- 27 Und um das mit Unbarmherzigkeit tun zu dürfen, ist mir zuerst eine unbarmherzige Demut gegen mich selbst von nöten. Wenn ich aber kein Leben mehr finde? Es gibt viele die wahrhaftig tot sind, die kein lautester Ruf des Lebens mehr weckt. Um sie freilich geht der Kampf nicht, und wir könnten die Toten ihrer Toten begraben lassen. Hätten sie nicht gerade das junge Leben so sehr in den Händen. Wer gehört auf die wahrhaftige Seite, wenn nicht die Jugend? Und unsere Studenten haben Kriegsdemonstrationen veranstaltet. Ist es nicht wichtiger als gegen Tote zu kämpfen, dass wir unsere lebendigen Kinder vor ihnen retten? Und jede Schule in „gegnerischer“ Hand ist ein Ansteckungsherd. Statt künftiger Gegner Brüder und Mitkämpfer heranzuziehen für den Tag, der vielleicht bald, vielleicht später, der aber sicherlich kommt: ist das nicht das Wichtigste? ‘Friedrich ‘Mark ‘Ferne ßänder Cooke und Baedeker haben Jahrzehnte lang an unserem Bewußtsein gearbeitet, um daraus das Gefühl der Fremde des fernen Landes auszurotten, die Grenzen zu verwischen. Dann plötzlich wurde die Grenze jedes Landes zu einer ununterbrochenen Kette lebendiger Körper, und alles jenseits davon wurde uns unzugänglicher als das Innere Afrikas. Doppelt zensurierte Depeschen allein bringen uns kärgliche Botschaft von drüben. Aber hundertmal fremder noch als diese feindlichen Territorien ist uns der breite Saum diesseits der tausendkilometerlangen Schützengräben. Kein Livingstone kann uns die dunklen Geheimnisse dieser Himmelsstriche enthüllen. Die Geographie dieser Orte ist in der Zeitung weder unter der Rubrik „Aus nah und fern“, noch unter „Wissenschaftliches“ behandelt; die Tageschronik jener Bewohner heisst „Heeresbericht“ und wird mit Bluttinte jeden Tag weiter geschrieben. Einmal schaut der phantasielahme Leser auf der flimmernden Kinoleinwand die Landschaft: Stein- und Schutthaufen; die Sehenswürdig keiten: eingestürzte Brücken und zerschmetterte Kathedralen; das Leben der Bewohner: gepäckbeladene Haufen auf der Flucht. Die Kanonenmusik dazu gedacht — man ist unterrichtet! Doch was wissen wir von dem Leben der Menschen in den sogenannten okkupierten Gebieten dieser hundertvierzig Wochen? „Die Sterblichkeit beträgt 98 Promille. Die Ernährung der Bevölkerung ist auf 200 Gramm Brot beschränkt, sonst werden keine Nahrungsmittel verteilt“... (Für den deutschen Reichskanzler bestimmtes Telegramm Litauischer Organisationen an den Chef der „Militär verwaltung Litauen“.) Das erfahren wir aus den Zeitungen über das Dasein dieser Menschen, für die Unglück und Verzweiflung nur gesteigert, nie unter brochen wurde, die für ihr Martyrium mit keinem Kreuze gelohnt werden, für die es weder „Erholungsurlaub“ noch „Versetzung“ gibt. In den ersten Kriegsmonaten schrieben auch die Zeitungen, dass die Bevölkerung in Namur kochendes öl auf die Soldaten gegossen, in Lodz dagegen dieselben Soldaten