46 glühendes Volksgefühl, das alle Teile zu einem Ganzen vereinigen würde. Wer anders als eine Schar erhabenster Dichter kann jene Gefahr in Zukunft abwehren, diesen Mangel ausfüllen?« Nur ein großes Volk, meint er, kann große Dichter haben/ aber vorher muß die Poesie es sein, die das große Volk gestaltet, »künstlerischen Charakter, Geistigkeit und Würde« ihm verleiht. Der Dichter also, der Walt Whitman in seinem Gefühl von sich selbst und seiner Aufgabe sein will, ist Priester, Prophet, Schöpfer, Daß er außerordentliche Gewalt auf sein Volk und die geistige Macht seines Volkes — und derer, die in fremden Völkern als einzelne zu seinem Volk gehören —- ausgeübt hat und weiter übt, ist sicher. Wie die Geschichte weiter geht, ob sein kühnstes Verkünden so Wirklich^ keit wird, wie Phantasie und Wollen sich irgend erfüllen können, indem sie eine Wirklichkeit, die nicht genau gerade so aussieht, nämlich schaffen helfen, das kann keiner heute sagen. Aber das ist gewiß, daß er Amerikas größter Dichter und ein innig starker Lyriker für uns alle ist/ und daß er der Lyrik eine neue Form und ein ungeheures neues Stoffgebiet — alle Tatsächlichkeiten der körperlichen und geistigen Welt — gegeben hat. Icf)glau Be, ein Gras Bahn istnicBts Geringres, afs das Tag wer6 derSterne. In diesem Sinne hat er sein erstes Gedichtbuch <1855) »Grashalme« genannt und hat dann im Lauf von mehr als dreißig Jahren sein ganzes dichterisches Werk in immer neuen Ausgaben in dieses Buch, sein Buch, das er selbst ist, eingefügt. Whitman, geboren am 31. Mai 1819 als Sohn eines Zimmermanns und Hausbauers im Staate New York, hat einen typisch ameri kanischen Lebenslauf gehabt, bis recht spät der Dichter aus ihm heraus^ brach: er besuchte die Volksschule, war eine Art Laufbursche erst bei einem Rechtsanwalt, dann einem Arzt, wurde Setzerlehrling und, im Alter von neunzehn Jahren, Dorfschullehrer. Dann gründet er ein Wochenblatt, reist als Setzer und Journalist vielfach im Lande hin und her und wird schließlich Zimmermann wie sein Vater in