen Ansprung bricht Döblin durch die lokalen, psychologischen
oder kulturellen Sonderprobleme des deutschen Romanschrifttums der ver-
gangenen neunzig Jahre, und gibt sich menschenwürdigen und geistigen Zielen
von höchster Intensität hin. Döblins Buch ist die vollkommenste Roman-
schöpfung, wirkliche Schöpfung, die in deutscher Sprache seit dem Tode der
grossen Dichter geschrieben wurde. Döblins Buch ist eines des vollendetsten
Sprachkunstwerke, die die deutsche Literatur besitzt.
Die vergangene Epoche des Impressionismus, der Willenlosigkeit, des
beruhigten Relativismus: der Ungeistigkeit! — hatte nur auf diese beiden
Urteile ,,Roman“ und ,,Kunstwerk“ Wert gelegt. Aber würde nichts anderes
vom Werke Döblins zu sagen sein, so wäre es nie zu seiner schöpferischen,
umwälzenden Wirkung der Vollkommenheit gelangt. Das Buch ist, über
Erzählung und Kunst hinaus, das bedeutendste religiöse Werk, das seit Jahren
in Europa veröffentlicht wurde. Das Buch ist zuletzt das einzige revolutionäre
Werk der europäischen Literatur, Vernichtung und tiefste Neuzeugung in der
Zusammenfassung aller neuschaffenden Kräfte aus dem Geist, der Inspiration,
diktiert vom Wissen um einen absoluten Weltsinn. Seit Tolstois Tode war
niemand da, der solche Konzeption zu bilden gewagt hätte.
Ich treibe nicht Kunstkritik, sondern ich zeichne die heute mögliche Äus-
serung des Geistigen in der Welt auf. Die grosse revolutionär-religiöse Schöpfung
Döblins ist ein Roman; der Roman spielt in China. Vorgang: Der Aufstieg
eines ganz einfachen Menschen bis zum inspirierten Geschöpfe Gottes in voller
Bewusstheit seines religiösen Dienstes; und bis zum Führer einer wirklichen
ungeheuren Volksrevolution aus dem Geiste, an der Millionen teilnehmen.
Nachschlagen in einem Geschichtwerk erwies mir, dass diese Revolution in China
wirklich stattgefunden hat, am Ende des achtzehnten Jahrhunderts. Döblins
Buch ist aber kein „historischer Roman;“ davor schützte es die historische
Ausserzeitlichkeit, die für unsere Augen das innere Leben Chinas hat. Das
geschichtliche Faktum ist für Döblin nur der Punkt, an dem selbstständige,
in sich lebende Schöpfung mit der wahrnehmbaren Wirklichkeit sich kreuzt
und zu einem in die wirkliche Welt hinauswirkenden Gebilde wird. Aber die
Romanmässigkeit der Döblinschen Dichtung ist nur der Untergrund, auf dem
sich ein Schöpfungsplan zum aktiven Handeln des Menschen aus dem Geistigen
erhebt. Aus diesem Buch bricht Wissen um eine höhere Weltordnung und
der verantwortliche Wille zu ihr.
20
Q. *F. %’cofai: föiofogie unserer Zeit
könnten die wunderbaren Aufsätze dieses unvoreingenommensten aller Biologen
heissen, die fortlaufend in der Zeitschrift Die Aktion (herausgegeben von Franz
Pfemfert, Berlin-Wilmersdorf) erscheinen.
Das Verfahren Nicolais ist vorbildlich. Er geht bis an die äusserste Grenze
von Konsequenzen der exakten Tatsachenforschung in der Biologie, und er
stellt überall fest, wo jenseits dieser Grenze das Selbständigkeitsgebiet des
Menschen beginnt. So kommt er, von ganz anderer Seite her als wir, zu den
erhabensten Formulierungen der kommenden neuen Zeit, einer Epoche der
Geistigen.
Unwiderleglich starke Kapitel sind da, der Abschnitt: „Rasse“, die Er-
örterung „Heimatsliebe“, zu denen man die Aktion beglückwünschen muss.
Hier eine zwingende Schlussfolgerung aus dem Teil „FreiheitundNatur-
zwang (Nr. 41/42 der Aktion):
„In dem kleinen Menschenhirn wurde die ganze „Schöpfung“ nachgedacht
und nachgemacht, und die dadurch erlangte Freiheit hat bewirkt, dass wir „im
eigenen Gesetz leben“. Deshalb ist Menschenhandlung etwas
anderesalsNaturgeschehen, und deshalb haben wir den zwischen-
menschlichen Kampf nicht hinzunehmen wie ein Erdbeben. Wenn es selbst wahr
wäre — was, wie schon gezeigt, nicht wahr ist — dass er die einzige Losung
der Natur sei, für uns würde dieser „Naturzwang“ doch nicht existieren.
Der Kampf ums Dasein ist niemals Entschuldigung und nicht einmal Analogon.
Jedenfalls darf der Glaube an die Freiheit und AllmachtdesGeistes
nicht verloren gehen, und auch heute müssen alle, die auf irgendeine Besserung
hoffen, im Innersten überzeugt sein, dass der G e i s t, das Wort mäch-
tigersei als die r e a 1 e Wirklichkeit.
Vor allem gilt dies für die heute so verloren scheinenden unzeitgemässen
„Schwärmer“. Man hat etwas spöttisch von ihnen gesagt, wenn diese paar Männ-
lein den „Naturzwang“ bekämpfen wollen, so wäre das, wie wenn ein kleiner
Hund eine dahinjagende Schnellzugslokomotive ankläffte. Die führe über ihn
hinweg, ohne es auch nur zu merken. Gewiss, denn der Hund verfügt höchstens
über ein Millionstel jener lebendigen Kraft, die der Schnellzug in sich trägt;
und wenn der Mensch nichts anderes könnte, als seinen Körper dem drohenden
Unheil entgegenwerfen, so wäre es auch mit seiner Macht nicht weit her.
Aber des Menschen Wille ist nicht gebunden an die Kraft, die ihm sein
Körper zur Verfügung stellt, sondern er hat die Fähigkeit, fast beliebige Kräfte
auszulösen. Man bedenke: Eine gelockerte Schienenschraube — und die ganze,
stolze Schnellzugslokomotive liegt im Staub. — Das kann kein Hund, aber das
kann ein Mensch.
Die energetische Betrachtung versagt, wo es sich um gegenseitige Beein-
flussung von Menschen handelt. Wir wissen nur, dass ein Wort unendlich viel
vermag.
Christus und Darwin, Luther und Voltaire haben solche Kunst der Worte
gekannt und waren ihrer Zeit ein zündender Blitz, der die aufgespeicherten
Energiemassen einer ganzen Welt in Bewegung setzte,“
21
‘Bühne der Geistigen.
Wir, die uns unter die Führung des Geistes stellen für die Welt, nehmen
Maler und Dichter nicht als Eigenkünstler, sondern als elementare Blicke und
Münder zur Weisung unserer Menschlichkeit. Dass Maler mit Bildern Barri-
kaden bauen und Dichter in die Politik greifen: Darin fühlt man sich leiden-
schaftlich bestätigt durch des Dichters Walter Hasenclever Aufruf:
„Das Theater von morgen“. (In drei Nummern vom Mai 1916 der
Schaubühne; diese Zeitschrift trat während des Krieges in schwankender
Haltung — nach einem unerkennbaren Gesetz — für höchst Anständiges
aus menschlichstem Munde ein, aber auch der geistfernste Dünkel und die
philosophisch verkleidete Beschränktheit aus der Feder von Konjunktur-
schreibern durfte breiten Raum beanspruchen.) Hasenclever: Ein Kamerad, der
die Änderung der Welt durch den Strahlendruck des Geistigen selbst für die
Sphäre der verfettetsten Wirksamkeit erstrebt, fürs Theater.
Er sagt nichts Neues. Zu jedem Anbruch der geistigen Entscheidung
einer neuen Epoche erging noch eine Proklamation fürs Theater des Geistes.
Hasenclever, diesmal, sagt es nur neugelebt, in unseren Worten.
Die Voraussetzung: dass das Theater wirkt; und die konsequente For-
derung: dass es wirken soll. Sein Inhalt soll wirken. Nur Inhalt wirkt. Doch
jeder Inhalt, der wirkenswert ist, muss vom Theater zur Wirkung gebracht
werden. Hasenclevers Fundamentalforderung, seine Szene, weit übers Tech-
nische hinausgreifend (und klopft hier nicht jedem Wissenden das Blut froh!):
„Äusserste Beschränkung des Theaters an organischer und unorganischer
Natur.“ Seine Regie: ,,Die Bühne werde Ausdruck, nicht Spiel!“ Sein Re-
pertoire: „Bühne für Kunst, Politik und Philosophie.“ Endlich! Die Bühne
wieder als Inhalt. Wie gut und heilend. Die Bühne ein Raum für den Menschen
als Geistwesen. Der Dichter schöpft endlich wieder Mut, er steht draussen, auf
einem Punkt ausserhalb, den Rücken gelehnt an die ungeheure Himmelswand
des Absoluten, und er hebt manche Erde aus den Angeln; er hat wieder Mut, er
weiss und sagt es von sich (bescheiden, doch ist dabei das Ungeheuerste, Um-
fassendste der Menschlichkeit gesagt): Ich bin der politische Dichter. Wieder. —
Ihm wird endlich seine Bühne. Dabei ist Hasenclevers Bühne nicht eine
Spur sandalenhaft, langhaarig, vegetarisch, temperenzisch, wagnerianisch,
feierlich, hehr, violett. Nicht im geringsten. Wie alle elementaren Dinge unserer
Menschlichkeit steht sie mit ausserordentlicher Selbstverständlichkeit da. Vor
allem: Sie schmeisst den Mimofatzke heraus, diesen blaurasierten, bäuchigen
Kerl mit hässlicher Haut, gemeinem Blut und mit einem Monumentalölkopf.
Der BühnenmensctThat gleich uns zu sein. Gleichartig uns! (Mindestens.)
Immer wieder am Beginn einer produktiven Zeit muss diese Forderung erhoben
werden. Verschweinung der Bühne in mittleren Epochen ist kein Beweis für
die Erforderlichkeit der Verschweinung.
Man denke aber an dies: das Programm des Aufsatzes ist nicht eine der
vielen Theaterunzufriedenheiten, die schliesslich alle nur Unzufriedenheit mit
dem Mangel der Bühne an Illusion sind. Hier geht es nicht mehr um Illusion.
22
Es geht um ethische Expression. Nichts anderes als das wiedererwachte Schöpfer-
gefühl der Menschheit wünschen wir auch da zu sehen, wo Tausende im Zu-
schauerraum sitzen.
Der Zuschauer geht ins Theater, um vom Geist, der die Erde formt, geführt
zu werden. Das Theater ein Geisteshaus. Die Schaubühne eine politische An-
staltl Die Bühne und ihr Schauspieler haben uns Antwort zu geben — wie das
Drama, um dessentwillen sie da sind! — auf unsere Lebensfrage: Was sollen
wir tun?
Hier Worte Hasenclevers:
,,Es kann und es wird, es muss eine neue Bühne entstehen, deren geistiges
Ziel aufbauen möge, was allzuviele Materie zerstört.“
„Eine Bühne, die sich aus dem Fond staatlicher, städtischer oder privater
Subventionen sonderte und in der Geschichte des Theaters einen Stil erstrebte,
blieb meist das Vabanque-Spiel von einem oder mehreren Interessierten. Dies
waren bei weitem nicht immer Leute geistigen Schlages, und es folgte die unum-
stössliche Diskrepanz, sobald die Kunst der Darstellung sich mit den übrigen
Künsten zu jenem Dualismus verband, den man schlechthin „Theater“ nannte.
Verschärft wurde dieser Zwiespalt durch das Hinzutreten einer Reihe von
Stoffen, deren widerstrebendster, weil lebendigster, in der Person des Schau-
spielers gesehen werden muss.“
„Auf der Bühne ist die rigorose Entfernung aller Idioten durchzusetzen,
und ernsthaft wird die Erwägung, ob nicht der Dichter (als Schöpfer des dra-
matischen Vorgangs), der Literat und der Maler, der Philosoph, der Satiriker:
alle Benachbarten im gleichen Reich der Ideen auch die Metamorphose des
Gedankens in das Theater vollbringen könnten, selbst bei zugegebener Unzu-
länglichkeit in der Durchführung realistischer Gewalten — und was wäre am
Ende sehenswerter: ein Geist, welcher die Darstellung verführt, oder eine Dar-
stellung, welche den Geist vergewaltigt?“
„Man lehne ab, den Begriff des Statisten, nicht einmal als soziale Erwerbs-
quelle, länger zu dulden. Die äusserste Beschränkung des Theaters an organi-
scher und unorganischer Natur!“
„Wir leugnen, dass die Herbeiführung eines zweiten Zustands, dieser ver-
hängnisvolle Irrtum: das Spiel ergänze und rufe die Dichtung ins Dasein, Auf-
gabe der neuen Bühne sei. Alle Prinzipien für die Darstellung liegen immanent
in der Dichtung selber. Es wäre nur ein Beweis gegen sie, müsste sie, um
Wirkung zu tun, erst „inszeniert“ werden. Diese Überschätzung eines sekun-
dären Aktes der Schöpfung, die sich materialisiert, um durch die eigentümlichen
Formen der menschlichen Wahrnehmung musisch begriffen zu werden, dieser
konstruktive, gar nicht wirkliche Konflikt zwischen Geist und Leben, wobei
stets das Leben unter seinem Jockey das Rennen gewann — die Sünde gegen
den heiligen Geist aller Dichter und Philosophen ist nirgends so verbreitet als in
den Köpfen der heutigen Theaterwelt.“
„Lasst uns der Gewohnheit entsagen, Wald müsse rauschen und Blitz müsse
donnern; was wäre ein Theater, das nicht hiesse: Änderung der vorhandenen
Welt! Lasst uns, oh Freunde, glauben, dass die Morgenröte der Dichter nicht
23
mehr mit der Sonne einer noch so begabten Kulisse verhunzt werden kann.
Da wir das Unmögliche durch das Mögliche nicht darzustellen vermögen, lasst
uns wenigstens verzichten auf jede Möglichkeit. Was unvollkommen dem einen
Sinne sich bietet, ersetzt es durch die komplementäre Figur. Stellt keine Bäume
mehr auf: schafft Lichter und Schatten; staffiert kein Gespenst mehr: ergreifet
Musik! Konzentriert euch in kleinste Räume auf wenigste Menschen; wo Per-
spektiven euch mangeln, erlernet den Tanz.
Wir werden, auch ohne den Verrat von Bärten und Bäuchen, unser Antlitz
vergeistigen zum Bilde der Welt. Kein Sturz von Millionen wird unsern Kurs
entscheiden; der kleinste Aufwand beschwört die grösste Kraft. Ja, wir werden
dieses Theater am Rande Europas gründen, und die Toga des toten Cäsars im
Triumph zu unsern Häuptern schwingend, setzen wir die Inschrift:
Bühne für Kunst, Politik und Philosophie.
„Ich glaube, eine Zeit ist gekommen, die wieder an Stelle der Beschaulich-
keit das Inkrafttreten all ihrer geistigen Instinkte setzt. Ich glaube, sagen zu
dürfen, dass die Bühne als Brennpunkt, als belichtetes Negativ dieser, durch die
Langsamkeit unsres Planeten auf vielen Gebieten retardierten Bewegung
gradezu entstehen müsste: ein vollendeter Komplex, eine unwiderrufliche Ein-
heit der willentlichen Energien, welche ihre Umwandlung in die positive Wirk-
lichkeit noch nicht erlangt hätten. Die Philosophie als höchste Verständigung
im Reiche des Denkens aktivierte sich zu einem Gesetze des Handelns, in welchem
Kunst und Politik, dem tätigen Geist der Menschheit am nächsten, nicht mehr
ihre Diener, sondern ihre Schwestern geworden sind. Hier tritt die Bühne als
Medium zwischen Philosophie und Leben; Vermittlerin der ersten und heiligen
Ekstasen, schwebe sie helfend und wirkend über ihnen allen!“
*
Die Zeitschrift ist keine bibliophile, sondern eine moralische Angelegenheit. —
Nicht aufgenommen werden Werke irgend einer Unterhaltungsabsicht, beschrei-
bende Zeichnungen, Gedichte, Novellen und Betrachtungen, die allein der Er-
klärung und der Bildung dienen. Zur Veröffentlichung zugelassen sind nur
fordernde Formulierungen von europäischer Gesinnung
Die Aufsätze dieses Heftes haben den Herausgeber zum Verfasser
Für den Inhalt verantwortlich: J&udwig <^ubmer
Zeit-Echo Verlag Benteli A.-G., Bümpliz-Bern und Leipzig
Druck von 2leniefi 01.-Q., Bümpliz
24
—
VERZEICHNIS;
Organ........................... Seite 1
Neuer Inhalt. ./.................. „ 2
Europäische Gesellschaft ... „ 6
Mitmensch......................... „ 10
Ein Wort von Silvio Gesell . . »13
'iA /
HANS RICHTER: Der heilige Mit-
mensch (schwarzweisses Volksblatt) „ 15
Menschen / Bücher / Zeitschriften: Der ehr-
liche Gegner. Blätter für die Kunst. Carl Sternheim,
Meta. Leonhard Frank, Der Kellner. Alfred Döblin, Die
drei Sprünge des Wang-Lun. Bühne der Geistigen.
jaßrabonnement (6 Hummern) TZarß 2.50 oder Tranken 2.50.
bezießen durcß alfe ZBucßßandfungen oder den Vertag.