27 „Es geht ununterbrochen. Ununterbrochen! Jeden Tag werden durch schnittlich acht bis zehn Selbstmörder eingeliefert . . . Vor dem Kriege einer, höchstens zwei im Tage.“ „Jeden Tag acht? Allein in Berlin?“ Dabei werden längst nicht alle Selbstmörder ins Leichenschauhaus gebracht, weiß ich aus Erfahrung, dachte der Anwalt. „Elektrisches Licht ist auch hier?“ , . . . Weshalb frage ich das?* Ein paar Sekunden blieb es still im Schauhause. Die Morgendäm merung lag noch über den Leichen, schmolz sie zusammen zu einer dunklen Masse. „Ja, auch elektrisches Licht . . . Und rollbare Pritschen. Elektrische Weckapparate. Dynamoventilatoren. Überhaupt das Allerneueste auf diesem Gebiete . . . Dieses Luftsaugröhrensystem ist ganz neu.“ Er stand müde auf, drehte am Schalter; drei Bogenlampen zischten, spritzten grell weißes Licht: die zwanzig Leichen schienen lebendig geworden zu sein. Stille und wilde Gesichter. Manche sahen aus, als wollten sie etwas sagen. „Auch ein Sauerstoffapparat für die mit Gas Vergifteten ist da. Und ein kleines Wartezimmer für die Angehörigen. Nebenan wohne ich.“ „Wohnen Sie? . . . Alles tadellos.“ . . . Was geschieht mit diesem Volke? Warum ruiniert man dieses Volk? Dieses geduldige, fleißige, tüchtige, temperamentlose, gründliche Volk, das protestlos alle Qualen des Daseins trägt und protestlos stirbt, an der Front und in der Stadt. Dieses Duldervolk, dem mit Hilfe des denkbar raffiniertesten Systems das Denken und damit schon von vornherein jeder Einzelprotest unmöglich gemacht worden ist . . . Wenn es endlich einmal protestiert, wird sein Protest ge duldig, fleißig, tüchtig, temperamentlos und ungeheuer gründlich, unge heuer blutig sein . . ., falls seine Herren in dem von Gott gesetzten Augen blick nicht freiwillig gehen.* Ohne gefragt worden zu sein, sagte der Wärter: „Ich führe eine Sta tistik der Todesarten Berliner Selbstmörder. Momentan habe ich drei Erhängte, fünf Wasserleichen, zwei Giftleichen, sieben Gasleichen, drei, die sich aus dem Fenster gestürzt haben, und nur einen, der sich er schossen hat; einen Soldaten, der auf Urlaub war. Dort liegt er . . . Die Pritschen reichen nicht mehr aus. Am häufigsten sind die Gasleichen.“ „Weiß man, weshalb sich der Soldat erschossen hat?“ „Wird seine Frau nicht so vorgefunden haben, wie sich das gehört. Oder er wollte nicht mehr hinaus. Viele wollen nicht mehr hinaus . . .