35 Sprung ins blutnasse Volk machen und gleich den vielen dunklen Volks existenzen, die vom Gifte der Organisation verschont geblieben sind und deshalb protestierend auf die Straße steigen konnten, zusammen mit den vor Machtlosigkeit schon irrsinnig gewordenen, wenigen jungen Dichtern, die noch leben, unter beständiger Todesgefahr versuchen, das wegzu reden, was seit Jahrzehnten in das Volk hineingeredet worden ist . . . Der dritte Weg, den der Stellungsbefehl dem Untertanen aufreißt, existiert für mich nicht. Da das tiefste Wort von Jesus Christus: Jede Sünde kann euch vergeben werden, nur die Sünde wider den Geist nicht*, sich mit meiner Weltanschauung scharf deckt, kann ich nicht in den Kasernen hof gehen, oder ins Kriegspresseamt, oder in irgend ein Ernährungsamt. . . Ich bin mit einer Ladnerin und mit meiner Philosophie verheiratet. Und kann zur Not in ein Christushoch, in ein Sokrateshoch, in ein Kanthoch einstimmen. In ein Hindenburghoch oder in ein Kaiserhoch kann ich nicht einstimmen; denn ich bin kein Sozialdemokrat.** Das Sprechen hatte ihn angestrengt und erregt; ein Abglanz geistiger Heiterkeit war nie ganz aus seinem Gesichte verschwunden. Und entstand wieder, als er, heftig atmend im vierten Stocke an gelangt, seine Frau begrüßte. Die scheintot gewesene Ladnerin hatte sich wenig verändert; die Spitzenkrause schmückte noch ihren kindlich-dünnen Hals. Und in ihren Augen stand der innere Blick, den Menschen haben, die halb dem Tode gehören. Behutsam führte er seine schon schwangere Frau in den niederen, schiefdeckigen Raum, der Wohn-, Schlaf-, Arbeitszimmer und Küche in einem war. Und sah plötzlich, daß auf dem weißgescheuerten Küchentisch, den der Philosoph auch als Schreibtisch benützte, wieder ein Stellungs befehl lag. Der ungeheure Schrecken, gepaart mit augenblicklichem Erkennen seiner Situation, riß ihn sofort auf die reine Fläche, wo alle Dinge und Gedanken im schärfsten Lichte stehen, so daß keinerlei Ausflucht, Vor spiegelung, Selbstbelügung mehr möglich ist. Da fühlte er wieder das furchtbare innere Weinen, das nicht bis in sein geistesstarr werdendes Gesicht vordrang. Es glich dem kalten Antlitz Gottes, als er dachte: ,Es gibt zwei Pole: das korrumpierte, krummgenagelte Weltgeschehen und das höchste, herrlichste Ziel für den Menschen: das ,Reine Ich* und eine